Kapitel 15: Das 24-Stunden Büro
Alltag, Hierarchie und Harmonie in japanischen Architekturbüros
Text: Geipel, Jan, Kopenhagen
Kurz vor 9 Uhr morgens, die Eingangstür gleitet zur Seite, junge Mitarbeiter liegen, aufgereiht und angezogen, auf blankem Teppich oder dünnen Futons. Die Schuhe – wie in der Wohnung auch im Büro oft am Eingang ausgezogen – stehen akkurat gereiht, Paar an Paar. In derfolgenden Viertelstunde vollzieht sich, täglich aufs Neue und wie von unsichtbaren Fäden gelenkt, die Verwandlung eines eingespielten Teams. Die jüngsten Mitarbeiter beseitigen, in kontemplativer Schweigsamkeit und vom Kater der kurzen und wenig komfortabel verbrachten Nachtstunden gezeichnet, die einfachen Schlafutensilien. Die Arbeitsplätze – Tischreihen wie bei uns, allerdings bei vergleichsweise halber Tischfläche pro Mitarbeiter – werden aufgeräumt, Materialreste des nächtlichen Modellbaus entsorgt, frischer Tee zubereitet. Japaner empfinden und denken holistisch und gruppenbezogen, jeder sieht und versteht sich als Teil des Ganzen, als Teil einer „Familie“. Jedes „Mitglied“ kennt seine Pflichten. Die älteren Mitarbeiter, bereits mit bestimmten Privilegien bedacht und vom morgendlichen Aufräumritual entbunden, erscheinen nach und nach. Zuletzt, und wie alles in diesem Ablauf zeitlich perfekt choreografiert, Keieisha, der Chef des Büros. Ein Arbeitstag – davon hat die Woche mindestens sechs – nimmt seinen Anfang. Es gibt namhafte japanische Architekten, deren biologische Uhr asynchron zu funktionieren scheint. Hier wird die Nacht zum Tag, man arbeitet gewöhnlich bis neun Uhr morgens, erst dann wird das Büro bis zum frühen Nachmittag in eine Art Ruhezustand versetzt. Beste Voraussetzung jedenfalls, für Bauherren und Klienten in Europa trotz Zeitverschiebung erreichbar zu sein. Japaner scheinen mit der schönen Gabe versehen, jederzeit und überall für ein paar Atemzüge, ein paar Minuten oder Stunden schlummern zu können, um über den Tag verteilt das notwendige Maß an Schlaf zu sichern. Der Autor dieser Zeilen, selbst mehrjährig in Japan tätig, kennt nicht wenige ausländische Architekten, die selbst nach drei, vier Jahren Arbeit in Tokyo kaum mehr gesehen haben als die Strecke zwischen Büro, Schlafstätte und nächstgelegenem Konbini.
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