Klassizistische Stadtvilla
Fehlstellen gestalten
Text: Höhns, Ulrich, Oldenbüttel
Eine klassizistische Stadtvilla in Hamburg war in den zwanziger Jahren expressionistisch umgestaltet worden. Bei der jüngsten Sanierung haben Holger Schmidt Architekten die zwischenzeitlich verloren gegangenen Eigenarten dieses Umbaus wieder kenntlich gemacht und die neuen Anforderungen unaufdringlich untergemischt.
Die „Gegend vor dem Dammtor“ ist in Hamburg eine geläufige Ortsbezeichnung für ein größeres Gebiet westlich der Außenalster. In seiner Ausdehnung entspricht es ungefähr dem heutigen Stadtteil Harvestehude-Rotherbaum. Noch vor gut zweihundert Jahren war die Gegend ländlich, landschaftlich reizvoll und wenig bebaut. Das Wenige wurde um 1800, in der „Franzosenzeit“, abgerissen, um ein freies Schussfeld zu bekommen. Zwischen 1842, also mit dem Beginn des Wiederaufbaus der abgebrannten Innenstadt, und 1892, als sich erstmals eine Bebauungsplankommission bildete, zeichnete sich hier eines der interessantesten Erweiterungsprojekte der Hansestadt ab. Zwar spekulativ von Investoren betrieben, aber doch auch bereits in den Rahmenbedingungen einigermaßen staatlich geregelt, wurde nun Straße um Straße relativ breit angelegt, mit Bäumen bepflanzt und mit zwei- bis dreigeschossigen, zu Reihen zusammengefassten Stadtvillen bebaut. Anfangs noch von nüchternem Klassizismus geprägt, wuchs bald eine historistische Formenvielfalt der meist von Bauunternehmern und Handwerksmeistern errichteten Häuser heran. Sie führte jedoch nicht zu Unübersichtlichkeit, vielmehr entstand eine Einheit in der Vielfalt. Denn jeder schöpfte aus einem verbindlichen Kanon, spielte mit denselben Elementen: Vorgärten, Veranden, Zu- und Aufgänge, Dachüberstände, Spiegelungen und Symmetriebrüche in den Ansichten. Die hamburgische Variante bürgerlicher Wohnopulenz unterhalb des freistehenden Landhauses war erfunden und wurde zur städtebaulichen Matrix für die weitere Erschließung des Geländes, räumlich ausgedehnt bis hinein in das säkularisierte „Klostergelände“ im Norden, zeitlich bis ins beginnende 20. Jahrhundert.
Das Haus an der Ecke Heimhuder Straße/Johnsallee wurde 1871 zusammen mit zwei ähnlichen von einem Baumeister namens Greve im Auftrag des Unternehmers Johann Heinemeier errichtet: ein schlichter Putzbau mit einem formal und funktional etwas unglücklich ausgebildeten Eingang, kräftig profilierten Fenstergewänden und mächtigem Dachgesims, hinter dem ein nicht besonders hohes Dach fast verschwand. Eine Vermessungskarte von 1874 zeigt, dass die zwischen den beiden alten, in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Landstraßen Rothenbaumchaussee und Mittelweg von West nach Ost angelegte Johnsallee zu den ersten fast komplett bebauten Straßen der Gegend gehörte. Die spätere Blockstruktur ist bereits angelegt, aber noch sind es erst „Zeilen“, die entlang der Johnsallee entstehen. Der Mangel an städtebaulichem Feingefühl führte in der Folgezeit zu einer Art Eckkonflikt. Als auch die Bebauung der Querstraßen an die dreiseitig freistehenden „Kopfbauten“ heranwuchs, konnten keine echten Raumkanten entstehen. Diese bis heute deutliche Perforation des „Blocks“ aber macht den Reiz der Lösung aus.
Drei Jahre nach der Fertigstellung erwarb ein anderer Unternehmer das Haus und ließ, wegen dessen Kopflage räumlich von ihm getrennt, von Johannes Grotjan eine Remise mit Kutscherwohnung bauen. Die Villa wechselt noch weitere Male ihren Besitzer, bis sie 1923 von Martin Rothschild erworben wird. Er beauftragt den Architekten Kurt Felix Schmidt (1886–1951) mit einem äußerlich radikalen Umbau, der bis heute erhalten geblieben ist. Was innen geschah, ist nicht übermittelt, es fehlen die Pläne des Urbaus. Zum Außenraum hin aber entstand ein Manifest des Expressionismus, das ungeachtet seiner realen Einbindung in die Umgebung wie freigestellt erscheint. Dieses Haus muss wie ein Blitz in die Bürgerruhe seiner Nachbarschaft hineingefahren sein: mit seiner wehrhaften, geschlossenen, die Vertikale betonenden Formgebung, mit den sakral anmutenden, überhohen und spitz ausgezogenen Lanzettfenstern und nicht zuletzt wegen der mit der Fassade verbundenen, teils abstrakten, teils figürlichen Sandsteinplastiken mit grotesken Gesichtern. Sie stammen vermutlich vom Bildhauer Ludwig Kunstmann, der auch die ursprünglichen Skulpturen für das Hamburger Ballin-Haus der Architekten Gebrüder Gerson schuf.
In Lageplan und Grundriss fällt der Knick in der Hauptfassade auf. Das Haus dreht sich in die Fluchtlinie der Nachbarstraße hinein, die nicht ganz im rechten Winkel zur Eingangsseite verläuft. Das hochgelegene Entree ist noch immer nicht optimal gelöst und zu klein. Es fordert den eintretenden Besuchern auf engstem Raum eine sofortige Drehung nach rechts ab, bevor sie eine fast noch wie im Jugendstil geschwungene, nun allerdings ausreichend groß dimensionierte Treppenhalle erreichen.
Die Nachlässigkeit der Bilderstürmer
Warum dies alles aber so wurde, wer Martin Rothschild war, warum er das alte Dekor abschlagen ließ und sich so radikal von den Nachbarn abgrenzen wollte, ob er, wie vermutet, der damals großen jüdischen Gemeinde Hamburgs angehörte, ist auf Anhieb nicht zu klären. Die Adressbücher geben keine Auskunft, sondern lassen nur mit Betroffenheit erkennen, wie der einst vielfach vertretene Name Rothschild ab 1933 aus den Büchern und der Stadt verschwindet. 1941 kam es zu einem neuerlichen Besitzerwechsel des Hauses, wobei es sich wohl um eine „Arisierung“ gehandelt haben muss. Diese Vermutung liegt nahe, weil Teile des ursprünglichen figürlichen Schmucks des Hauses dem Ikonoklasmus des Nationalsozialismus zum Opfer fielen. Ob der Grund für die Zerstörung die künstlerische Form der Darstellungen war, ob darin Symbole des jüdischen Glaubens oder – wie auch vermutet wird – der Freimaurerei gesehen wurden, ist nicht bekannt. Doch zum Glück waren die Bilderstürmer nachlässig: Einige der aus dem Dachgesims herausgebrochenen kleinen Figurenköpfe und eine größere, ätherische Frauengestalt mit ernstem Gesicht – sie stand an der Nordfassade im zweiten Obergeschoss in einer eigens im Rhythmus der Fensterreihe geschaffen Nische –, fand man während der jüngsten Sanierung im Schutt unter dem Rasen nach gezielter Suche wieder. Die Stücke wurden rekonstruiert und sind jetzt wieder an ihrem alten Platz zu sehen.
Kurt F. Schmidt, der sich in den antibürgerlichen Hamburger Künstlerkreisen der 1920er Jahre bewegte und manchmal auch halbseidene Etablissements entwarf, hatte dem Haus seine jetzige Gestalt gegeben. Die Pläne von 1923 tragen seine Unterschrift, auch zeigen andere seiner Bauten eine verwandte, zuweilen ebenfalls übersteigerte expressive Neugotik von hohem Unikatswert. Unklar ist, warum der Umbau kurz nach Beginn wieder zum Erliegen kam. Erst 1927 wurde er von Hermann Höger (1882–1950), einem jüngeren Bruder Fritz Högers, zum Abschluss gebracht. Hermann Högers künstlerische Handschrift jener Jahre weist zwar Ähnlichkeiten mit der von Kurt F. Schmidt auf, aber er bleibt doch insgesamt stärker dem tektonischen, funktionalen Prinzip verpflichtet als sein Kollege, der weit stärker auf die Bildkraft seiner Architektur setzte. Das Haus wechselte nach 1941 noch mehrere Male den Besitzer. Es wurde gewerblich genutzt, war Niederlassung eines großen Fotogeschäfts, wurde eine Zeit lang von der „Gesellschaft für regenerative Überdruck-Therapie“ genutzt und war bis 2008 ein Sitz des Goethe-Instituts, in dem Ausländer Deutsch lernen konnten.
Architekt Holger Schmidt begann 2009 mit der grundlegenden Sanierung des Hauses. Im selben Jahr war es unter Denkmalschutz gestellten worden; es hatte seinen wechselvolle Geschichte zwar mit Blessuren, aber ohne tiefgreifend beschädigt zu sein, überstanden. Sogar der größte Teil der einzigartigen, durchweg als Kastenfenster ausgeführten Befensterung, die sich streckenweise unmittelbar mit der Ornamentik der anspruchsvollen Bildhauerarbeiten verzahnt, sowie zahlreiche Ausbaudetails, von der Fensterolive bis zum Treppenhaus, waren noch so gut erhalten, dass sie aufgearbeitet und weiter verwendet werden konnten. Und es war keine Frage, dies sorgsam und unter Rückstellung eigener Gestaltungswünsche auch zu tun. Fehlstellen im vertikal scharrierten, unter vielen Farbschichten in seiner dunkelrosa-bräunlichen Originalfarbe hervorgeholten Putz wurden mit derselben Technik wieder hergestellt. So kam es dazu, dass sich die schöpferische Leistung der heutigen Architekten auf die angemessene Gestaltung von Fehlstellen beschränkt. Hier sind es vor allem die breiten Türen von den Treppenhauspodesten zu den Wohnungen und Büros, die zu modernen Einheiten zusammengefasst und mit den schmalen Flanken einer Stahlzarge fast beiläufig, aber wirksam von der Wand getrennt wurden, und die eingestellten Stahl-Holz-Treppen, um für die abwechselnd gemischte Büro- und Wohnnutzung der Geschosse eine interne Erschließung über jeweils zwei Ebenen zu erreichen. Andere Zugänge wiederum wurden zwar geschlossen, durch entsprechende Nischen aber sichtbar nachgezeichnet. Das Dach hingegen ist neu. Seine Form, Proportion, Befensterung und schließlich die Nutzung wurden gegenüber dem Bestand verändert. Es ist nachvollziehbar, dass das niedrige Ursprungsdach als zu unbedeutend erschien, um dem hohen Baukörper einen angemessenen Abschluss zu geben. Deshalb wurde es um 80 Zentimeter angehoben. So konnte auch Geschossfläche hinzu gewonnen werden. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Atelierfenster nach Norden und Osten nicht insgesamt schmaler hätten ausfallen oder in schmalere Abschnitte hätten geteilt werden sollen und ob die nach Süden, mit Blickkontakt zum Hamburger Rathausturm, eingeschnittene Loggia nicht zugunsten eines weiteren Dachflächenfensters hätte entfallen können. Diese Elemente erfüllen zwar die Wünsche der Gegenwart, sie führen aber keine dem Original adäquate neue Zeitschicht ein. Die damit getroffene formale Aussage kann neben der sonst so erfolgreich zurückgewonnenen Authentizität des Hauses nicht bestehen.
Fakten
Architekten
HS Architekten, Hamburg; Schmidt, Kurt Felix (1886-1951); Höger, Hermann (1882-1950)
Adresse
Heimhuder Straße 20148 Hamburg
aus
Bauwelt 5.2012
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