Bauwelt

Oderberger Straße 56


Slow architecture


Text: Kleilein, Doris, Berlin


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    Jan Bitter

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    Jan Bitter

„Planung für ein Grundstück, das keiner wollte“ – vor mehr als vier Jahren haben wir mit BARarchitekten über ihren Entwurf für die Baulücke Oderberger Straße 56 in Berlin gesprochen. Jetzt ist das Haus fertig.
Eine dichtes, dreidimen­sionales Experiment mit fünf Wohnungen, fünf Ateliers und der Möglichkeit zur Veränderung.
Es gibt Projekte und Büros, die entziehen sich den gängigen Kategorien des Architekturbetriebs – ökonomisch, gestalterisch, aber auch, was das Selbstverständnis des Berufes angeht. BAR und ihr erster großer Neubau gehören dazu. Die Sorgfalt, mit der das Viererteam seit 2003 an diesem Gebäude entwirft, herumdenkt, es verdichtet und immer wieder durchrechnet und -gestaltet, kann kaum als effizient bezeichnet werden – zu lange dauerte der Prozess vom Grundstückskauf bis zur Fertigstellung, zu eng verwoben ist das Büro mit dem Haus, als Entwickler, Entwerfer, Bauleiter, Hausmeister, Eigentümer und Vermieter. Bereits 2006 versprach der Entwurf ein ungewöhnlich komplexes Gebäude mit Split-Levels, durch die Geschosse mäandernden Grundrissen und einem doppelgeschossigen Raum in jeder Wohnung. Bei meinem zweiten Besuch erzählt das fertige Haus von einer seltenen Qualität: langsam, beharrlich und gegen Widerstände den eigenen Weg finden; etwas herausarbeiten, das man als „Modell“ bezeichnen kann.
Das Ergebnis der Tüftelei ist ein Haus, „an dem man auch vorbeigehen könnte“, wie die Architekten betonen. Siebeneinhalb Geschosse, kleine Austritte zur Straße, ordentlich verputzt und mit dem typischen Berliner Gewerbesockel versehen, steht es in der Häuserflucht der Oderberger Straße, direkt neben dem denkmalgeschützten Stadtbad. Nur die großen Atelierfenster, die das erste und das zweite Geschoss zusammenfassen, lassen erahnen, dass sich hinter der Fassade mehr verbirgt als Wohnen: ein dichtes, verschachteltes Paket aus Wohnungen, Gewerbe und Ateliers. In eines der fünf Ateliers sind die Architekten mit ihrem Büro eingezogen: Die helle Färbung des Putzes markiert das Volumen auf der Fassade, ei­nen kompakten Würfel. Mit 45 Quadratmetern auf zwei Ebenen ist es die größte der Mini-Maisonettes. Antje Buchholz, Jürgen Patzak-Poor und Michael von Matuschka turnen hier auf minimalem Raum über zwei hölzerne Treppen, es gibt ein winziges Bad, eine Kochzeile, der Betonboden ist grün gestrichen. Nebenan arbeiten (und wohnen) Journalisten, Künstler und Architekten in noch kleineren Einheiten, mit 31, 33 und 35 Quadratmetern.
Raumkapitalisten
Die kleinste Einheit – das ist das Argument, mit dem sich das Haus gegen die „Raumkapitalisten“ auf dem Wohnungsmarkt der Berliner Innenstadtbezirke behauptet. Beim Wohnungsbau aus Investorenhand und auch bei den vielen Baugruppen ginge es vor allem um das „Mehr“, wie Jürgen Patzak-Poor erläutert: Immer mehr Quadratmeter für immer mehr Geld mit zu wenig Flexibilität. In der Oderberger Straße entsteht die Großzügigkeit über eine Reihe von strukturellen Besonderheiten: unterschiedliche Raumhöhen (von 2,10 bis 4,20 Meter), bis zu vier Ebenen in einer Wohnung, die Einbeziehung von Treppen, Brücken und zum Teil auch Möbeln in das räumliche Kontinuum. Üppig ist vor allem der doppelgeschossige Raum, der sich mit Balkon nach Süden zum Hof öffnet: Er wird meist als Wohnküche genutzt, zum Teil sind Galerien eingestellt und abgehängt. Dieses Turmzimmer, durch dessen Verglasung der Blick auf das tief in den Block reichende Stadtbad fällt, ist flankiert von zwei durchgesteckten Raumeinheiten: Sie spannen sich zwischen Straße und Hof und liegen jeweils ein halbes Geschoss höher und tiefer. Nicht, dass die so zusammengesetzten Vierzimmer-Wohnungen mit etwa 120 Quadrat­metern wirklich knapp bemessen wären, doch die Struktur trägt den sich wandelnden Lebensumständen Rechnung, in­dem kleine Wohnungen ohne großen Aufwand abgetrennt werden können – für die Großeltern, die Pflegekraft oder den Untermieter. Für diesen Fall ist ein zweiter Wohnungseingang vom Zwischenpodest des Treppenhauses aus vorgesehen.
Nicht nur bei den Grundrissen hat sich das Tüfteln gelohnt: Die Konstruktion hätte ursprünglich ein Holzbau werden sollen, was sich aber als zu teuer erwies und nachteilig für die „puren“ Oberflächen, die man im Inneren zeigen wollte. Schließlich wurde es ein Stahlbetonskelett mit einer Fassade aus hochgedämmtem Holzständerwerk – zu erkennen an der dünnen Fensterlaibung, die dem Haus die Schwere nimmt.
Was das Raumangebot angeht, so lässt sich noch eine Reihe von Extras aufzählen: die gemeinschaftliche Dachterrasse mit Gästewohnung, der „Experimentraum“ (eine Non-Profit-Galerie zur Straße hin), der Musikraum. Hier kommt die besondere Konstellation zum Tragen, in der gebaut wurde – weder klassische Baugruppe noch Investorenprojekt. Zusammengefasst spielen folgende Faktoren eine Rolle:
1. Langsamkeit und Vorfinanzierung: Das Grundstück konnte bereits 2003 von einem kleinen Pool an Teilhabern erworben werden, zu denen auch die Architekten gehören.
2. Mischung aus Eigentum und Miete: Der Bau ist zu etwa ei­ner Hälfte finanziert durch drei Wohnungseigentümer, zur an­deren durch einen „Vermietungspool“, der die Gewerberäume, die Ateliers und eine Wohnung finanziert hat und vermietet.
3. Erweiterung der Architektenrolle: Die Architekten haben einen großen Teil des Honorars als „Muskelhypothek“ in den Vermietungspool fließen lassen und übernehmen Hausmeister- und Verwaltungsaufgaben.
Das Modell, von dem eingangs die Rede war, könnte man so beschreiben: Die Präsenz der Architekten auf allen Ebenen führt zu einer Verantwortlichkeit, die über die architektoni­sche Gestaltung weit hinausreicht: „eine Adresse schaffen“, Arbeiten und Wohnen verknüpfen, das ist mit diesem Haus gelungen. Den Eigentümern und Mietern steht für einen an­gemessenen Betrag ein Raumangebot zu Verfügung, das weit über dem Durchschnitt liegt – gerade mit Blick auf die Luxuswohnanlagen der Nachbarschaft wie den „Zehdenicker Höfen“, die das Berliner Mietshaus als billiges Abziehbildchen benutzen. Nicht zuletzt ist das der Doppelrolle Bauherr/Architekt zu verdanken, in der sich Entwürfe konsequent umsetzen lassen: Welcher Investor hätte die vielen Umwege mitgetragen?
Offen bleibt die Frage, ob sich das Modell als „urbaner Pro­totyp“ auf andere Orte übertragen lässt. Kann und soll es bei Nachfrage (und die ist groß) geklont werden? Anders gefragt: Ist dies der ganz besondere Erstling, gewachsen im Berliner Biotop, nach dem den Architekten die Puste ausgeht – oder der Beginn einer neuen Phase des langfristig angelegten, am Nutzer und der Stadt orientierten Wohnungsbaus? Die Angelsachsen haben dafür bereits einen Namen: Slow Architecture.



Fakten
Architekten BARarchitekten, Berlin
Adresse Oderberger Str. 56 10435 Berlin


aus Bauwelt 42.2010
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