Bauwelt

Wohnblock von BIG


Die „8“ als Versprechen


Text: Ballhausen, Nils, Berlin


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    Jens Lindhe

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Die Ørestad-Trilogie der BIG – Bjarke Ingels Group ist komplett: Der dritte Teil wirft die Frage auf, wie ein Superblock die Beziehung von öffentlichem und privatem Raum neu ordnen kann und die Stadt davon profitiert. 
Der größte private Wohnungsbau Dänemarks liegt – von der Innenstadt Kopenhagens aus betrachtet – am Ende der Welt, nämlich am südlichen Rand des Stadtentwicklungsquartiers Ørestad. Dank der neuen Metrolinie und ihrer Endstation „Vestamager“ schnurrt diese Entfernung allerdings auf zwölf Minuten zusammen. Die schnurgerade Hochbahn mit fahrerlosem 24-Stundenbetrieb lässt diesen Ort überhaupt erst denkbar erscheinen. Es bleibt die gedankliche Distanz zu diesem von Witzbolden hin und wieder als „Ødestad“ titulierten Gebiet: Amager, die spröde Insel im Süden, wird von den Hauptstädtern eher mit Viehhaltung in Verbindung gebracht.
Zwischen Airport und Land’s End
Zum städtebaulichen Konzept von Ørestad gehört die dichte Nachbarschaft von Wohnungs- und Bürobauten, nicht im Sinne einer Durchmischung, sondern als ein Nebeneinander großer Baukörper. International gängige Architektur ist so entstanden, Aufmerksamkeit jedoch zogen die Wohnungsbauten auf sich, an denen der Architekt Bjarke Ingels beteiligt war. Nach den beiden VM-Häusern (Bauwelt 27.2006) – noch unter dem Büronamen PLOT zusammen mit Julien de Smedt realisiert – und dem preisgekrönten „Berg“ (Bauwelt 26.2008) wird dieser Tage das „8-Haus“ fertiggestellt. Erneut ein spek­takuläres Bauwerk, das sowohl Begeisterung als auch Entsetzen hervorzurufen vermag.
Und das vor allem wegen seiner Größe: 476 Wohnungen mit einer Gesamtfläche von etwa 50.000 Quadratmetern. Die Skeptiker sehen hier den spätmodernen Großwohnungsbau aus der Schublade wiederauferstehen, aber die „8“ ist kein kommunaler Sozialwohnungsbau, sondern ein privates Invest­ment, das sich durch den Verkauf der Eigentumswohnungen und die Vermietung der darunter geschobenen 10.000 Quadratmeter Gewerbefläche rechnen muss. Laut Masterplan hätten Wohnen und Arbeiten auch auf diesem Baufeld in zwei ­separaten Blöcken untergebracht werden sollen. Aber wie schon beim „Berg“, jenem Zwitter aus Parkhaus und Terrassenhaus etwas weiter nördlich, hat das Büro BIG auch beim 8-Haus unterschiedliche Typologien miteinander verschmolzen. Folgt man einer Präsentation von Bjarke Ingels, der zweifellos auch ein geschickter Entertainer ist, so glaubt man leicht, dass sich diese verdrehte, geknickte, hier aufgebockte und da abgesenkte Schichttorte auf 8-förmigem Grundriss ganz zwangsläufig ergeben musste. Böswillige könnten behaupten, hier sei zur Entwicklungsleistung erklärt worden, was doch architektonisches Allgemeingut ist: dass Büros und Läden am besten straßennah liegen, dass für Wohnungen Sonne und Ausblick zählen. Was also ist das Besondere am ­
8-Haus – außer seiner Größe?
Die Extremlage an der Südspitze der Stadt hat den Vorteil, dass der ehemals militärisch genutzte, heute aber geschützte Naturraum des Kalvebod Fælled direkt vor der Tür liegt, eine flache Wiesenlandschaft, unterbrochen von Wald- und Wasserflächen; sie reicht bis zum Deich. In die andere Richtung sind es nur wenige Minuten bis zum Flughafen Kastrup und zur Einfahrt in die Öresundbrücke. Durch die Weite wirkt das Gebäude noch größer, als es schon ist, zumal auch die unmittelbare Nachbarbebauung – abgesehen von einem Wohnblock im Osten – noch fehlt. Der Projektentwickler Per Høpfner, für den die Architekten bereits ihre anderen Ørestad-Wohnbauten realisiert hatten, war 2007 der Erste, der in diesem südlichen Abschnitt zu bauen anfing. Er zog sich später allerdings aus dem Finanzierungskonsortium zurück, weil der Verkauf der „Berg“-Apartments durch die Finanzkrise ins Stocken geriet. Anfang dieses Jahres war Høpfner insolvent. Seine Anteile am 8-Haus hatten die ko-finanzierenden Partner übernommen, Høpfners Firma behielt die Projektsteuerung, was der Baustelle Kontinuität sicherte. Der Vorgang ist deswegen erwähnenswert, weil sich ein Notverkauf des Projekts empfindlich auf die Gestaltung hätte auswirken können. Im Büro BIG erinnert man sich schaudernd an Gespräche mit Managern der HSH-Nordbank, die dem Gebäude noch in der Bauphase kurzerhand zwei Geschosse wegsparen wollten (Am Ende betrugen die Baukosten 92 Millionen Euro). Dank der stabilen Bauherrschaft mussten die Architekten schließlich nur auf die Graseindeckung der Flachdachpartien sowie auf die Dachgärten der obersten Wohnungen verzichten – bedauerlich, aber verschmerzbar. Das Grasdach der beiden gewaltigen Schrägen, das den Übergang von der Landschaft zur Stadt illustriert, konnte gehalten werden. 
Modernisierte Kartoffelreihe
Über dem verglasten, bis zu dreigeschossigen Gewerbesockel sind 125 verschiedene Grundrisstypen aufgestapelt worden, und das in drei Schichten: unten zweigeschossige Reihenhäuser, in der Mitte Wohnungen, obenauf doppelgeschossige Penthouses, die sich allerdings ohne den Dachgarten nur mehr durch ihre Höhenlage von den Reihenhäusern da unten unterscheiden. Zu diesen insgesamt 150 Einheiten fühlten sich die Architekten von einer Werkssiedlung im Kopenhagener Stadtteil Østerbro inspiriert, die der Architekt Frederik Christian Bøttger um 1880 für Werftarbeiter errichtet hatte. Seine 480 Klinker-Reihenhäuser, wegen ihrer parallelen Zeilenanordnung im Volksmund kartoffelrække (Kartoffelreihe) genannt, gehören heute zu den begehrtesten Wohnimmobilien in der Stadt. Ein typisches Element dieser „Kartoffelreihen“-Siedlung sind die Vorgärten, die als halböffentliche Zone den Wohnraum von der Straße scheiden. Bjarke Ingels hat diese Typologie konsequent in den Großblock übersetzt, in­dem er allen Maisonette-Wohnungen – denn nichts anderes sind diese „Reihenhäuser“ – eine knapp drei Meter breite Fußgängerrampe vorsetzt, die mal an der Innenkante, mal an der Außenkante entlang bis hinauf zu den Penthouses führt und von dort wieder hinab. Baurechtlich dient sie als Fluchtweg, sie kann aber viel mehr leisten: als Spielstraße, als Promenade, als Joggingparcours. Die Vorstellung, mit dem Fahrrad bis in die zehnte Etage hinauffahren zu können, ist faszinierend. Es sind solche Bilder, die ein wagemutiges Projekt wie die „8“ über alle Hindernisse hinwegtragen.
Ob das letztlich aber alles so funktioniert wie geplant, hängt von den künftigen Bewohnern ab. Werden sie es dulden, dass auch „Fremde“ vor ihren Eigenheimen auf und ab gehen? Werden sich überhaupt genügend Käufer finden, die sich auf dieses bemerkenswerte Wohnexperiment einlassen? Wie werden sie mit der Dichte umgehen, wenn tatsächlich einmal über tausend Menschen hier wohnen werden? Die Grundrisse jedenfalls halten sowohl Geradliniges als auch Fantastisches mit bis zu dreigeschossigen Verschachtelungen bereit (www.8tallet.dk). Hier und da steht zwar eine Stütze im Weg, auch sacken an wenigen Stellen Decken konstruktionsbedingt auf zwei Meter ab, doch werden solche Umstände meist durch einen unmittelbar zugeordneten Freiraum kompensiert. Zu den interessantesten Wohnungen gehören sicherlich die unter den beiden Grasschrägen sich abtreppenden Maisonettes. Bewohner mit herkömmlicher Möblierung dürften es überall recht schwer haben, zumal auch auf Einbauschränke verzichtet wurde. Die Innenausstattung ist weniger aufwendig geraten als noch im „Berg“, das in Dänemark traditionell geschätzte Edelholz sieht man hier nur an Fenstern und Türen, die sparsamen Vorgartentaschen sind gepflastert, Trennwände bleiben sowieso Eigentümersache.
Was bei den Wohnungen eingespart wurde, schlugen die Architekten den Gemeinschaftsflächen zu, womit nicht die beiden Höfe gemeint sind, deren Oberflächen eher dekorativ denn funktional gestaltet sind. Im Schnittpunkt der „8“ wurden auf insgesamt 500 Quadratmetern eine Kindertagesstätte, ein Veranstaltungssaal, Gästewohnungen, ein Partyraum mit Küche und Dachterrasse angelegt, alles verknüpft mit einem beeindruckenden Fluchttreppenhaus nach Piranesi-Manier. Unten kreuzt sich die interne Rampenschleife mit dem öffentlichen Weg, der das Gebäude in Ost-West-Richtung durchquert und die beiden neuen dreieckigen Stadtplätze verbindet. Auf diese Weise provoziert der Zauberlehrling Bjarke Ingels mit der „8“ jene „Bigness“, die sein alter Meister Rem Koolhaas vor 15 Jahren einmal postuliert hat, um Architektur in Stadt zu transformieren. Und der Komplexität in Ørestad-Syd kann es gewiss nicht schaden, wenn die Käufer noch eine Weile ausbleiben und stattdessen zunächst einmal Mieter in das 8-Haus einziehen würden.



Fakten
Architekten BIG – Bjarke Ingels Group, Kopenhagen
Adresse Richard Mortensens Vej 61, 2300 Copenhagen, Denmark


aus Bauwelt 42.2010
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