Bauwelt

Wie die neue Produktion Stuttgart verändern könnte


Die schwäbische Landeshauptstadt mischt bei diesem Thema ganz vorne mit. Bereits im Herbst 2014 veranstaltete sie ein großes Symposium zur „Produktiven Stadt“. Interdisziplinäre Fragen der Stadtentwicklung wurden gestellt: „Wie und wo arbeiten wir morgen? Wie verändert sich der Arbeits- und Produktionsstandort Stadt unter den Bedingungen von ‚Industrie 4.0‘? Welche architektonischen Räume benötigt die digitale Innovation? Braucht die Stadt außer den üblichen Gewerbeflächen und den Dienstleistungsquartieren auch eine neue ,Garagenwirtschaft‘ der Bastler und Erfinder?“ Knapp zwei Jahre danach fassen die beiden Autoren die damalige Diskussion zusammen und erläutern, welche Schritte eingeleitet wurden


Text: Gwildis, Frank, Stuttgart; Werrer, Stefan, Stuttgart


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    Jedem Tal einen eigenen, großen Industriestandort (Porsche, Bosch, Mercedes-Benz)
    Plan: schwarzplan.eu/Openstreetmap Contributers

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    Jedem Tal einen eigenen, großen Industriestandort (Porsche, Bosch, Mercedes-Benz)

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    Stuttgart ist von der Industrie geprägt, die Autoindustrie flankiert die Ränder: Mercedes Benz im Osten, ...
    Foto: www.webbaviation.de

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    Stuttgart ist von der Industrie geprägt, die Autoindustrie flankiert die Ränder: Mercedes Benz im Osten, ...

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    ... Porsche im Norden.
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Stuttgart muss produktiv bleiben

Das Thema gärt in der Stadt. Seit einiger Zeit ist der Begriff „Produktion“ in die Diskussion um die Stadtentwicklung zurückgekehrt. Die lange Zeit als unvermeidbar hingenommene Deindustrialisierung der Städte und die Verlagerung der industriellen Produktion an die Peripherien oder ins Ausland werden heute auch als Verlust interpretiert. In vielen Städten Europas und in Nordamerika wird über die Möglichkeiten einer „Reindustrialisierung“ der Städte nachgedacht. Ursache für diese Debatte sind auch die sich verändernden Ökonomien der heutigen „postfordistischen Stadt“, die neue Formen des Arbeitens mit flexibleren und urbaneren Produktionsformen, mit wechselnden Kooperations- und Kollaborationsmustern ermöglichen. Anstelle alter Konzepte, die auf Nutzungstrennung und unbegrenzte Ressourcen setzten, geht es heute darum, sich über wirklich gemischte Quartiere, über Nachbarschaften mit Eigeninitiative und neuen Formen der Koproduktion Gedanken zu machen. Solche kooperativen Formen von Leben und Arbeiten, die Makro- wie Mikrostrategien berücksichtigen, könnten dazu beitragen, die gleichberechtigte Hybridisierung lokaler und globaler Ökonomien voranzutreiben.

Industriell-produktive Standortprägung

Mit ihren 2,7 Millionen Einwohnern verzeichnet die auch im europäischen Kontext besonders wirtschaftsstarke Region Stuttgart einen anhaltenden Siedlungsdruck. Bis 2025 wird ein Bevölkerungswachstum von über 4% prognostiziert. Die historisch gewachsene Industrie prägt nicht nur die Raum- und Nutzungsstrukturen in der Stadt und der Region um Stuttgart, sie kennzeichnet auch die linearen Gewerbeentwicklungen entlang der Flusstäler von Neckar, Rems, Fils, Enz und den zahlreichen Nebenflüssen. Die Industriegeschichte manifestiert sich übrigens auch in der Namensgebung der Stuttgarter Straßen, zum Beispiel im ehemaligen Industrievorort Feuerbach oder in Bad Cannstatt. Hier finden sich die Namen heimischer Industriepioniere wie Robert Bosch, Gottfried Daimler, Ferdinand Porsche, Ferdinand Steinbeis und Wilhelm Maybach.

Prinzip Garage

Das Prinzip Garage als „Innovations-Stimulator“ der Wirtschaft hat in Stuttgart seinen gut bekannten Vorläufer: Gottlieb Daimlers Versuchswerkstätte im ehemaligen Gartenhaus der Familie, entstanden 1882. Mancher Stuttgart-Besucher mag heute beim Betreten des kleinen Gebäudes in Bad Cannstatt an die Garage von Steve Jobs in Los Altos in Kalifornien denken, in der Jobs 1976 zusammen mit Steve Wozniak und Ron Wayne Apple gegründet hat. Ließe sich die Flexibilität und räumliche Offenheit solcher „Gartenhaus- und Garagenkulturen“ in die Gegenwart heutiger Industrien übersetzen, die von Informations- und Kommunikationstechnologien, von Bio- und Nanotechnologie, von Robotik und dem Internet der Dinge bestimmt ist? Dafür spräche, dass auch große Stuttgarter Unternehmen wie Daimler und Bosch mehr und mehr auf flexible, kleinteilige und selbstverantwortliche Entwicklungseinheiten setzen, sich für die Start-up-Kultur interessieren und diverse experimentelle Freiräume bei jungen Unternehmen fördern – weitgehend ohne die organisatorischen Einschränkungen des Konzerns. Das passiert nicht nur in Stuttgart, auch in München ist man da aktiv. Der Münchner Siemens-Konzern beispielsweise fördert über seine Einheit „Next-47“ – der Name spielt auf das 1847 gegründete „Start-up“ Siemens an – junge Unternehmen mit firmenrelevanten Projekten mit einer Milliarde Euro.

Bedingungen einer neuen produktiven Stadt

Die hier skizzierten Veränderungen sind sowohl Zeichen eines technologischen und ökonomischen Strukturwandels wie auch der veränderten Arbeits- und Produktionsbedingungen. Stuttgart reagiert auf diese Veränderungen im Rahmen der „Entwicklungskonzeption Wirtschaftsflächen für Stuttgart (EWS)“. Seit 2014 nimmt ein Gutachterteam die Industrie- und Gewerbekulisse Stuttgarts unter die Lupe. Zu seinen Aufgaben gehört die Analyse der Abwanderungen von Unternehmen in die Peripherie, die zunehmende Flächenknappheit durch gewerbliche Flächennachfrage und die Frage der Nutzungskonkurrenzen, die zur Neubetrachtung der Wirtschafts- und Flächenstrategie führen. Ziel der Entwicklungskonzeption ist es, in einem zweistufigen Verfahren Grundlagen für die Sicherung, Mobilisierung und Entwicklung von Gewerbeflächen für Stuttgart zu erarbeiten. Für den Zeithorizont bis 2030 werden innerhalb dieser Konzeption Inhalte, Zielsetzungen, Handlungsfelder, konkrete Entwicklungs- und Handlungskonzepte für gewerbliche Schwerpunkträume erstellt. Dabei geht es auch darum, das herkömmliche und sehr eingeengte Verständnis von städtischen Gewerbegebieten zu erweitern.
1. Zukunft der Arbeit am Industriestandort Stuttgart
Anders als bei vielen anderen großen Städten und Regionen leitet sich die wirtschaftliche Dynamik des Großraums Stuttgart weniger aus einem hohen Dienstleistungsanteil ab – sie gründet sich vor allem auf die starke industrielle Basis rund um den Fahrzeugbau, die Elektrotechnik und zahlreiche innovative mittelständische Betriebe. Jede Entwicklungskonzeption sollte allerdings den andauernden Strukturwandel im Blick haben – industrielle Arbeit und Produktion müssen sich fortwährend neuen Herausforderungen anpassen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der industriellen und technologischen Umstrukturierung und der Vernetzung von Prozessen und Produkten, die heute unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ zusammengefasst werden.
2. Stadtwirtschaft, Handwerk und Baugewerbe – Notwendigkeit einer ganz alltäglichen Produktion
Für das städtische Wachstum und die wirtschaftliche Entwicklung einer Stadt sind unterschiedliche Teilökonomien von Bedeutung. Es geht nicht nur um die global eingebundenen Teile der oben erwähnten großen Industrien, sondern auch um die lokal orientierten und quartiersbezogenen Teilökonomien mit ihrem kleinräumigen Absatz- und Einzugsbereich. Dieser lokalen Ökonomie mit Kleinunternehmen, Handwerksbetrieben und Selbständigen kommt eine bedeutende Rolle innerhalb der Wirtschaft in der Stadt zu, sie schafft in erheblichem Umfang Arbeit, erfüllt ihre Funktion der Nahversorgung und ist wichtig für den Zusammenhalt einer Stadt. Entsprechend muss sie gefördert werden.
3. Wohnen und Arbeiten – Ansätze und Perspektiven für gemischt genutzte Quartiere und hybride Nutzungskonzepte
Eine konsequente Politik der Innenentwicklung ist ohne gemischt genutzte Quartiere nicht vorstellbar. Die enge Nachbarschaft von Wohnen und Arbeiten trägt in erheblichem Maß zur Vielfalt und zur Integrationskraft von Stadtquartieren bei. Die freie und gleichzeitig fragmentierte Verfügbarkeit von Arbeitszeit, Kinderbetreuungszeit und Freizeit ist für die heutigen Haushalte immer prägender. Die räumliche Nähe von Arbeitsplatz und Wohnung spart da Verkehrsmittel und Transferzeiten. Welche architektonischen Typologien tragen diesen Veränderungen Rechnung? Und welche innovativen Ansätze für gemischt genutzte Quartiere und hybride Nutzungskonzepte unterstützen die angestrebte Schaffung attraktiver und möglichst kompakter Siedlungsmuster – das sind Fragen, mit denen sich die „Produktive Stadt Stuttgart“ in Zukunft vermehrt beschäftigen will.
4. Heimische Kreativwirtschaft und MAKER CITY
Die Kreativwirtschaft stellt in Stuttgart mit rund 4500 Unternehmen und über 29.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine Branche mit hohem Zukunftspotenzial dar. Neben der wirtschaftlichen Perspektive beinhaltet diese Entwicklung auch eine städtebauliche Dimension. Es ergeben sich für die Stadtentwicklung neue Handlungsfelder, die in die Standortanalyse einfließen. Wo genau wird eine Stadt kreativ? Haben diese Unternehmen andere Raumansprüche als das herkömmliche Gewerbe? Verdrängen die Kreativen umgekehrt durch Aufwertungsprozesse der von ihnen okkupierten Quartiere das herkömmliche Gewerbe?

Von der produktiven Stadt zur produktiven Region

Der seit zwei Jahren angestoßene Prozess hat den Blick auf die künftig notwendigen Eigenschaften der Stadtlandschaft bereits verändert. Stadtquartiere, in denen die Veränderung bereits sichtbar wird, wie etwa die Fabrikvorstadt in Bad Cannstatt oder das Quartier Bludenzer/Bregenzer Straße in Feuerbach, sind hier Vorreiter und werden auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen. Die Beispiele Shackspace e.V. in Wangen, das Coworking 70711 und das ELMOTO im Stuttgarter Westen zeigen bereits Ansätze einer neuen „Garagenwirtschaft“. Besondere Impulse gehen auch von den umgenutzten Wagenhallen am Nordbahnhof aus; sie beeinflussen dort die Quartiersentwicklung in der Nachbarschaft.
Beispiele für ein sinnvolles, sicher auch konfliktreiches Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe gibt es bisher allerdings kaum. Zu sehr ist die Nutzungstrennung noch in den Köpfen verankert und gleichsam der Imperativ vieler Quartiersplanungen. Zwar sind für das Rosensteinquartier in Stuttgart Nord und für den Eiermann-Campus in Vaihingen erstmals auch hybride Stadtbausteine vorgesehen, aber erst in den städtebaulichen Quartiersentwicklungen im EnBW-Areal am Stöckach und im W&W-Stadtquartier am Feuerseee könnte ein urbanes Miteinander von Wohnen, Produktion, Start-up-Kultur und Stadtteilinfrastruktur in größerem Maßstab umgesetzt werden. Dazu zählt auch die Idee, den Maßstab für solche Neuerungen noch weiter hinaus in die Region auszudehnen: Die internationale Bauausstellung 2027 bietet die große Chance, die Idee der produktiven Stadt auf die Region zu übertragen.




Adresse Stuttgart


aus Bauwelt 35.2016
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