Bauwelt

Der Ausnahmezustand

Proteste in der Türkei

Text: Tan, Pelin, Istanbul

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Der Ausnahmezustand

Proteste in der Türkei

Text: Tan, Pelin, Istanbul

Die Frage der Stadterneuerung ist in der Türkei nicht nur der Auslöser für die Proteste im Juni, sondern ein  tiefgreifendes politisches Problem. Mit rücksichtslos durchgesetzten Bauprojekten demonstriert Ministerpräsident Erdog˘an seine Macht. Die Bevölkerung nimmt das nicht länger hin.
Die Türkei werde aufgrund der vielen neuen städtischen Großprojekte stärker religiös oder islamisch – dieses Argument taucht seit einiger Zeit immer wieder in den Medien auf. Doch es verhält sich umgekehrt: Durch den konservativen und autoritären Druck der Regierung Erdog˘an, der das alltägliche Leben prägt, segregiert die Gesellschaft immer weiter und widmet sich dem Konsum, nicht der Religion. Die neoliberale Stadtplanung, die in der Türkei vorherrscht, unterscheidet sich dabei nicht von staatlichen Planungen in anderen Ländern der Welt. Auch anderswo gibt es zentralisierte Wohnungsbaugesellschaften wie die TOKI˙, die mit billigen und schlechten Wohnungen die Bauindustrie befeuert, auch in anderen Städten heißt Stadtentwicklung vor allem, kommerzielle Großprojekte von oben nach unten durchzusetzen.
Unter dem Deckmantel der Stadterneuerung
In den vergangenen Jahren hat der türkische Staat durch eine straffere Zentralverwaltung seine „Gouvernementalität“ und die Kontrolle über Benutzung, Gestaltung und Entwicklung des öffentlichen Raumes massiv verstärkt. Der türkische Staat regiert und rechtfertigt sich dabei durch das Gesetz der Ausnahme. Vor allem seit dem 2005 in Kraft getretenen Gesetz zur Stadterneuerung (No. 5366) hat der großflächige Stadtumbau in Istanbul an Fahrt aufgenommen. Das Gesetz erlaubt der Stadtverwaltung die sofortige Enteignung von Haus- und Grundbesitz, auch in der historischen Altstadt. Ursprünglich war es für den Kriegsfall oder das Agieren nach Naturkatastrophen beschlossen worden. In der Praxis wird das Gesetz dazu benutzt, Platz für neue Bauprojekte wie Shopping Malls und Luxuswohnungen zu schaffen. Es wird als Werkzeug verwendet, um auf quasi legale Weise jegliche von der Stadtverwaltung angeordnete Maßnahme, wie etwa die Umsiedlung von Bewohnern in die Randbezirke, zu rechtfertigen. In der ersten Dekade dieses Jahrhunderts konnte man in Istanbul Zeuge werden, wie unter dem Deckmantel der „Stadterneuerung“ großflächiger Kahlschlag und großmaßstäblicher Neubau stattfand, gerechtfertigt durch vermeintliche Gefahren (Terrorismus, Erdbeben) und vorgeschobene Diskurse (Ökologie, Rekonstruktion des kulturellen Erbes). Die Istanbuler Architekten- und Planerkammer ist in vielen Fällen gegen das Vorgehen der Stadtverwaltung vor Gericht gegangen, um die Öffentlichkeit auf den Missbrauch dieses und vieler anderer Gesetze aufmerksam zumachen.
Der Widerstand im Gezi-Park
Warum sind nun ausgerechnet der Gezi-Park und der Taksim-Platz zum Ort des Widerstands geworden, zu einem Ort, an dem die Zivilgesellschaft sich selbst erfährt? Nicht erst seit dem 28. Mai 2013 gibt es Konflikte zwischen der Öffentlichkeit und der Stadtverwaltung. Der Druck hat sich aufgebaut über die letzten Jahre. In den vergangenen acht Monaten ist es mehrmals zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Bereits im April zerschlug die Polizei die Demonstration gegen den Umbau des traditionsreichen Emek-Theaters, einem Jugendstilbau an der Fußgängerzone I˙stiklal, mit Tränengas und Wasserwerfern. Gegen den Abriss des Atatürk-Kulturzentrums (AKM) am Taksim-Platz wird schon seit 2006 demonstriert: Das 1969 von Hayati Tabanlıog˘lu erbau- te Kulturzentrum und Opernhaus ist ein Vorzeigebau der türkischen Moderne und steht unter Denkmalschutz.
Trotz aller Proteste begannen Ende 2012 die Baumaßnahmen am Taksim-Platz: Die Stadtverwaltung riegelte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Teile des Platzes und des Gezi-Parks mit Barrikaden ab, um die Rekonstruktion einer osmanischen Kaserne vorzubereiten, in der ein weiteres Einkaufszentrum entstehen sollte (vor dem Bau der Kaserne befand sich an der Stelle ein armenischer Friedhof). Eine rechtliche Grundlage dafür gab es nicht. Seither wurden viele Veranstaltungen und Diskussionsrunden organisiert, Historiker und Architekturkritiker wiesen immer wieder darauf hin, dass der Taksim-Platz der wichtigste öffentliche Raum Istanbuls ist, an dem Angehörige verschiedener Gesellschaftsschichten zusammenkommen – und natürlich ein symbolischer Ort der Arbeiterbewegung, da dort traditionell die Kundgebungen zum Tag der Arbeit stattfanden. In diesem Jahr hat die Stadtverwaltung alle Zugänge zum Platz gesperrt und so die Kundgebung verhindert, zum großen Ärger der Öffentlichkeit. Der jüngste Entwurf für den Taksim-Platz sieht zwar auch einen noch Platz für große Versammlungen vor, allerdings streng überwacht. Die Shopping Mall ist zahlungskräftigen Kunden vorbehalten.
Segregation ist ein Werkzeug, dass die Regierung oft benutzt: Die Öffentlichkeit wird aufgeteilt nach Religion, Herkunft und Geschlecht und lässt sich so effektiver kontrollieren. Wie der Istanbuler Architekt Ömer Kanıpak festellte, ist eine Planung wie diese, die von der Regierung und dem Präsidenten persönlich betreut wurde, eine effektive Machtdemonstration. Ein Referendum, wie es Erdog˘an während der Proteste Anfang Juni den Demonstration halbherzig angeboten hat, ist eine Farce: Wie soll die Öffentlichkeit an einem Projekt beteiligt werden, gegen das noch vor Gericht geklagt wird? Soll man bei einem illegalen Projekt mitbestimmen? Die Proteste gehen auch nach der brutalen Räumung des Platzes am 15. Juni weiter, jeden Abend kommen Menschen zusammen. Die kollektive Energie bleibt erhalten und mündet derzeit in eine „urban grassroots democracy“ in Istanbul.
Was hat das mit Stuttgart 21 zu tun?
Kann man die Gezi-Park-Bewegung nun vergleichen mit anderen Aufständen wie auf dem Syntagma-Platz, dem Tahrir-Platz oder mit Bewegungen wie Stuttgart 21? Die Welt nimmt seit etwa fünf Jahren intensiv Anteil daran, wie städtische Zentren zu Orten gesellschaftlicher Aufstände werden. Die Besetzung von Parks und Plätzen als Kapitalismuskritik und Protest gegen autoritäre Regierungen erweist sich, wie schon in den sechziger Jahren, als das einzige konkrete Mittel, um gemeinschaftlich Politik zu machen. „Die Neuerfindung der Stadt hängt unvermeidlich damit zusammen, dass die Gemeinschaft Macht über den Prozess der Stadtentwicklung ausübt“, schreibt David Harvey (Bezug nehmend auf Henri Levebres „Revolutionäres Moment“) in seinem 2012 erschienenen Buch „Rebel Cities“. „Es gibt eine Sehnsucht nach der Wiederherstellung städtischer Zentren, die derzeit aufflammt, und weitreichende politische Effekte hat.“ Im Gezi-Park wird eine Öffentlichkeit sichtbar, die sich ungeachtet politischer und religiöser Differenzen den Stadtraum zurückerobert. Die Heterogenität der Teilnehmer, der passive Widerstand gegen die Polizei und das Bewusstsein, etwas Alltägliches wie einen Park einzufordern, hat viele Gemeinsamkeiten mit Bewegungen wie Stuttgart 21 oder den Protesten gegen die Atomenergie in Japan, lange nach Fukushima. In Istanbul speist sich die Gemeinschaft aus vielen lokalen Initiativen, aber auch die türkische Anti-Atom-Bewegung ist dabei und die Architekten- und Planerkammer, die gegen Kahlschlag und autoritär durchgeboxte Projekte wie die dritte Brücke über den Bosporus und den ökologisch irrsinnigen Kanal zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer kämpft. Bei aller Unterschiedlichkeit ist allen gemein, dass sie von der Regierung fordern, an Entscheidungen beteiligt zu werden. Eine Bürgerschaft formiert sich. Es gibt die Hoffnung, dass gemeinsame Aktionen zu einer radikalen Veränderung führen. Anfang Juli wurde bekannt, dass das Projekt am Gezi-Park gerichtlich gestoppt wurde: Die Richter bemängelten, dass die Anwohner nicht ausreichend in die Planung einbezogen worden seien.
Übersetzung aus dem Englischen: Doris Kleilein

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