Schule ohne Wände
Eine Ortsbegehung
Text: Geipel, Jan Dominik, Stuttgart/Kopenhagen
In den letzten Jahren entstanden in Japan eine Reihe von Schulbauten, in denen die traditionellen Typologien zugunsten von neuen Formen des Lernens und Lehrens aufgelöst wurden. Eine Grundschule in Uto, entworfen vom Büro Coelacanth CAt, verzichtet selbst auf Türen und Wände für die Klassenzimmer. Ein Blick in den Schulalltag.
Ein schlichtes Lehrgebäude machte vor gut zehn Jahren Schlagzeilen in der Architekturszene Japans. Riken Yamamoto aus Yokohama, so geschickt wie beharrlich agierendes Enfant terrible und Repräsentant der auf Hiroshi Hara folgenden Generation – dabei in der Öffentlichkeit stets bescheiden auftretend – hatte die Future University Hakodate fertiggestellt (
Heft 46.2001). Der Campus war die konsequente Weiterentwicklung Yamamotos gebauter „Gegenentwürfe“ zur hierarchisch geprägten Gesellschaftsordnung. Hier in Hakodate wurden Lehren und Lernen aus dem üblichen starren Rahmen geschlossener singulärer Studios gelöst und in ein enorm großes terrassiertes Volumen verlegt, das vielfältige Möglichkeiten zur Partizipation eröffnet und interne wie externe Blickbeziehungen bietet. Mit diesem kompakten räumlichen Organisationsmodell brachte Yamamoto die Idee der Uni als Schnittstelle, an der die verschiedenen Fachbereiche miteinander in Verbindung gebracht werden, in die Debatte ein. Allerdings liegt Hakodate mit für Japan vergleichsweise bescheidenen 300.000 Einwohnern so weit oben im Norden des Landes, dass der konzeptionell mutige Bau nach einem kurzen medialen Blitzlichtgewitter bald wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand.
Experimente an der Peripherie des Landes
Von außen gesehen ist bemerkenswert, dass dieser innovative Universitätsbau nicht im Zentrum einer der Millionenmetropolen, in Tokyo, Osaka, Kobe oder Kyoto, errichtet wurde, sondern in der japanischen Peripherie. Yamamotos Beispiel folgten andere Architekten. Hakodate war Anstoß für eine ganze Reihe experimenteller Raumkonzepte, die die neuen Lehr- und Lernkonzepte salonfähig machten. Diese, häufig durch herausragende Architektur getragenen Konzepte sind auch Bestandteil der politischen Überlebensstrategie ländlicher Regionen, gegen Überalterung, Abwanderung und Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit, gangbare Alternativen auszuprobieren.
Seit knapp zwei Jahren steht jetzt im Süden des japanischen Archipels, auf der Insel Kyushu, ein Schulgebäude, dessen bescheidene Hülle leicht über die spektakulären inneren Werte hinwegtäuscht. Vom Bahnhof der kleinen Stadt Uto fährt man zehn Minuten mit dem Taxi durch lose urbane Agglomerationen und Obstplantagen, bis rechter Hand ein fast leerer Raum am Straßenrand auftaucht: Ein großer Sportplatz, etwas staubig, wird von einem langgestreckten, zweigeschossigen Neubau flankiert. Eine Phalanx blauer Plastikblumenkübel an der Längsseite des Gebäudes weist den Weg. Am unscheinbar platzierten Eingang liegt ein handgeschriebenes Willkommensschild – der an japanischen Schulen obligate Concierge ist gerade anderweitig beschäftigt – das meinen Namen und den meiner Begleiter trägt. Für Außenstehende ist der Zutritt nur nach Antrag und mit bestätigter Anmeldung bei der regionalen Schulbehörde und im Beisein eines ihrer Repräsentanten möglich.
Drinnen ist Draußen
Beim Eintritt ins Gebäude erwartet den Besucher gleich die erste Überraschung: Drinnen ist Draußen. Die Fassadenflächen, als Falt-, Dreh- und Schiebeflügel ausgeführt, sind zum großen Teil beiseite geschoben und weit geöffnet. Hier auf Kyushu, Japans zweitgrößter Insel, sind die Temperaturen über viele Monate des Jahres gleichbleibend angenehm. Auskragende Decken, die im Obergeschoss die begehbaren Terrassen ergänzen, schützen vor der Sonne. Und auch während der regenreichen Monate bietet sich so die Möglichkeit, in weit geöffneten Räumen zu arbeiten. Die Atmosphäre weckt Assoziationen an die leichten und offenen Konstruktionen bekannter Teepavillons des Landes, aus denen sich die Gärten betrachten lassen, in denen sie liegen. Auch in Uto fühlt man sich direkt mit der Umgebung verbunden, blickt auf die sanft den Horizont modulierende Hügellandschaft, auf die luftigen Atrien im Inneren der Schule, mit Zitrusbäumen, Grasflächen und Blumenfeldern, und man sieht die Schüler im Unterricht. Was auf den ersten Blick als Teil eines architektonischen Raumkonzepts wahrgenommen wird, Außen und Innen miteinander zu verknüpfen, ist auch Teil eines klimatisch nachhaltigen Gebäudekonzeptes, das die herkömmliche technische Klimatisierung bis auf kurze Phasen im Winter überflüssig macht.
Die faktisch völlige Auflösung geschlossener Fassadenbereiche trifft im Inneren auf ein weiteres, in dieser Konsequenz bisher kaum realisiertes Novum: Die Wände zu den Klassenzimmern fehlen, bis auf einen L-förmigen Winkel, ebenso die Türen – die Sicht ist unverstellt. Die räumliche Differenzierung erfolgt über diese L-förmigen, gleichschenkligen Wandfragmente, die verschieden gedreht platziert sind und unterschiedlich weit in die Gänge hinein ragen. Mit jedem Schritt in die Tiefe des Schulgebäudes fächert sich der Blick auf, über die offenen Atrien hinweg, in ein ganzes Kaleidoskop von Klassenräumen.
So interessant wie der Aus-, Ein- und Überblick vom Gang erscheint die Tatsache, dass die Klassen auch untereinander visuell in Kontakt stehen. So können sich die einzelnen Schüler nicht mehr allein als Teil einer vierzigköpfigen Gemeinschaft, sondern als Teil der gesamten Schülerschaft begreifen. Aber anders als sich angesichts der vielfältigen, nebeneinander ablaufenden Aktivitäten vermuten ließe, ist die Geräuschkulisse entspannt und gedämpft. Dazu tragen die Akustikdecken und die multifunktionalen Bereiche bei, die zwischen benachbarte Klassenräume eingeschoben sind. Im Erdgeschoss wurde an zentraler Stelle ein solcher Bereich gestreckt, aufgeweitet und mit gestuften Podesten ausgestattet. Damit entstand ein offener hybrider Raum, der sich für Ausstellungen oder Aufführungen ebenso anbietet wie auch für informelle gemeinsame Projekte, in denen Schüler aus verschiedenen Klassen oder aus unterschiedlichen Jahrgängen gemeinsam arbeiten.
Beim Vorbeigehen an den Klassen zeigt sich, dass selbst die rudimentären Wandfragmente noch an vielen Stellen mit großen Öffnungen perforiert sind, durch die sich wie in einem Bilderrahmen das dahinter abspielende Geschehen mitverfolgen lässt. Die Betoninnenwände mit ihrem samtartigen und gleichmäßigen Finish sind Leinwand und Galerie für schulische Aktivitäten. Eingelassene weiße Streifen markieren, wie die Linien eines Notenblatts, die Bereiche, in denen sich die Schüler präsentieren können, mit Schriftübungen, Gedichten und Zeichnungen – und auf denen sie kleine Notizen für ihre Mitschüler hinterlassen können.
Mobiliar auf Tennisbällen
Die Füße von Stühlen, Tischen oder auch Tafeln sind, ebenso originell wie kostengünstig, mit gesponserten Tennisbällen überzogen. So lässt sich das Mobiliar ohne viele Geräusche bewegen. Und bewegt wird viel. Die Klassen suchen und versuchen – je nach Fach, Lehrer, Lehrinhalt – die unterschiedlichsten Anordnungen: Hier frontal, dort kreisförmig, quadratisch, zur Teamarbeit im Dreieck, in einigen Klassen zum Gang orientiert, in anderen nach außen, zu den sanften Hügeln – und an einer Stelle schließlich völlig ohne Mobiliar, lediglich mit Tafel und Bildschirm. Sportliche und musische Aktivitäten rhythmisieren als feste Elemente des Stundenplans den Tag.
Wesentlichen Anteil an der gleichzeitig konzentrierten wie lebendigen Stimmung, die trotz Offenheit auf den zwei Etagen mit knapp 9000 Quadratmetern Fläche zu beobachten ist, hat selbstredend das kulturell geprägte Verhalten zur Schule. Wer Japan bereist, bekommt leicht einen Eindruck davon, wie konsequent bereits Kinder zur gegenseitigen Rücksichtnahme angehalten werden. Man bewegt sich neugierig, und beobachtend, leise und zurückhaltend. Beim morgendlichen Betreten der Schule werden die Schuhe gegen Uwabakis, Filzpantoffeln, getauscht.
Viele Japaner wachsen in urbaner Enge und räumlicher Beschränkung auf, in identitätslosen, immergleichen, renditeoptimierten Wohnblöcken, die kaum nachbarschaftliche Qualitäten aufweisen. Die von den Bauträgern euphemistisch angepriesenen „Mansions“ sind meist anonyme, repetitiv über- und nebeneinander gestapelte Kleinstwohnungen, hinter Stahltüren verborgen und über enge Laubengänge erschlossen. Spielraum für soziale Begegnungen gibt es hier kaum.
Vor diesem Hintergrund wirkt der Schulalltag in Uto wie die überfällige Antithese und ein Experimentarium, um räumlich anders strukturierte Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens und Lernens auszuprobieren. Der Schule kommt der privilegierte Umstand zugute, über ausreichend Platz zu verfügen, um den Grundriss in dieser räumlich entspannten Form – lediglich zwei Stockwerke erstrecken sich über 130 mal 65 Meter – zu realisieren. Der daneben liegende Sportplatz ist genauso groß. In der Enge Tokios beispielsweise wäre ein solcher Entwurf kaum zu realisieren gewesen.
Allerdings scheinen manche Klassen doch einige Mühe mit dem offenen Grundriss zu haben. Dünne, silberfarbene Vorhänge – von den Architekten selbst so nicht geplant – wurden bei unserem Besuch in der Schule an der einen oder anderen Stelle schnell zugezogen.
Möglich wurde der Neubau, weil der Altbau, er war erst 40 Jahre alt, weder den Erdbebenbestimmungen noch den Anforderungen an neue Lehrkonzepte genügte. Der Entwurf, der 2008 als Sieger aus einem Wettbewerb mit 56 Teilnehmern hervorging, ist auch Teil der inzwischen 70 Projekte umfassenden „Kumamoto Artpolis“, einer 1988 in der Präfektur ins Leben gerufenen politischen Strategie zur Förderung kultureller Projekte. In Japan hat die Schule von Uto inzwischen zwei wichtige Architekturpreise bekommen.
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