Terrassenhaus Berlin
Brandlhuber+ Emde, Burlon haben mit Muck Petzet Architekten im Berliner Wedding eine programmatische Fortsetzung des Atelierhauses Brunnenstraße gebaut. Setzt das multifunktionale Gebäude neue Impulse in den Debatten um Urbanität, innerstädtisches Wohnen und öffentlichen Raum?
Text: Thein, Florian, Berlin
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Das Terrassenhaus zwischen dem Baugruppenprojekt H6 (Bauwelt 17.2018) im Vordergrund und dem neogotischen Amtsgericht Wedding am Brunnenplatz.
Foto: Schnepp Renou
Das Terrassenhaus zwischen dem Baugruppenprojekt H6 (Bauwelt 17.2018) im Vordergrund und dem neogotischen Amtsgericht Wedding am Brunnenplatz.
Foto: Schnepp Renou
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Hinter der Tiefgarage im Westen tritt die städtebauliche Landmarke aus Brandwand und Freitreppe hervor.
Foto: Schnepp Renou
Hinter der Tiefgarage im Westen tritt die städtebauliche Landmarke aus Brandwand und Freitreppe hervor.
Foto: Schnepp Renou
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Durch das Zurückspringen der unteren Geschosse entsteht ein halböffentlicher, überdachter Vorplatz zur Böttgerstrasse.
Foto: Schnepp Renou
Durch das Zurückspringen der unteren Geschosse entsteht ein halböffentlicher, überdachter Vorplatz zur Böttgerstrasse.
Foto: Schnepp Renou
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Der Bereich hinter dem östlichen Nachbarn, einem klassischen Berliner Altbau, gehört zum Grundstück und soll in Zukunft als Garten genutzt werden.
Foto: Schnepp Renou
Der Bereich hinter dem östlichen Nachbarn, einem klassischen Berliner Altbau, gehört zum Grundstück und soll in Zukunft als Garten genutzt werden.
Foto: Schnepp Renou
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Im Erdgeschoss mit doppelter Raumhöhe ist eine Galerieebene eingezogen – exakt so bemessen, dass sie nicht als Geschoss gilt.
Foto: Schnepp Renou
Im Erdgeschoss mit doppelter Raumhöhe ist eine Galerieebene eingezogen – exakt so bemessen, dass sie nicht als Geschoss gilt.
Foto: Schnepp Renou
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Die Wandversprünge resultieren aus dem Grenzverlauf des Grundstücks.
Foto: Erica Overmeer
Die Wandversprünge resultieren aus dem Grenzverlauf des Grundstücks.
Foto: Erica Overmeer
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Die räumliche Abtrennung erfolgt mittels Gipskarton- oder Seekieferplatten. Die hochporös-mineralische Innendämmung an der Decke ist als begleitende Dämmung ausgeführt und grau verspachtelt.
Foto: Schnepp Renou
Die räumliche Abtrennung erfolgt mittels Gipskarton- oder Seekieferplatten. Die hochporös-mineralische Innendämmung an der Decke ist als begleitende Dämmung ausgeführt und grau verspachtelt.
Foto: Schnepp Renou
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Der über die Dachterrasse geführte Betonkern beinhaltet neben der Überfahrt des Aufzuges auch eine Nasszelle.
Foto: Schnepp Renou
Der über die Dachterrasse geführte Betonkern beinhaltet neben der Überfahrt des Aufzuges auch eine Nasszelle.
Foto: Schnepp Renou
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Erste Begrünungsbemühungen der Mieter.
Foto: Schnepp Renou
Erste Begrünungsbemühungen der Mieter.
Foto: Schnepp Renou
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A Long Way Down – die notwendige Treppe nach DIN 18065 als erster Rettungsweg.
Foto: Schnepp Renou
A Long Way Down – die notwendige Treppe nach DIN 18065 als erster Rettungsweg.
Foto: Schnepp Renou
„Der Wedding kommt“ ist eine in Berlin seit gefühlten Jahrzehnten rezitierte Phrase, die dem Ortsteil im Bezirk Mitte einen unmittelbar bevorstehenden Entwicklungssprung andichtet. Ob der Wedding, dessen wirtschaftlicher wie sozialer Status von der Senatsverwaltung als durchschnittlich niedrig bis sehr niedrig bewertet wird, inzwischen zur Szenelage zählt, ist diskutabel. Der Mythos jedenfalls lebt – zwischen Ex-Rotaprint-Gelände (Bauwelt 24.2016) und dem abgerissenen Kulturzentrum Stattbad. Nun ist hier ein Ateliergebäude entstanden, das bereits durch seine eigenwillige Erscheinung internationale Strahlkraft verheißt.
(K)ein Wohnbau
Die Initiatorin Olivia Reynolds, lange im Londoner Immobilienbereich tätig und seit einigen Jahren Betreiberin des Non-Profit-Kunstraumes LoBe im Wedding, spürte zwischen Fähnchen-Autohändler, Wohnmobilstellplatz und Kletterhalle ein ehemaliges Bahngrundstück auf und trat mit dem Wunsch nach Beplanung an die Architekten Brandlhuber, Emde und Burlon heran. Auf dem Wunschzettel der Bauherrin standen „kreativgewerbliche“ Ateliernutzung, Ausstellungsflächen und Gastronomie, dazu die Förderung von Gemeinschaft und Öffentlichkeit. Das alles unter der Ägide einer Verordnung von 1958, die auf dem Grundstück keinen Wohnungsbau gestattet. Schade eigentlich. Bemerkenswerterweise jedoch schreibt die gebaute Antwort der Architekten dem Haus, neben den genannten Anforderungen, eine Wohnnutzung geradezu strukturell ein. Auch der Brandschutz und die Energieeinsparverordnung sind in allen Punkten für einen Wohnungsbau eingehalten. Dadurch drängt sich die eigentlich nicht statthafte Zweckentfremdung geradezu auf. Inwiefern hier neben der Arbeit auch geschlafen, gekocht, geliebt und gelebt wird, bleibt natürlich eine individuelle Entscheidung der Mieter.
Die Lust am Zwang
Der monumentale Betonberg, der sich zwischen S-Bahn-Gleisen und der sanft ansteigenden Böttgerstrasse erhebt, verweigert sich Bewertungskriterien die auf Ästhetik im klassischen Sinne abzielen. Die Proportionen sind weder vom goldenen Schnitt noch einer Säulenordnung abgeleitet. Auch edle Materialien sucht man vergebens. Hier ist, bei minimalem (Kosten-) Aufwand der maximale Raum das Ziel gewesen. Raum in Reinform oder, wie die Architekten sagen, veredelter Rohbau.
Leichtbauwände aus Gipskarton- und Seekieferplatten teilen die Geschosse im Innern in jeweils vier durchgesteckte Nutzungseinheiten, die sich raumhoch verglast nach Nordosten und Südwesten öffnen. Die Einheiten selbst sind ohne trennende Wände offen gestaltet. Eine grobe Zonierung ergibt sich lediglich durch Raumtiefen zwischen elf und sechsundzwanzig Metern, die im eher lichtarmen Zentrum eine Bildschirmarbeitsplatznutzung nahelegen. Zwei Betonkerne nehmen Installationsschacht und Nasszellen auf und erschließen per Aufzug jeweils zwei Einheiten. Die Haupterschließung jedoch erfolgt über zwei imposante Außentreppen auf der Rückseite, die die Stockwerke über die ihnen vorgelagerten Terrassen verbinden. Mit über sechs Metern nutzbarer Tiefe schließen diese über raumhohe Schiebetüren unmittelbar an den Innenraum an. Im Erdgeschoss mit doppelter Raumhöhe und eingezogener Galerieebene finden eine größere Büroeinheit, Gastronomie und ein Kunstraum Platz.
Im Gegensatz zur artverwandten flandrischen Schule mit ihrer nonchalant-farbenfrohen Einfachheit, bricht sich beim Terrassenhaus das Rohe als brachiales Statement aus WU-Beton Bahn. Den unter der harten Schale verborgenen Reiz zu erspüren erfordert eine Lesart, die auf ein wiederkehrendes Motiv im Werk von Brandlhuber+ verweist – die konsequente Methodik im Umgang mit Regelwerk. Auch beim Terrassenhaus scheint jede Entscheidung auf dem Verständnis und der Anwendung von Baurecht zu fußen. Beim Ausloten des Interpretationsspielraums geht es aber nicht um Geschmacksfragen, sondern um die räumliche Optimierung hinsichtlich Großzügigkeit, Kosten und möglicher Aneignung. Schon die Kubatur des Terrassenhauses zeigt die Abhängigkeit von Regel und Gestalt. Die extrem tiefen Grundrisse begründen sich im §34 des Baugesetzbuches und seinem Verweis auf die Eigenart der näheren Umgebung- der direkte Nachbar, ein U-förmig um einen Innenhof angelegter, typischer Berliner Altbau, gibt die Gebäudetiefe vor. Die dann in den unteren Geschossen zurückspringenden Fassaden reduzieren die fast vierzig Meter Tiefe einerseits auf ein nutzbares Maß, erzeugen gleichzeitig aber auch einen überdachten, halböffentlichen Vorplatz an der Straßenseite. Die als geschlossen vorgegebene Bauweise ermöglicht eine maximale Grundstücksausnutzung durch eine Grenzbebauung mit Brandwand, deren deutlich ablesbaren Versprünge vom nicht geradlinigen Grenzverlauf vorgegeben sind. Die Geschosshöhen und die Gebäudehöhe resultieren schließlich aus den beiden markanten Außentreppen, die wiederum exakt den Vorgaben der DIN 18065 für baurechtlich notwendige Treppen entsprechen.
Das Private ist politisch
So sehr aus jeder Betonpore das Gesetz atmet, so sehr geht das Terrassenhaus an anderer Stelle auf maximale Distanz zu gängiger Praxis und Lehrmeinung. Optisch vermeintliche Problemstellen wie ganz pragmatisch sichtbare Leitungsführung hinter der Glasfassade sind nicht wegdetailliert, sondern so offensiv appliziert, dass es zartbesaiteten Planerseelen die Tränen in die Augen treiben dürfte. Die unter den Terrassen als Begleitdämmung ausgeführte, mineralische Innendämmung ist lediglich so weit in den Raum geführt wie bauphysikalisch nötig und endet auch genau dort mit sichtbarer Kante. Weder Dach noch Terrassen haben eine zusätzliche Entwässerung, sondern lassen das Wasser einfach über die leicht geneigten Flächen kaskadenartig in eine Sammelrinne im Erdgeschoss fließen.
Auch die Differenzierung öffentlicher, halböffentlicher und privater Bereiche weicht erheblich von gewohnten Standards ab. Das Terrassenhaus provoziert eine Nähe, die man entweder will oder lernen muss. Durch den Verzicht auf ein straßenseitig zugängliches, geschlossenes Treppenhaus und die nur mit Schlüssel zu nutzenden Fahrstühle erzwingt die Architektur eine Verschaltung der Außenbereiche. Sämtliche Terrassen und die Dachfläche sind öffentlich zugänglicher Raum, was permanente Verhandlung erfordert. Besucher des Yoga-Studios im ersten Obergeschoss binden so für die Dauer ihres Besuchs ganz selbstverständlich ihre Hunde auf der Terrasse an und das Dach mit wunderbarem Rundumblick dient wiederholt der Kiezjugend als Treffpunkt. Zudem sind die Terrassen nicht parzellenweise abtrennbar, da sie Teil des Fluchtweges zwischen den beiden Treppen sind. So entfacht die grobe Zonierung durch Pflanzkübel seitens der Nutzer einen begrüßenswerten Begrünungswettbewerb. Zumindest ein schmaler Streifen von privatem Außenraum kann durch Zuziehen der schweren Vorhänge aus Geotextil erzeugt werden. Die silberbedampften Stoffe dienen dem Sonnenschutz und sind nur von innen leicht durchsichtig.
Heroin chic oder Role model?
Die Architektur des Terrassenhauses stellt homogene Nutzungszuweisungen à la Flächennutzungsplan in Frage und schafft Möglichkeitsraumfür Lebensformen, denen die Trennung von Arbeiten und Wohnen fremd ist und deren Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem fließend verläuft. Auch lässt sich am Haus erörtern, wie viel oder wie wenig Ausbaustandard tatsächlich nötig ist. Der aktuellen, innerstädtischen Bebauung wünscht man, dass das Atelierhaus als Agent Provocateur den ein oder anderen zum zivilen Ungehorsam anstiftet.
Durch das Haus weht aber auch der Wind von urbanem Glamour, hier kondensieren soziale Prozesse der kreativen Klasse. Tatsächlich ist trotz brutalistischer Anarcho-Attitude ein Gewächshaus für Monokultur entstanden. Längst ist das Ruppige gesellschaftsfähig, gar zur erwartbaren Kulisse einer elitären Nutzerschaft geworden, die sich ins raue Umfeld integriert wie ein Wärmedämmverbundsystem. Stellt sich die Frage, ob diese Klientel dem Typus Atelierhaus immanent ist oder ob er auch für eine breitere, heterogenere Nutzerschaft erschließbar wäre. Von der Brunnenstraße mit Bauherr und Architekt in Personalunion zum Terrassenhaus mit externer Bauherrschaft hat es fast zehn Jahre gebraucht. Bleibt zu hoffen, dass eine Architektur, der eine Nutzerheterogenität räumlich eingeschrieben ist, nicht so lange auf sich warten lässt.
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