Bauwelt

L’Aquila, drei Jahre danach



Text: Ciano, Angela, Rom


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    Ulrich Brinkmann

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    Ulrich Brinkmann

Die Stadt steht still, seitdem die Arbeiter abgezogen sind, um die vom Einsturz bedrohten Häuser im historischen Zentrum zu sichern. Nur an wenigen städtischen Baudenkmälern ist der Wiederaufbau in Gang gekommen. Wie lange werden die Aquilaner noch von ihren Erinnerungen zehren können?
6. April 2009 – 6. April 2012. Drei Jahre sind seit dem Erdbeben vergangen, und in L’Aquila ist nichts, wie es war. Zum dritten Mal hat meine Stadt ihr Gesicht verändert. Hinter den Balken und Gerüsten, die stützen, was nach 27 Sekunden verheerenden Wütens geblieben ist, erkenne ich noch immer ihre schöne Gestalt: die Linien der Gebäude, die Flechtwerke der Rosetten an den Kirchen, die Silhouetten der Dächer und Türme. Aber die Orte sind nicht mehr die meinen, plötzlich so weit und ausgedehnt. Der Schutt ist inzwischen weggeräumt,  und noch davor verschwanden die Autos aus dem Stadtzentrum, die Menschen, das Leben. Ich trete auf Pflastersteine und Asphalt, meine Schritte haben einen anderen Klang, fast wie erstorben. Selbst die Stille, die die Welt der Aquilaner so sehr hat erschauern lassen und die sie so sehr verändert hat, ist jetzt noch stiller.
Bis vor einigen Monaten waren Arbeiter damit beschäftigt, die Fassaden der Palazzi und Kirchen abzustützen. Obwohl übel zugerichtet, erweckte L’Aquila einen Anschein von Leben. Nun, da jene Arbeiten abgeschlossen sind, ist es still, zu jeder Stunde des Tages. Nun erst versteht man wirklich, was das Wort Leere bedeuten kann: ein Gleichnis für den Tod. Eindringlich ist das Gefühl der Leere, das dich anfällt, wenn du bei Tag durch L’Aquila gehst, „es ist reiner Schrecken, das, was dich ergreift, wenn du nachts Wache hältst über eine Geisterstadt“, in der „das Knirschen, die dumpfen Schläge, die diffusen Geräusche allgegenwärtig sind und dich aus jeder Ecke eines Ortes erreichen, in dem kein Leben mehr ist“.
Ich denke an diese Worte eines Soldaten, der Patrouillendienst am Anfang der Via Roma zu verrichten hatte, als diese, eine der am stärksten zerstörten Gegenden der Stadt, noch „zona rossa“ war, Sperrgebiet. Zu meiner großen Verwunderung spüre ich eine neue Empfindung, Furcht, die für mich nicht nur in etwas Unbekanntem liegt wie bei dem jungen Soldaten, der wer weiß woher aus diesem Land hierher gekommen war. Für mich ist es das Schauen mit den Augen und dem Herzen voller Trauer auf jene Orte, die ich geliebt habe und die ich nicht aufhöre zu lieben. Orte, die mir zum dritten Male in drei Jahren anders erscheinen, und von denen ich nicht weiß, wann ich zurückkehren und sie wieder so betrachten kann, wie ich sie immer noch im Gedächtnis habe.
Wenn ich an meine Stadt zurückdenke, wie sie vor dem 6. April war, muss ich mich anstrengen, sie wieder so zu sehen wie sie war. Die Erinnerung beginnt zu schwinden, oft fällt es mir schwer, mich an den Namen dieser einen engen und langen Straße zu erinnern oder wie jene hieß, wo es den Bäcker gab, der so wunderbare Pizza backte. Lebhafter und stärker sind die Bilder direkt nach dem Erdbeben: der Staub, die Trümmer, die Bruchstücke von Gesimsen, Statuen, Verzierungen, Architraven, überall verstreut; sie werden für immer in meine Erinnerung eingebrannt sein, um mir zu sagen, dass in Sekunden etwas für immer zerbrochen ist und nichts mehr so sein wird wie vorher. Ich durchlebe diese Momente in meiner Erinnerung und die ersten Tage und Wochen danach, in denen wir die Ärmel hochgekrempelt haben; man hat angefangen zu arbeiten, um zu retten, was geblieben war, und für einige Monate war in diesen Straßen, auf diesen Plätzen, an diesen Kreuzungen ein Kommen und Gehen von Feuerwehrleuten, von Arbeitern, Ingenieuren, Technikern und Studenten, von Journalisten und Besuchern auf der Suche nach starken Emotionen. Wenigstens tagsüber vermittelten in jenen Monaten die Geräusche der Baustellen einen beeindruckenden Anschein von Leben, ja mehr noch, von Tatkraft, um das Leben zurückkehren zu lassen. Es war ein anderes Gesicht meiner Stadt, aber eines, das ich kannte.
Damals erprobte man neuartige Sicherungsverfahren, die eigens für die Baudenkmäler von L’Aquila entwickelt worden waren, zum Beispiel vom Büro des Vizekommissars für den Schutz der durch das Erdbeben beschädigten Kulturgüter. Die Kirche Santa Maria del Suffragio an der Piazza del Duomo, im Volksmund Anime Sante genannt, ist zu einem der vielen Symbole dieser Tragödie geworden. Ihre Kuppel, nach einem Entwurf von Giuseppe Valadier 1805 fertiggestellt, war stark eingerissen. Bereits am 31. Juli 2009 wurde ihre Sicherung vollendet. Heute lagert auf ihrem Scheitelpunkt immer noch die provisorische ultraleichte Deckung, die die stark beschädigte Konstruktion darunter schützt. Dabei ist diese Kirche eines der ersten Baudenkmäler auf der Liste der Patenschaften, die der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi unter den Teilnehmern des G8-Gipfels angeregt hatte. Dank der Solidarität der französischen Regierung wurden 3,25 Millionen Euro bereitgestellt, die Hälfte des notwendigen Betrags für die Restaurierung der Anime Sante.
Dann wandern meine Gedanken zu Santa Maria Paganica, eine der vier Hauptkirchen des Stadtzentrums und Zeugin der Gründung L’Aquilas Mitte des 13.Jahrhunderts. Sie blieb vom Erdbeben weniger verschont, meterhoch war das Kirchenschiff mit Schutt gefüllt. Heute steht an dieser Stelle immer noch ein Fachwerk aus extrem leichten Glasfiberbalken, das die provisorische Dachhaut stützt. Ich erinnere mich genau an die Männer des Technischen Hilfsdienstes SAF (Speleo alpine fluviali), die zum größten Teil aus dem Veneto kamen; sie schwebten hoch über der Kirchenruine und montierten die Stahlgestänge, die verhindern sollen, dass der Apsisbogen weiter einstürzt.
Und dann geht die Erinnerung zu den Mühen der Rettung von Kunstwerken aus den Museen, den Kirchen, den Privathäusern, von Büchern aus den Bibliotheken, von Manuskripten und anderen seltenen Dokumenten aus den Archiven und Klöstern. Lebhaft entsinne ich mich an die Abstützung eines der Symbole unserer Tragödie: den Palazzo del Governo. Ich sehe mich die Via dell’Arcivescovado entlangkommen, und als ich den Platz vor dem Palazzo betrete, ist die Inschrift, die seit Monaten in Schieflage war (damals das erste und meistverbreitete Bild von L’Aquila), an ihren Platz zurückgekehrt, sicher gehalten von Gerüstrohren, die mir damals und auch heute noch wie Krücken erscheinen, aber, Donnerwetter, sie ist gerade! Ich glaubte nicht alles verloren und L’Aquila mit seinen Einwohnern auf dem richtigen Weg zu einer Wiedergeburt. Heute, nach drei Jahren, ist diese Überzeugung immer noch da – aber sie beginnt zu wanken.

„Mama, was ist eine Piazza?“
Die wirkliche Wiedergeburt, diejenige, die dich einen Seufzer der Erleichterung tun lässt, die dich eine Zukunft für dich und deine Gemeinschaft ahnen lässt, steht noch aus. Selbst der Wiederaufbau der sogenannten E-Gebäude, die zwar nicht betretbar sind, aber außerhalb des historischen Stadtzentrums liegen, in dem zahlreiche Besonderheiten zu beachten sind – also der weniger komplizierte Teil in einer Katastrophe, wie sie vorher nie in solch tiefgreifender Weise jeden Lebenszweig der Hauptstadt einer Region betroffen hat –, beginnt nur mühsam. Wann kann man also daran denken, Denkmäler, Museen, Theater wieder aufzubauen? Wann kann man erst wieder durch die Straßen dieser Stadt schlendern ohne dass sich ihre Bauten nur dank Seilankern, Balken und Gerüsten aufrecht halten? Wann kann man wieder zu seinen Kindern sagen: „Komm, machen wir einen Spaziergang,, ins Zentrum, auf die Piazza!“, ohne die Frage hören zu müssen: „Mama, was ist eine Piazza?“.
Drei Jahre nach der Tragödie spricht niemand mehr von Jahren für den Wiederaufbau der Stadt. Während man in den ersten Monaten nach dem Erdbeben von zehn, maximal fünfzehn Jahren redete, riskiert heute niemand mehr, eine Prognose abzugeben – weder Gianni Chiodi, der für den Wiederaufbau delegierte kommissarische Leiter und Präsident der Region Abruzzen, noch der Bürgermeister Massimo Cialente und schon gar nicht die technischen Kommissare, die nach L’Aquila gekommen sind, um die Notfallmaßnahmen und dann die Instandsetzung zu organisieren. Wir alle lernen gerade, zu leben wie in einer Vorhölle, so vieler unsinniger und unlogischer Dinge bewusst, die geschehen sind und noch geschehen, so vieler Polemiken und gegenseitiger Beschuldigungen, besonders in diesem Jahr 2012, in dem der dritte Jahrestag der Katastrophe genau in die heiße Phase des Kommunalwahlkampfs fällt. Wir sind uns wohl bewusst, dass jene ersten Schätzungen, die man uns gegeben hat, nicht zutreffen werden, es wird viel Zeit brauchen, viel mehr als zehn oder fünfzehn Jahre. Inzwischen zerfällt die Stadt weiter, und die durch das Beben verursachten Schäden sind um mindestens 30 Prozent gestiegen.
So sind im historischen Stadtzentrum, das voll von denkmalpflegerischen Auflagen ist, die Baustellen der begonnenen Rekonstruktion überschaubar: Mit Unterstützung der Fondazione Roma, die drei Millionen Euro bereitgestellt hat, wird die Kirche San Biagio ad Amiternum in der Via Sassa, gleich um die Ecke vom Domplatz, im Juli 2012 übergeben werden. Das angrenzende Oratorium San Giuseppe dei Minimi kann dank der Spende von 1,7 Millionen Euro durch die kasachische Regierung restauriert werden. Die bedeutende Renaissance-Basilika San Bernardino, wo die Arbeiten auf Initiative des Amtes für Bau- und Landschaftsdenkmäler in den Abruzzen schon Ende 2009 begonnen haben, ist fertig abgestützt, und nun ist die Wiederherstellung des Gebäudes in vollem Gange. In der Zwischenzeit werden seine Kunstwerke restauriert. Die wertvolle barocke Holzdecke, Werk des Künstlers Ferdinando da Pescocostanzo und des Malers Girolamo Cenatiempo, strahlt wieder in ihrem alten Glanz, dank der Spende durch die Stiftung der Sparkasse der Provinz L’Aquila von 300.000 Euro und der Begeisterung der Techniker und Restauratoren des Amtes für kunsthistorische und ethnoanthropologische Güter. Sie haben sich im Rahmen einer Initiative von Baustellenbesichtigungen auch den Fragen des Publikums gestellt. Dieses Projekt der offenen Baustellen hatte großen Erfolg – mehr als zweitausend Besucher in zehn Tagen –, und vor allem hatte es eine starke Wirkung auf die Stimmung der Einwohner, die einen Moment der Wiedergeburt eines Teils ihrer historischen Erinnerungsstücke sehen und sie mit der Hand berühren konnten.
Es sind noch andere Instandsetzungen von Denkmälern am Start, etwa die der Spanischen Festung, symbolischer Ort einer ganzen Region. Sie wurde von den Aquilanern zur Zeit der spanischen Herrschaft zwischen dem 16. und 17.Jahrhundert erbaut. Gegenstand eines ersten Abschnittes von Maßnahmen, die eine Wiederinstandsetzung der Hauptachse des Gebäudes betreffen, ist der Eingangstrakt, welcher das Nationalmuseum der Abruzzen beherbergte. Seine Rekonstruktion wird mit Mitteln des Amtes für Bau- und Landschaftsdenkmäler der Abruzzen finanziert, etwa fünf Millionen, die aus Überschüssen der Bilanzen vergangener Jahre beschafft wurden. Andere Baustellen wurden begonnen: Kirchen und Paläste, Tore und Teile der Stadtmauer, die Brunnen, die Türme und auch einige öffentlicher Gebäude wie Gericht, Polizeipräsidium, Krankenhaus. Aber andere symbolische Orte, die Geschichten erzählen von Heiligen und Eremiten, von Päpsten und Prinzen, warten weiterhin auf ein Signal zur Wiedererweckung.
Die romanische Basilika Santa Maria di Collemaggio ließ CelestinoV. errichten. Der heilige Eremit war an dieser Stelle 1294 zum Papst gekrönt worden, und seit jenem Jahr feiert man jedes Jahr am 28. August sein Jubiläum, das hier Perdonanza Celestiniana genannt wird, mit der Öffnung der Heiligen Pforte. Die Kirche erhebt sich immer noch majestätisch vor den Toren der Stadt mit ihrer Fassade aus weißem und rosa Stein und ihren floralen Ornamenten. Es ist, als erwarte sie eine Geste, eine Bewegung, etwas, das die Hoffnung auf eine Wiederkehr neuen Lebens für sie bedeutet. Nicht jedoch jene Fiktion, die sie vor drei Jahren erlebte. In dem Wahn, der Welt die Wunden dieser Stadt zu zeigen, wurde sie bei der ersten Perdonanza Celestiniana nach dem Erdebeben in ihrer Versehrtheit ausgestellt, und dann später, voll mit Stahl und Eisen, noch einmal anlässlich der Christmette des Jahres 2009. Bei dieser Gelegenheit feierten sich, gemeinsam mit den Aquilanern, ganz besonders die Urheber der Abwicklungsgeschichte nach dem Erdbeben. Die Betriebsamkeit um diese beschädigte Kirche liegt viele Monate zurück, sie hat sich bisher auch ohne das Spektakel aufrecht halten können. Aber wie lange noch?

Nur eineinhalb Jahren nach jener tragischen Nacht hat man mit der Restaurierung eines anderen Wahrzeichens von L’Aquila begonnen, der Fontana delle 99 Cannelle. Dieses schlechthin bürgerliche Denkmal ist sehr eng mit der Stadtgründung verbunden. Der Brunnen,  er wurde 1274 vom Baumeister Tancredi da Pentima errichtet, erinnert mit seinen
99 Wasserhähnen an die legendären 99 Burgen, die an der Gründung dieser neuen Civitas beteiligt gewesen sein sollen und diese magische Zahl mit L’Aquila verbanden. Am 15. Dezember 2010 gab der italienischer Umweltfonds FAI den Aquilanern dieses restaurierte Denkmal zurück. Die Mittel hierzu waren durch eine Spendensammlung in ganz Italien zusammengekommen. Sicher, der Brunnen hatte nur wenige Schäden erlitten, aber die Baumaßnahme beinhaltete auch eine außergewöhnliche Wartung des komplizierten hydraulischen Mechanismus, und, wie auch immer, ist diese Geschichte ein Zeichen dafür, dass, wenn die Mittel, die Synergien und der Einsatz aller vorhanden sind, die Dinge angepackt und hervorragende Ergebnisse erreicht werden können.

Wo sie war, wie sie war
Während dies die Situation auf der Seite der öffentlichen Bauten ist, bewegt sich auf der Seite der privaten Rekonstruktion überhaupt nichts. Hunderte und aberhunderte großer und kleiner Gebäude mit eindrucksvollen Innenhöfen und jahrhundertealten Familiengeschichten, die die Entwicklung der Stadt geprägt haben, zerfallen weiter. Was das Erdbeben nicht geschafft hat, schafft nun der Mensch. Das Gefüge der Stadt wurde vor jenem Erdbeben, von dem wir heute erzählen, schon von mindestens drei zerstörerischen Beben getroffen, in den Jahren 1349, 1461 und 1703, außerdem von hunderten starken Erdstößen – und jedes Mal wurde die Stadt von ihren Bewohnern wieder aufgebaut – wo sie war, aber nicht wie sie war. Die Gegenwart scheint diese Situation nicht ertragen zu können: „Dov’era, com’era“, wo sie war, wie sie war, lautet der Slogan für den Wiederaufbau der Stadt. Doch die Hoffnung darauf schwindet zusehends. Allein die Kämpfe und Zähigkeit der Eigentümer, die in der Altstadt geboren sind und dort alles verloren haben, halten die kleine Flamme am Brennen. Ein Beispiel ist jener Altstadtbereich, dessen schleppende Wiederherstellung kennzeichnend für die Reaktion auf die Zerstörung im Ganzen geworden ist. Es handelt sich um das Gebiet um die Piazza della Prefettura, an der sich der Regierungspalast befindet, vor dem sich die Mächtigen dieser Welt während des G8-Gipfels im Juli 2009 haben fotografieren lassen. Etwa hundert Eigentümer haben hier in enger Zusammen­arbeit das erste Konsortium zum Wiederaufbau gegründet. Dieses hat mit verschiedenen Partnern ein Pilotprojekt ins Leben gerufen, um die möglichen Modelle für die Rekonstruktion zu prüfen. Es hat Normen und Vorgehensweisen aufgestellt, hat Übereinkünfte mit öffentlicher Hand und Kirche gefördert. Es hat gemeinschaftlich Kräne zwischen benachbarten Grundstücken und Gerüste aufstellen lassen, um die Ausgangsbedingungen für Baumaßnahmen zu schaffen – doch auch nach drei Jahren ist es dem Konsortium noch nicht gelungen, die notwendigen Finanzierungen zu bekommen, obwohl diese angewiesen worden waren. Gründe sind die Langsamkeit der Behörden und das Fehlen eines gültigen Planes für den Wiederaufbau, dessen Ausarbeitung das Gesetz den kommunalen Behörden vorschreibt. Die Mitglieder des Konsortiums geben die Hoffnung nicht auf – wohl aber ein großer Teil der Stadt.
Drei Jahre nach dem 6. April 2009 steht praktisch alles still, auch der private Wiederaufbau der unbewohnbaren Häuser außerhalb der Altstadt, also derjenigen, bei denen es am unkompliziertesten ist, „Hand anzulegen“. Die Gründe sind schwer zu verstehen. Hin- und Herschieben der Verantwortung, Vorwürfe und Schuldzuweisungen, das ist alles! Das hier in Gang gesetzte System würde wirklich jedem Kopfschmerzen bereiten: die Notfall-Management-Struktur SGE (Struttura Gestione Emergenza), die dem Kommissar für Wiederaufbau vorsteht, mit ihren Vizekommissaren, die Struktur technischer Einsatz STM, dann die Kommune und die untergeordneten staatlichen Büros, das sogenannte „Schneideisen“ für die Überprüfung der Vorgänge (drei Gesellschaften Fintecna, ReLuis und Cineas), die Projekte, die Unmenge von Normen, Gesetzen, Regelwerken, Dekreten und Akten! Paradoxerweise ruht das, was die größte Baustelle Europas sein sollte, die Arbeiter sind in Kurzarbeit geschickt worden. Das wirtschaftliche System ist in die Knie gegangen, da, während die Hilfe für die Bevölkerung einwandfrei gelang, Hilfestellungen für die Bauunternehmen wenig oder gar nicht geleistet wurden. Ergebnis: Die Kurzarbeit hat eine schwindelerregende Höhe erreicht und dutzende kleiner Firmen, die das produktive Gefüge der Stadt darstellten, sind geschlossen worden. Auch Minister Fabrizio Barca, vom neuen italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti berufen, sich um L’Aquila zu kümmern, hat die Langsamkeit des Wiederaufbaus beklagt, aber gleichzeitig versichert, die Gelder seien vorhanden und die Abläufe würden beschleunigt.
Also, alles wieder auf Anfang! Inzwischen sind 36 Monate vergangen, und mittendrin sind wir Aquilaner, eine Gemeinschaft, die, verstreut in vielen neuen Siedlungen, herausgerissen aus ihrem alten Umfeld, vor neuen Problemen steht: Der Alkohol- und Drogenkonsum unter den Jugendlichen steigt, ebenso die Einnahme von Psychopharmaka. Das, was einen am stärksten bedrängt, ist die Sehnsucht nach der eigenen Stadt, nach den Orten, an denen man sich einst traf, nach der Bar an der Ecke, nach den Arkaden des Corso, nach den Düften und dem Treiben des Marktes. Eine Gemeinschaft, die eine beneidenswerte Lebensqualität hatte, ist sich bewusst geworden, dass sie diese von einer Minute zur anderen verloren hat. Wenn es nicht gelingt, Einzelinteressen zu überwinden und den Gemeinsinn wiederzufinden, werden wir unsere Stadt für immer verlieren.  




Adresse 67100 L'Aquila Italien


aus Bauwelt 14.2012
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