Bauwelt

Jugendzentrum


Spielplatz für die arbeitslose Jugend


Text: Gadanho, Pedro, Lissabon


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    Roland Halbe

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Am Rand der spanischen Stadt Mérida haben SelgasCano einen anspruchsvollen Themenpark gebaut: ein Jugendzentrum, aufgelöst in eine überdachte Landschaft aus Beton und Grün mit wie beiläufig platzierten Beschäftigungsangeboten. All das, womit Jugendliche normalerweise den öffentlichen Raum unsicher machen, sollen sie hier kontrolliert ausleben.
In dem viel diskutierten Essay Des Espaces Autres von 1967 beschreibt Michel Foucault „Heterotopien“ als Orte, an denen sich die Gesellschaft und ihre Werte auf komplexe und irritierende Weise spiegeln – im Gegensatz zu den irrealen, vollkommenen Räumen der Utopie. An diesen „anderen Orten“  können, vor allem in Krisenzeiten, die Sphären des Öffent­lichen und des Institutionellen verwischt werden. Als Beispiele führt Foucault Psychiatrien und Gefängnisse an: isolierte und zugleich zugängliche Räume, in die von der Normalität abweichendes Verhalten weggesperrt wird. Darüber hinaus zählt er Orte dazu, „die mehrere, an sich inkom­patible Räume nebeneinander stellen können“: das Theater, das Museum, die Bibliothek, der Park. Heute sind es Themenparks und Shoppingmalls, die das Bild weiter verkompli­zieren. Die kürzlich eröffnete Factoria Jóven von SelgasCano in der spanischen Stadt Mérida könnte man auch dazu zählen. Die Neuinterpretation eines Jugendzentrums als „Spielplatz“ verwandelt dieses in eine trickreiche Heterotopie. Vor dem Hintergrund der Jugendunruhen überall in Europa, die die normativen Grenzen von Straßenraum und Privatbesitz gewaltsam erschüttern, stellt eine solch unerwartete architektonische Aussage das Wesen des öffentlichen Raumes im zeitgenössischen Europa vielleicht sogar grundsätzlich in Frage.

Freundlicher Anstrich für eine Top-down-Planung

Abseits der Touristenmassen, die nach Mérida kommen, in jenen ehemaligen Vorposten des Römischen Reiches, der heute als Weltkulturerbe gelistet ist, befindet sich die Factoria Jóven in der Peripherie, gleich am Rand der Altstadt: ein maßgeschneidertes architektonisches Programm, das auf die gegenwärtigen strukturellen Veränderungen unserer Gesellschaft reagiert. In einer Situation, in der europäische Länder trotz eines hohen Bildungsstands eine fürchterlich hohe Jugendarbeitslosigkeit zu beklagen haben – sie ist in Spanien laut Angabe von Eurostat von durchschnittlich 21 Prozent im Jahr 2010 auf erschreckende 41,6 Prozent angestiegen –, entscheiden sich Gemeinden wie Mérida nun, in Gebäude zu investieren, die auf die Bedürfnisse der beschäftigungslosen Jugend zugeschnitten sind, statt sich auf Einrichtungen für Kinder und Senioren zu beschränken. Wenn das System den jungen Leuten keine produktive Rolle mehr geben kann, ist es immer noch besser, ihnen einen Ort für ihre kreativen Energien zu geben: Das ist die politische Botschaft der Factoria Jóven. Denn, um bei Foucault zu bleiben: Selbst in einer Gesellschaft, „in der Freizeit die Regel ist, stellt der Müßiggang eine Abweichung dar“. Wie man seit dem Aufkommen der Jugendkultur und ihren „Rebels Without a Cause“ weiß, bestünde die Alternative darin, dass diese unbeschäftigten, unbequemen Jugendlichen den öffentlichen Raum unsicher machen, auf der Suche nach Dingen, mit denen man spielen oder die man zerstören kann; oder einfach nur nach Räumen, in denen sie ihren Gefühlen, ihrer Wut oder auch ihrer Langeweile Ausdruck geben können.
In dem Entwurf von SelgasCano hat ein derart positivistisches Programm eine erfindungsreiche Umsetzung erfahren. Zum einen ist der Pop-Charakter der Anlage klug darauf ausgerichtet, die jugendliche Zielgruppe anzusprechen:  Die Metapher des „chinesischen Drachen“ macht die Großform verständlich, die Farben sorgen für eine gewisse Lebendigkeit, die Baumarktmaterialien verleihen dem Gebäude jene vulgaridad (Gewöhnlichkeit), die von den Madrider Architekten angestrebt wird. Und nicht zuletzt gibt es eine Reihe von Funktionen, die dem typischen urbanen Freizeitverhalten der Nutzer nachempfunden sind. All dies haben SelgasCano zu einem Ensemble kombiniert, das kultiviert und  populär zugleich ist. Durch die Organisation der vielen kleinen Programme bilden die Architekten quasi einen öffentlichen Raum nach: Es gibt Computer- und Medienräume, Räume für Workshops, für Tanz und Musik, für Versammlungen oder einfach nur zum Abhängen. All diese Funktionen sind als Inseln in einem kleinen, bewegten Archipel aus landschaftsgärtnerisch gestalteten Flächen und Betonebenen verteilt, auf denen die Teenager Fahrrad oder Skateboard fahren können. Innerhalb dieses spielerischen, aber dennoch von einem Zaun umschlossenen Geländes gibt es auch eine Graffiti- und eine Kletterwand. Als ich das Areal an einem glühend heißen Nachmittag besuchte, erklärte mir ein Mitarbeiter voller Stolz, dass nur der Medienraum, aus naheliegenden Gründen, videoüberwacht sei. Letztendlich ist in Mérida ein neuer, anspruchsvoller Typus des Themenparks entstanden, der als Einheit stiftendes Motto auf die alltägliche Stadterfahrung zurückgreift und genau jene urbanen Situationen nachbaut, die man landläufig mit herumhängenden Jugendlichen verbindet.

Magdeburger Freiluftbibliothek versus Factoria Jóven

Um den öffentlichen Raum zu verstehen, der in Mérida geschaffen wurde, hilft ein Vergleich mit der Freiluftbibliothek von Karo Architekten: Das Magdeburger Projekt verwandelt einen klassischen institutionellen Innenraum in einen wirklich zugänglich öffentlichen Raum (Anm. d. Red.: mit all seinen Konsequenzen, auch dem Vandalismus – Bauwelt 30.2011), die Factoria Jóven dagegen verkehrt einen alternativen städtischen Raum in eine sichere, umschlossene Zone. Das Projekt interiorisiert einen Raum, der normalerweise außerhalb der institutionellen Kontrolle liegt und gibt dieser Top-down-Planung einen freundlichen Anstrich – ein Ansatz, der letztendlich ziemlich paternalistisch ist. Durch die akribische und „frische“ Nachahmung eines öffentlichen Raumes und die coole Pop-Attitude gelingt es, die Zielgruppe geschickt anzusprechen. Andererseits weist sie auf die düstere Seite von Foucaults heterotopen Orten hin: „Wir glauben, wir betreten [sie] dort, wo wir, genau durch die Tatsache unseres Eintretens, ausgeschlossen sind.“ Aus marxistischer Sicht ist dieser „Spielplatz“ nicht ein Beitrag zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems, sondern lediglich zu seiner Aufschiebung. Doch zweifellos brauchen drängende Probleme auch vorläufige Antworten, solange die Bedingungen für einen gesellschaftlichen Wandel nicht gegeben sind.
In diesem Zusammenhang bekommt der temporäre Charakter der Architektur eine politische Bedeutung. Anfangs wurden viele Stimmen laut gegen die Investition von 1,2 Millionen Euro in eine Architektur, die an eine provisorische Behelfskonstruktion erinnert. Das ist aber zu kurz gedacht. Der gegenwärtige bauliche Diskurs in Europa, eifrig unterstützt von einem Architektur-Establishment, das Status und Besitzstand zu wahren versucht, fordert nach wie vor eine wirtschaftliche Nachhaltigkeit, die sich an energieeffizienten und langlebigen Gebäuden ausrichtet. Diese Position wird von zunehmend rigideren Baurichtlinien untermauert. Das scheint vernünftig – wenn es angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise in Europa nur nicht so unhaltbar wäre. Wäre es aber nicht viel vernünftiger, den ökonomischen Einsatz gering zu halten und temporär zu bauen, zumindest solange die „Wohlstandsgesellschaft“ zeitweilig aufgeschoben bleibt? In einer Zeit, in der Architekten selber zu einem Baustopp für neue Gebäude aufrufen sollten, erweist sich das Ephemere als eine mögliche Antwort – jedenfalls als eine adäquate für eine Konsumgesellschaft, in der die Umsatzzyklen immer kurzlebiger werden, um die Wirtschaftstätigkeit anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen und die Produktivität zu erhöhen. In Spanien, Italien oder Portugal ist der Baubestand für die vorhandenen Bedürfnisse bereits jetzt viel zu hoch. Jeder Neubau auf neu erschlossenem Gelände bedeutet eine Belastung. Eine Wiederverwertung – wie bei der Möblierung der Factoria Jóven oder bei der Fassade der Freiluftbibliothek – ist zu begrüßen. Es scheint, als sei das Temporäre die letzte akzeptable Möglichkeit der Architektur, unserer Gesellschaft angemessene  öffentliche Räume zu gestalten.



Fakten
Architekten SelgasCano, Madrid
Adresse Mérida, Spain


aus Bauwelt 39-40.2011
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