In der Herzkammer von Paris
Bisher hat noch kein französischer Präsident sein Amt verlassen, ohne für Paris ein großes architektonisches Projekt zu entwickeln. Kulturelle Visionen sind nicht mehr en vogue. Doch der Eindruck täuscht. Fast unbemerkt hat jetzt der Architekt Dominique Perrault für François Hollande ein Konzept entwickelt, das die Île de la Cité – den innersten Kern von Paris – von Grund auf umkrempelt.
Text: Geipel, Kaye, Berlin
In der Herzkammer von Paris
Bisher hat noch kein französischer Präsident sein Amt verlassen, ohne für Paris ein großes architektonisches Projekt zu entwickeln. Kulturelle Visionen sind nicht mehr en vogue. Doch der Eindruck täuscht. Fast unbemerkt hat jetzt der Architekt Dominique Perrault für François Hollande ein Konzept entwickelt, das die Île de la Cité – den innersten Kern von Paris – von Grund auf umkrempelt.
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Der Wahlkampf bei den französischen Nachbarn, der am Sonntag entschieden wird, hatte eine offensichtliche Lücke, Kulturpolitik spielte keine Rolle mehr. Wenn von Kultur die Rede war, dann mit dem Verweis aufs Grundsätzliche in Zusammenhang mit der aktuellen „crise identitaire“. Es ging um Herkunft und Wurzeln oder um Vielfalt der Kulturen, – je nach Couleur. Vorbei scheinen auch die Zeiten, in denen französische Staatspräsidenten sich mit einem extragroßen Bauvorhaben für die Hauptstadt aus der politischen Arena verabschieden – einem Projekt, das das französische Selbstbewusstsein in einem architektonischen oder städtebaulichen Kraftakt auf den Punkt bringt.
Die Liste ist lang: Georges Pompidou und das Centre Beaubourg, François Mitterrand und die Très Grande Bibliothèque, Jacques Chirac und das Musée Quai Branly, Nicolas Sarkozy und das weit in die Peripherie ausgreifende Konzept einer Runderneuerung von „Grand Paris“. Groß bis maßlos im Anspruch waren sie alle, und von jenseits des Rheins konnte man auf dieses unverblümte Selbstbewusstsein schon mal eifersüchtig sein. Wenn François Hollande jetzt am Sonntag seinen Platz im Elysée verlässt, wird er kein solches „Grand Projet“ hinterlassen. Das überrascht. War er so bescheiden? Nein. Fast unbemerkt hat er eine Idee auf den Weg gebracht, die – würde sie denn realisiert – mindestens so ambitioniert wäre wie die seiner Vorgänger.
Man musste hinabsteigen in den Untergrund der Conciergerie auf der Île de la Cité, wo vor mehr als 200 Jahren die Gefangenen der französischen Revolution eingekerkert waren. Dort unten, in der prächtigen gotischen Salle des Gens des Armes, dem Saal der Bewaffneten, stellten bis Ende April der Architekt Dominique Perrault und Philipe Belaval, Chef der französischen National-Denkmäler, ein Projekt vor, für das sie von Hollande eine Art Freibrief bekommen hatten: die Seine-Insel Île de la Cité, die für viele nur der Fleck ist, auf dem sich die Kathedrale Nôtre-Dame und die Kirche Sainte-Chapelle befinden, zu einem zusammenhängenden öffentlichen Raum zu transformieren. Das Projekt, bestehend aus 35 Interventionen, ist so anspruchsvoll, dass sich die Erweiterungen und Umbauarbeiten auf der Berliner Museumsinsel im Vergleich zurückhaltend ausnehmen. Die Île de la Cité ist so etwas wie die vergessene Mitte der französischen Metropole. Bisher ist sie nichts weiter als ein totes Stück Stadt, das man im Schnellschritt überquert, um auf die jeweils andere Seine-Seite, also „Rive Gauche“ oder „Rive Droite“ zu kommen. Eine Ausnahme bilden nur die 14 Millionen Besucher von Notre-Dame, die eine Million von Sainte-Chapelle und einige wenige, die sich zu den kleinen Parks an den spitzen Enden der Insel begeben. Große Teile der herausragenden Architektur aus den letzten Jahrhunderten sind von staatlichen Funktionen belegt. Selbst der Palast der Conciergerie ist nur zu einem kleinen Teil der Öffentlichkeit zugänglich, der andere dient dem Justizpalast. Dies wird sich in absehbarer Zeit ändern. Renzo Piano baut einen gestapelten Glasturm im 17. Arrondissement, in den im nächsten Jahr die Beamten des Justizministeriums umziehen werden.
Was haben Dominique Perrault und sein Mitstreiter Philipe Belaval vor? Der gesamten Insel soll eine komplett neue Erschließung eingezogen werden. Die historische Architektur der Insel wird quasi ein neues Schiffsdeck und einen -rumpf bekommen, mit einer teils unterirdischen Infrastruktur aus glasgedeckten Passagen, begrünten Wandelgängen, Restaurants, Konzertsälen, einem Schwimmbad, einer archäologischen Krypta und flottierenden Plattformen wie in Venedig. Erinnert die Schiffsmetapher des Netzwerks an den Metabolismus der Sechziger Jahre, so sind die immer wieder aus dem Untergrund nach oben stoßenden öffentlichen Plätze mit ihren goldfarben ziselierten Glaskonstruktionen längst zu einem Markenzeichen von Dominique Perrault geworden. Schon seit Jahren sieht er die Verantwortung der städtischen Architektur im Nachdenken über neue öffentliche Verknüpfungen, die dann gerne auch das Souterrain der Stadt mit in Beschlag nehmen und wie eine Schatzkammer ausleuchten. Sein vielleicht schönster Bau, der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (35.2008) ist so konzipiert, und jüngst hat er auf diese Weise den Pavillon Dufour im Schloß von Versailles neu gestaltet.
Das Projekt für die Île de la Cité fasziniert, selbst wenn offensichtlich ist, dass die Umsetzung kaum aus der Staatskasse zu bezahlen ist. Wenn es je zu einer Umsetzung kommen sollte, würde eine neue Mitte entstehen, die das Spektakel der ehemaligen Markthallen – des einstigen „Bauchs von Paris“ – mit dem Glanz unterirdischer Grabstätten und einem Schuss Las Vegas kombiniert. Sicher ist allerdings auch: das Ganze ist bisher kaum mehr als eine verrückte Idee. Über die Kosten schweigt man sich aus, viele Milliarden werden es sein. Mitfinanziert werden soll der Umbau von den vielen Eventlocations und Restaurants, die wie Schießscharten aus den Inselmauern auf die Seine blicken. Ein abenteuerliches Konzept. Realistisch scheint da nur der Zeithorizont für die Realisierung der „Mission Île de la Cité“, die weit in der Zukunft liegt: im Jahr 2040, dann wird Architekt Perrault knapp 90 sein. Zur Zeit jedenfalls scheint niemand bereit für ein hochfahrendes Projekt des unbeliebten und jetzt abgetretenen François Hollande den Finger zu heben.
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