Bauwelt

Neue Synagoge in Mainz


Licht der Diaspora im Blockrand


Text: Elser, Oliver, Frankfurt am Main


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Knapp 72 Jahre nach der Zerstörung der alten Hauptsynagoge und elf Jahre nach dem Wettbewerb für einen Neubau haben Manuel Herz Architekten das Jüdische Gemeindezentrum in Mainz fertiggestellt.
Ortstermin mit dem Architekten Manuel Herz. Der Tag ist trübe, es regnet stark, daher kommt die Keramikfassade nicht so schillernd zur Geltung wie bei Sonnenschein, ärgert sich Herz. Ansonsten überwiegt die Zufriedenheit: Zwei Tage zuvor waren zum Tag der offenen Tür 11.000 Besucher gekommen, um die kurz davor eröffnete Synagoge und das jüdische Gemeindezentrum zu besichtigen. Bis zu drei Stunden wartete man auf eine Führung. Die Zeitungen waren voller Berichte, im Nachrichtenteil und in den Feuilletons.
Wie Manuel Herz selbst seinen Bau erklären wird, diese Frage ist in diesem speziellen Falle weitaus spannender als bei einem x-beliebigen Gebäude. In den Besprechungen der großen Tageszeitungen, aber auch in Herz’ eigenen Erläuterungstexten und Interviews stand stets das Konzeptionelle des Bauwerks im Vordergrund: Dass der Baukörper aus – abstrahierten – hebräischen Buchstaben geformt sei, die das Wort „Kaduschah“ ergeben, was „erhöhen“, „heiligen“ oder „segnen“ bedeutet; dass diese Strategie, ein Haus aus Buchstaben zu formen, auf die besondere Situation der Juden in der Diaspora anspiele, die nach der Vertreibung aus Jerusalem jahrhundertelang sozusagen ohne „festen Wohnsitz“ gewesen seien – daher die zentrale Stellung der Schrift, zumal im mittelalterlichen Mainz wichtige Beiträge zur jüdischen Theologie entstanden. Oder dass der „Turm“ über dem Synagogenraum ein stilisiertes Widderhorn, das Schofar, sei, eines der ältesten Symbole des Judentums, das zu wichtigen Feiertagen geblasen wird.
Wer all das und noch etliches mehr im Kopf hat, bevor er den Architekten trifft, der fragt sich vielleicht: Benötige ich eine Gebrauchsanweisung, um dieses Haus zu entschlüsseln? Was denken denn all jene, die einfach so vorbeifahren in der Mainzer Hindenburgstraße, die hier, wo eigentlich die Hausnummer 44 wäre, nun Synagogenplatz heißt? Und ist es eigentlich alles nur gut gemeint oder auch tatsächlich gut gemacht?
Manuel Herz führt den Kritiker zu Beginn erst einmal auf angenehme Weise von allen konzeptionellen Höhenflügen hinab zu den städtebaulichen Gegebenheiten. Die Blockrandbebauung, die in der Mainzer Neustadt, einem gründerzeitli­chen Stadterweiterungsgebiet, eine zentrale Rolle spielt, diente hier als Anknüpfungspunkt, um einen Baukörper zu entwickeln, dem sein Architekt bewusst die Rolle des Solitärs verweigern möchte. Doch warum? Einer der Gründe: Nur ein zurückgenommener Baukörper sichert einen möglichst großen, offen zugänglichen Vorplatz, auf dem es tatsächlich keine auffälligen Betonsperren oder dergleichen gibt. Als zweiten Grund nennt Herz ein gewisses Unbehagen, ein allzu exponiertes Gebäude zu schaffen. Das klingt zunächst paradox: Ist nicht durch Fassadenmaterial und Silhouette bereits eine maximale Aufmerksamkeit garantiert? Das kann auch der Architekt nicht bestreiten, doch es geht ihm, das merkt man hier zum ersten Mal, immer wieder darum, so etwas wie „Komplexität und Widerspruch“ in das Entwerfen einzubringen. „Complexity and Contradiction in Architecture“, so hieß Robert Ven­turis Sachbuch-Manifest aus dem Jahr 1966, mit dem er der spätmodernen Langeweile eine erfrischende Anti-Dogmatik entgegenstellte. Die prägnantesten Situationen des Bauwerks sind in diesem Sinne „Sowohl-als-auch“-Entscheidungen wie eben die Gleichzeitigkeit von Blockrand und Solitär.
Überraschend ist auch, dass der Architekt die Fassade gänzlich unsymbolisch verstanden wissen will: Weder die Farbe noch das Muster hätten irgendetwas zu bedeuten. Allein was sie leistet, sei interessant: Eine von keinem Rendering vorab zu simulierende handwerkliche Qualität und „Tiefe“. Unvorhersehbare Farbverläufe. Schließlich wieder ein „Sowohl-als-auch“: Zurücknahme der starken Form durch das Zusammenspiel mit dem dichten Baumbestand. All dem mag man gerne zustimmen. Doch ist nicht das Offenkundigste da­mit ausgeklammert? Manuel Herz fand auch im Interview ­(s. Seite 29) keine rechte Erwiderung darauf, dass der erste Eindruck vom Gebäude – und es geht hier vermutlich nicht nur dem Kritiker so – doch der einer Zerrüttung, einer symbolisierten Zerstörung ist.
Man muss hier wohl kurz nach Berlin blenden, zu Daniel Libeskinds Jüdischem Museum. Manuel Herz hat bei Libes­kind gearbeitet. „Das sieht man!“, so haben Architektenkollegen dies schon kommentiert. Als Herz den Mainzer Wettbewerb im Jahr 1999 gewann, dürfte daran die Wirkung des im gleichen Jahr fertiggestellten Museums nicht ganz unschuldig gewesen sein. Dort ist Zerstörung ein, natürlich auch naheliegendes, Motiv. Doch was bei Libeskind allzu grafisch gedacht ist und dann von den Anforderungen des profanen Baubetriebs, zum Beispiel an der Fassade, wieder einkassiert wird, das gelingt Herz doch stimmiger, ja: architektonischer. Zum Beispiel die Form und Platzierung der Fenster: Hier hat er sich eines Verfahrens bedient, das der Künstler Frank Stella mit seinen Streifenbildern Ende der 1950er Jahre in die Kunstgeschichte eingeführt hat. Man weiß nicht recht zu sagen, was zuerst da war: die Umrissform des Hauses, die die Fenster bestimmte, oder die der Fenster, aus der dann der Rest hervor­ging. Beides wird mit den konzentrischen Rillen der Keramikwinkel fest miteinander verklammert und so ein Stück weit von der Beliebigkeit einer fassadenzeichnenden „Handschrift“ befreit. Schade ist nur, dass die Detaillierung der Fenster recht uninspiriert ausgefallen ist. Der Riesenaufwand der Keramik­rillen fokussiert das Auge auf dunkelgraue Standardprofile. Auch von innen ist die Durchfensterung eher fragwürdig: Da fehlt der Wille zum stimmigen Gesamtbild, fehlt die Ornamentik, und das ganze Spiel reduziert sich auf seltsam geschnittene Öffnungen in einer weißen Wand.
Die Ausnahme hierzu ist der eigentliche Betraum. Dessen Wände sind mit einem Ornament fein in Gips gearbeiteter hebräischer Buchstaben übersät. An einigen Stellen lichten diese sich und lassen Gedichtzeilen hervortreten. Die Farbigkeit schwankt zwischen Gold- und Sandtönen. Auch hier wollte Herz keine eindeutig als Gold identifizierbare Oberfläche. Die Bänke sind ebenfalls von einer wunderbaren, bewusst gewählten Unentschiedenheit: Freischwinger in der Form, ausgeführt in robustem Eichenholz – beides hält sich gegenseitig buchstäblich in der Schwebe. Es ist ein durch und durch angenehmer, trotz des riesigen Lichttrichters keineswegs monumental-pathetischer Raum.
Die übrigen Räume, also der große Gemeindesaal, das Foyer, Seminar- und Büroräume waren zum Zeitpunkt der Begehung noch nicht vollständig eingerichtet. So wirkte vieles noch besonders karg, brach sich der Schall nicht immer zum akustischen Vorteil beim Gespräch. Auch konnte sich keiner dazu äußern, wie das Haus von den Nutzern angenommen wird, da der Umzug in die neuen Räume noch nicht abgeschlossen war. Trotz des also nur vorläufigen Eindrucks drängt sich der Verdacht auf, dass hier nicht ganz dasselbe Niveau erreicht wurde wie an der Außenfassade oder im Synagogenraum. Nicht, dass auch im übrigen Gebäude die Verwendung grüner Keramik oder aufwendigster Wandgestaltungen ratsam gewesen wäre. Aber es muss doch auch andere Mittel geben, um einem Raum eine angemessene Atmosphäre zu verleihen, als allein auf die Farbe Weiß und eine zerklüftete Deckengeometrie zu setzen. Nein, sagt Manuel Herz, man benötige keine Gebrauchsanweisung für das Gebäude. Es stimmt. Was daran gelungen ist, das erschließt sich so unmittelbar, wie auch die fragwürdigen Momente von keinem konzeptionellen Überbau zu glätten sind. Vielleicht leistet die Aneignung der Nutzer den entscheidenden Beitrag.



Fakten
Architekten Manuel Herz Architekten, Basel/Köln
Adresse Synagogenplatz 1; 55118 Mainz


aus Bauwelt 37.2010
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