Kapitel 3: Kreis und Diagramm
Das Missverständnis mit dem Konzept der Öffentlichkeit im Kanazawa Museum
Text: Klauser, Wilhelm, Berlin
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Sebastian Spix, Kaye Geipel
Sebastian Spix, Kaye Geipel
Bei einem Besuch im Museumsshop in Kanazawa im März 2010 habe ich mir ein dünnes Buch gekauft. Der Titel tut nichts zur Sache. Erst später, auf der Rückfahrt, habe ich mir die Tüte betrachtet, in die die Verkäuferin das Buch gepackt hat: ein robustes Stück Plastik, auf das der stilisierte Grundriss des Museums aufgedruckt war. Auf der einen Seite war es ein orangefarbener Untergrund und weiße Striche, auf der Rückseite war’s genau umgekehrt. Da war sonst nichts.
Der Grundriss ist auf der Tüte zum Icon geworden. Und irgendwie scheint das runde Diagramm ja auch zu genügen: Die Stadt Kanazawa hat sich mit diesem Museum schlagartig auf die Landkarte aller japanischen Architekturtouristen gesetzt. Bislang kam man in die Stadt, um Sushi zu essen oder um alte Gärten zu besuchen. Plötzlich kommen junge Menschen her, um sich mit moderner Kunst und Architektur zu beschäftigen, bevor sie sich wieder in den Zug setzen und – knapp drei Stunden lang – zurück nach Tokyo oder Osaka fahren. Der Museumsgrundriss ist unterwegs.
Wenn man die Tüte gegen das Licht hält, dann überlagern sich die Striche der Wände. Es entstehen interessante Verschiebungen und neue Räume. Ich fragte mich, welche anderen Bauten mir einfielen, deren Grundrisse sich dergestalt abstrahieren ließen. Mir ist das Pentagon in den Sinn gekommen. Es ist bemerkenswert, dass es dieses Haus nicht als Bild oder Schriftzug, sondern als Plan auf die Tüte geschafft hat. Heißt das, die eigentliche Qualiät dieser Architektur liege ganz im Grundriss? Ich selbst hatte die Grundrissdisposition nicht in allzu guter Erinnerung. Es war unübersichtlich im Museum. Ich habe mich sogar etwas unwohl gefühlt. Vielleicht lag es daran, dass mir durch die großen Fenster andauernd die Umgebung gezeigt wurde, diese Fenster aber allesamt geschlossen waren. Ich fühlte mich wie in einem Aquarium, ich fühlte mich ausgestellt.
Vielleicht war ich aber selbst einem Missverständnis aufgesessen, als ich das Museum besuchte: Kazuyo Sejima definierte das Museum als einen öffentlichen Ort – und mit der entsprechenden Erwartung hatte ich es betreten. Das aber erwies sich als falsch. Ich hätte wissen müssen, dass die Vorstellung von Öffentlichkeit in Japan anders ist als in Europa. Für die japanische Form von Öffentlichkeit genügt es, gesehen zu werden. Es bedeutet ein Vergnügen, gesehen zu werden. Man bewegt sich in den Zwischenräumen, der Blick nach außen genügt, ein Verlassen nicht nötig. Durchaus möglich also, dachte ich, dass einfache Diagramme und Formen unterschiedlich gelesen werden, weil Verrückungen in der Wahrnehmung stattgefunden haben. Auch wenn eine Zeichnung so einfach scheint wie auf der Tüte von Kanazawa, es gibt doch immer die Möglichkeit, dass sich für den Einzelnen die Nuancen verschieben.
Ich zum Beispiel erwarte einen öffentlichen Raum, der variabel genutzt werden kann. Ich stelle mir einen Raum vor, der so robust ist, dass er unterschiedliche Formen der Aneignung zulässt. Ich fühle mich wohl in einem Raum, der eine wie auch immer geartete Beteiligung zulässt. Es ist ein aktiver Raum, aus dem heraus das Ich – großgeschrieben – die Umgebung wahrnimmt. Sejima präsentiert mir einen Raum, den ich nicht beherrschen kann. Sie präsentiert mir einen Raum, der empfindlich ist und anfällig. Ich fühle mich unsicher. Ich bewege mich in einer Architektur, die instabil und doch weitgehend determiniert ist. Ein Kreis lässt keinen Ausbruchsversuch zu. Für mich schließt sich der öffentliche Raum des Museums von Kanazawa zu einer Form, in der ich selbst ein Exponat bin. Die anderen können mich betrachten. Ich bin Teil einer Versuchsanordnung. Es ist für mich nicht einfach, mit solch einer anderen Idee von Öffentlichkeit klarzukommen. Aber ich arbeite daran. Die Plastiktüte habe ich aufgehoben. Sie hat mir gefallen.
Fakten
Architekten
Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa, SANAA, Tokyo
aus
Bauwelt 33.2010
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