Bauwelt

Shakespeare-Theater in Danzig


Englische Schauspieler, die im 17. Jahrhundert ihre Brötchen in Danzig verdienen. Ein polnischer Anglist, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Spuren der Truppe erforscht. Ein Architekt aus Venedig, der mit einer verblüffenden Rekonstruktionsidee einen internationalen Wettbewerb gewinnt. Im neuen Shakespeare-Theater von Renato Rizzi kumuliert europäische Kulturgeschichte


Text: Friedrich, Jan, Berlin


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    Das Dach des Intendanz-Gebäudes steht als weitere Open-Air-Bühne zur Verfügung. Die Grundstückseinfriedung dient als öffentlicher Weg, 6 Meter über dem Straßenniveau.
    Stich: © GTS

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    Das Dach des Intendanz-Gebäudes steht als weitere Open-Air-Bühne zur Verfügung. Die Grundstückseinfriedung dient als öffentlicher Weg, 6 Meter über dem Straßenniveau.

    Stich: © GTS

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    Der Saal des Theaters mit der dreigeschossigen hölzernen Zuschauergalerie ist eine Neuinterpretation der Danziger Fechtschule – im 17. Jahrhundert Spielstätte englischer Schauspieler am selben Ort. Renato Rizzi
    hat sogar das archäologisch belegte Achsmaß (2,80 m) übernommen.
    Foto: Matteo Piazza

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    Der Saal des Theaters mit der dreigeschossigen hölzernen Zuschauergalerie ist eine Neuinterpretation der Danziger Fechtschule – im 17. Jahrhundert Spielstätte englischer Schauspieler am selben Ort. Renato Rizzi
    hat sogar das archäologisch belegte Achsmaß (2,80 m) übernommen.

    Foto: Matteo Piazza

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    Blick von der Hinterbühne der Guckkastenbühne auf die elisabethanische Bühne im Zuschauerraum. Dazwischen die zur Hälfte montierte Fassade des „tiring house“, das traditionell den Prospekt der elisabethanischen Bühne bildet.
    Foto: Matteo Piazza

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    Blick von der Hinterbühne der Guckkastenbühne auf die elisabethanische Bühne im Zuschauerraum. Dazwischen die zur Hälfte montierte Fassade des „tiring house“, das traditionell den Prospekt der elisabethanischen Bühne bildet.

    Foto: Matteo Piazza

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    „The fourth stage. The inner stage of each of us“, nennt der Architekt den Blick in den Himmel über dem geöffneten Zuschauerraum

    Foto: Matteo Piazza

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    „The fourth stage. The inner stage of each of us“, nennt der Architekt den Blick in den Himmel über dem geöffneten Zuschauerraum

    Foto: Matteo Piazza

Wiedererrichtung des elisabethanischen Theaters in Danzig: Im Herbst 2004 veröffentlichte die Bauwelt die Auslobung für einen internationalen Wettbewerb dieses Titels. Auslober war die „Fundacja Theatrum Gedanense“, eine Stiftung, die sich stark machte für die Rekonstruktion einer als Theater genutzten Fechtschule, die von der Mitte des 17. bis höchstens zur Mitte des 18. Jahrhunderts am südlichen Rand des Danziger Zentrums stand. Wir werden nicht die Einzigen gewesen sein, die sich damals verwundert die Augen gerieben haben. Wie weit will man es treiben, mit dem Nachbau längst verlorener Bauten? Was war in unsere östlichen Nachbarn gefahren, kaum dass Polen Mitglied der EU geworden ist?
Dann das Wettbewerbsergebnis: eine Überraschung (Bauwelt 8.2005). Der Sieger, der venezi-anische Architekt Renato Rizzi, regte tatsächlich an, die einstige elisabethanische Theaterbühne mit dreigeschossiger hölzerner Zuschauergalerie neu zu bauen. Doch schlug er vor, den rund 600 Zuschauer fassenden Saal wie eine seltene Kostbarkeit in ein „Schatzkästchen“ zu verpacken – in eine fensterlose Hülle aus dunklem Ziegel, gegliedert durch an Strebepfeiler erinnern-de Mauervorlagen. Mit denen nahm Rizzi explizit Bezug auf die gotischen Kirchen der Stadt, allen voran die mächtige Marienkirche, und die Stufengiebel der Wohnhäuser. Auf einer Einfriedungsmauer rund um das Theater sah Rizzi einen öffentlichen Umgang vor, mit neuen Perspektiven über die Stadt in sechs Meter Höhe. Schließlich der Clou des Ganzen: das Dach des Zuschauerraums, zwei Flügel, die sich öffnen lassen, damit man unter freiem Himmel bei Tageslicht spielen kann, wie es sich für eine elisabethanische Aufführung gehört. Ein bemerkenswerter Entwurf, der die bekannten Möglichkeiten, einen Vorgängerbau neu zu interpretieren, um eine so noch nicht gesehene Variante bereicherte. Eine Arbeit also, wie man sie gerne realisiert sähe. Aber, um ehrlich zu sein, wir waren sicher, nie wieder etwas von der Sache zu hören. Eine Fehleinschätzung: Im letzten September ist das Gdański Teatr Szekspirowski, das Danziger Shakespeare-Theater, feierlich eröffnet worden.
Die Geschichte des neuen Theaters beginnt, wie so viele europäische Geschichten, mit Menschen, die ihre Heimat verlassen, um anderswo ihr Glück zu suchen. In diesem Fall sind es eng-lische Schauspieler, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts nach Danzig kommen. Warum sie London den Rücken kehren? Vielleicht sind sie Katholiken, die in England verfolgt werden, vielleicht sind sie arbeitslos, weil sie gegen die zu jener Zeit aufkommenden, billigeren Kinderschauspieltruppen nicht konkurrieren können. Ihre Spuren in Danzig erforscht hat Jerzy Limon, Professor für englische Literatur an der dortigen Uni. Er gründete 1991 die erwähnte Stiftung, für die er den Prince of Wales als Schirmherrn gewann. Im Gespräch mit Limon wird unmissverständlich deutlich, dass seine Absicht, das Theater wiedererstehen zu lassen, nie von dem Gefühl getrieben war, eine „gute alte Zeit“ beschwören zu müssen. Als Anglist war er natürlich begeistert, als er herausfand, dass Danzig die erste Stadt außerhalb Englands war, in der zu Shakespeares Lebzeiten dessen Stücke gespielt wurden. Vor allem aber ging es ihm nach dem Fall des Eisernen Vorhangs darum, jahrhundertealte kulturelle Bezüge Danzigs nach Westeuropa zu betonen – sie wieder aufleben zu lassen und weiterzuführen. Die Stiftung begann damit, jeden Sommer ein Shakespeare-Festival mit Inszenierungen aus ganz Europa zu veranstalten.
Irgendwie gelang es Jerzy Limon – der inzwischen Direktor des Shakespeare-Theaters ist –, die richtigen Leute von seiner Sache zu überzeugen. Die Stadt stellte das Grundstück zur Verfügung, auf dem einst die Fechtschule stand. Es gibt einen Stich von ca. 1650, auf dem der vom Niederländer Jacob van den Blocke geplante Holzbau zu sehen ist. Das Grundstück – auf einem Teil befand sich bis zu ihrer Zerstörung im Mai 1939 die Große Synagoge – war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr bebaut worden. Es gehört zu einem Streifen Niemandsland zwischen den Resten der mittelalterlichen Stadtmauer und einer Schnellstraße aus den 1960er Jahren, die die Stadt jäh durchschneidet. Archäologen von der Danziger Uni fingen an, nach Fundamentresten der Fechtschule zu graben – und wurden fündig.
Renato Rizzi hat sich mit dem Entwurf des Theatersaals ziemlich exakt an die durch die Grabung bekannten Proportionen der Fechtschule gehalten. Der Neubau basiert auf deren Achsmaß von 2,80 Meter. Auch Rizzi hat nicht gedacht, dass sein Theater je gebaut würde. Aus seiner Heimat hat er andere Erfahrungen: „In Italien wären wir nie über das Fundament hinausgekommen“, sagt er bei unserem Treffen im Theater. Auch in Dan-zig war die Realisierung schwierig. Es gab Verzögerungen: weil die Grabungen länger dauerten, weil der ersten Baufirma gekündigt wurde, weil stets unklar war, ob das Geld zusammenkommt; umgerechnet 25 Millionen Euro, vor allem aus EU-Mitteln, hat das Haus schließlich gekostet. Und Rizzi, der lange mit Peter Eisenman zusammengearbeitet hat und an der Uni in Venedig lehrt, ist der erste Italiener, der nach dem EU-Beitritt Polens dort gebaut hat. Er musste erfahren, dass in Polen die Arbeit des Architekten mit dem Entwurf eigentlich getan ist. Das Bauen wird im All-gemeinen als Sache zwischen Bauherrn und Baufirma angesehen. Rizzi hatte die künstlerische Oberleitung des Projekts, was ihm einen gewissen Einfluss sicherte. Aber, so sagt er, im Grunde seien alle Details, vom Öffnungsmechanismus des Daches über die Konstruktion der Zuschauergalerie bis zum in die Wand versenkten Treppenhandlauf, ganz anders, als er sie gezeichnet hat. Erstaunlicherweise sehe das Shakespeare-Theater trotzdem insgesamt so aus wie das von ihm entworfene.
Und so hat die polnische Stadt Danzig ein neues Schauspielhaus, das auf die englische Aufführungspraxis zugeschnitten ist und sich gleichermaßen als klassisches, italienisches Guckkastentheater nutzen lässt. Entworfen von einem Italiener, der sich an dem Vorgängerbau eines Niederländers orientierte, gebaut mit niederländischem Klinker und einem Dachmechanismus aus spanischer Produktion. Ein durch und durch europäisches Projekt.



Fakten
Architekten Rizzi, Renato, Venedig
Adresse Teatr Szekspirowski Wojciecha Bogusławskiego 1 80-818 Gdańsk


aus Bauwelt 10.2015
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