Bauwelt

Neues Kloster und Besucherzentrum


Der Disput um Ronchamp


Text: Ingersoll, Richard, Montevarchi


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    Foto: Iwan Baan

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    Foto: Michel Denancé

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In unmittelbarer Nähe der Kapelle in Ronchamp von Le Corbusier wurden im September die Neubauten von Renzo Piano eröffnet. Sie werden von einer kleinen Gruppe von Nonnen des Ordens der Klarissen und von den Besuchern der Kapelle genutzt. Kommt nun, nach dem langjährigen Streit um diese Neubauten, der abgelegene Ort wieder zur Ruhe?
Die Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp, von Le Corbusier 1955 erbaut, gehört zu den wenigen allgemein anerkannten Meisterwerken der Architektur des vergangenen Jahrhunderts. Für William Curtis ist es sogar „ein Gebäude, dessen geheimnisvolle Räumlichkeit in der Moderne unvergleichlich ist“. Als Renzo Piano vor fünf Jahren den Auftrag erhielt, einige Erweiterungsbauten in der Umgebung der Kapelle zu planen, erhob sich ein Sturm der Entrüstung über Ronchamp. Die Fondation Le Corbusier setzte, unterstützt von prominenten Architekten und Historikern, eine hitzige Kampagne in Szene, um die Neubauten zu verhindern, weil sie einen Affront gegen eine Stätte darstellten, die nach ihrer Meinung in alle Ewigkeit als ein Erbe der Moderne bewahrt werden sollte. Der heftige Widerstand gegen das Projekt veranlasste Piano zu mehreren Änderungen an seinem Entwurf, insbesondere wurden die Neubauten gegenüber der ursprünglichen Planung von der Südfassade der Kapelle weiter abgerückt. Jetzt, da die Gerüste vor Pianos Flachbauten entfernt sind und das Kloster anlässlich des alljährlichen Pilgerfests am 8. September eröffnet wurde, fragt man sich verwundert, was denn eigentlich der Ge­genstand der Kontroverse war. Der Konflikt wirkt so verzwickt und unverständlich wie die Dispute mittelalterlicher Theologen über die jungfräuliche Geburt Mariä. Le Corbusier, ein Humanist ohne religiöse Bindungen, hatte seinem Projekt eine ursprüngliche pantheistische Haltung mitgegeben und eine Wallfahrtskirche geschaffen, zu der am Ende vor allem Architekturbegeisterte als einem wunderschönen Ort der Stille pilgerten. Renzo Piano, der ebenfalls einem säkularen Humanismus ohne religiöse Bindungen verpflichtet ist, hat nun ein Kloster für den Orden der Klarissen hinzugefügt, die ihren Sitz von Besançon hierher verlegt haben und die Kapelle von Le Corbusier für ihre Gottesdienste nutzen, die damit nun auch ihren traditionellen religiösen Zweck erfüllen soll.
Akustische Landschaft
Die ursprüngliche Kapelle wurde im 13. Jahrhundert am steilen, rund einen Kilometer von Ronchamp entfernten Hügelhang von Bourlémont errichtet und war jahrhundertelang ein Ziel von Marienpilgern. Nachdem die Kapelle im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört worden war, plante man einen Neubau und beauftragte Le Corbusier – auf Anraten von Père Couturier, der damals ein großer Förderer moderner Kirchenkunst war. Le Corbusier brachte in das Projekt seine ganze In­spiration, Erfahrung und die Leitmetapher der „akustischen“ Formen ein. Der fahlweiße Rauputz erinnerte an die Hügelhäuser auf Santorin, die gerundeten Mauern an die geweißten Lehmmauern von Dörfern im Maghreb, die Lichtöffnungen der Kapellen entsprechen dem Triclinium am Ende des Canopus in der Hadriansvilla, das dicke, hohle Dach ist einer Krebsschale nachempfunden, die Le Corbusier während eines Besuchs bei Costantino Nivola am Strand von Long Island gefunden hatte. Abgesehen von diesen Reminiszenzen beruhte die Gestaltung der Kapelle, die einen dramatischen Bruch mit Le Corbusiers rationalen Entwürfen verkörperte, aber auf seinen Erfahrungen als Maler. Seit 1943 hatte er hunderte Fassungen eines bestimmten Bildes geschaffen. Dargestellt ist eine dralle Frau, die ihm in einer Kirche in Vézelay aufgefallen war. Während der Luftangriffe stand sie mit gefalteten Händen still neben einer flackernden Kerze. Die umhüllte Form der vorrangigen Lichtöffnung der Kapelle von Ronchamp und die dramatisch aufwärts schwingende Kurve des Dachs hin zu einem spitzen Punkt entsprechen genau den Motiven von Kopf und Brüsten in zahlreichen Versionen. Die massiven, konkaven Mauern, die stellenweise zwei Meter dick sind, wurden als ein mit dem Mauerschutt des zerstörten Vorgängerbaus verfülltes Betongitter ausgeführt und an beliebigen Stellen von den tief ausgeschnittenen Fenstern durchbrochen. Das Formenspiel der gerundeten, schrägen Wände verwirklichte die Quintessenz der akustischen Formen Le Corbusiers, die vom menschlichen Ohr und der Gestalt von Musikinstrumenten inspiriert waren. In der Folge übertrug er die Metapher auf die gesamte Stätte und nannte sie eine „akustische Landschaft“. 
Wege zur Kapelle 
Das verdammende Urteil über den Eingriff Renzo Pianos be­zog sich zu großen Teilen auf den Vorwurf, er habe diese Landschaft als Gesamtheit nicht beachtet und bewahrt. Das neue Projekt schlug die Beseitigung eines wenig ansehnlichen Gebäudes am Hang, der sogenannten Porterie, vor, dazu Verän­derungen am Parkplatz, eine Verdeutlichung der Wegeführung zur Kapelle und die Umgestaltung des südlichen Hangs mithilfe des französischen Landschaftsarchitekten Michel Corajoud. Die wirklich frommen Pilger haben zu der Kapelle allzeit den Waldweg genommen, der am Friedhof von Ronchamp beginnt und an dem die vierzehn Kreuzwegstationen stehen. Am Ende des Weges landeten sie auf einem asphaltierten Parkplatz mit Blick auf die Porterie. Diese Abfolge ist nun verändert: Der Parkplatz wurde bepflanzt und dient nur noch Besuchern mit Handicap, während die anderen jetzt am Friedhof parken müssen, von wo aus sie entweder den Waldweg einschlagen oder in einen Shuttlebus einsteigen können. Der Weg wurde direkt mit dem letzten Anstieg zur Kapelle verbunden, und statt des Anblicks der inzwischen abgerissenen Porterie leiten nun seitliche Wände zu einem neuen Besucherbereich, mit einem kleinen Café mit Kamin und einem Vortragssaal. Renzos Kritiker bemängeln, dass diese Zutat zum Programm von Ronchamp eine krasse Kommerzialisierung der Stätte befördere, aber schon immer wollten sich die meisten Besucher der Kapelle mit Postkarten oder Büchern zur Erinnerung an ihren Besuch eindecken und suchten vergeblich nach einem Ort, wo man einkehren konnte. Le Corbusier hat dem berüchtigt-schlechten Wetter in Ronchamp mit dem Wasserspeier am Tiefpunkt der Dachkante, der sein Wasser in ein ovales Becken speit, ein Denkmal gesetzt. Pianos Empfangs­bereich bietet den tapferen Pilgern oder den Touristen nun eine komfortable Zuflucht und einen Ort, wo sie an einem behaglichen Feuer ihre Sachen trocknen und ein paar Erfrischungen zu sich nehmen können.
Versteckt
Die Kampagne gegen das neue Projekt wandte sich auch gegen das recht große Kloster der Klarissen (die gesamten Neubauten, einschließlich des Besucherzentrums, umfassen 1740 Quadratmeter), weil dieses nicht nur wegen der abweichenden Formensprache, sondern auch wegen seiner Ausdehnung die Kapelle in den Schatten stellen würde. Piano nimmt keinerlei Anleihen bei Motiven von Le Corbusier. Seine Inspirationen beschränken sich auf einige wenige, Jean Prouvés Werk entlehnte Ideen. Die Anlage des neuen Klosters folgt der Topografie des südlichen Hügelhangs, der zuvor weitgehend un­zugänglich war. Das Dach des oberen Flügels der Neubauten ist als eine Rasenterrasse ausgebildet, von der aus man über den Wald in das Tal blicken kann. Der obere Flügel des Klosters, der in zwei gekurvte Bänder gegliedert ist, erinnert an das dichte Gefüge einer mittelalterlichen Hügelstadt. Er nimmt zwei Nähwerkstätten, eine Bibliothek, ein sich zu einem kleinen, verglasten Hof öffnendes Refektorium samt Küche und die trapezförmige Kapelle auf. Die zwölf Zellen für die Nonnen und die acht Gästezimmer gehen von dem Korridor im unteren Flügel ab. Die Zellen sind alle mit Bett, Schreibtisch und Stuhl aus Zedernholz ausgestattet und perfekt kubisch, mit einer Seitenlänge von 2,70 Metern. Die orangefarbene Decke ist nach außen hin leicht aufwärts abgeschrägt. Im gesamten Komplex besitzen die Außenfenster schmale, 50 Zentimeter breite Scheiben, die den Fassaden eine gleichförmige Maßstäblichkeit geben. Besonders empört und vielleicht auch neidisch waren Renzo Pianos Kritiker, dass das Programm des Klosters auch eine Betkapelle einschloss. Sie empfanden es als anmaßenden Versuch von Piano, den alten Meister in den Hintergrund zu drängen. Das Oratorium der Klarissen liegt am Ende des Korridors im oberen Flügel. Besucher können es auch über eine durch die obere Terrasse geführte Treppe erreichen. Ein teilweise vergrabener, komplett fassadenloser, bescheidener trapezförmige Raum. Die aufgeweiteten Seitenwände öffnen sich zu einem großen Wintergarten, der wie die kleineren Wintergartenzonen der Zellen mit Zitrusbäumen besetzt ist. Der westliche Schenkel wird von drei Schlitzen durchbrochen, durch die Licht auf ein kleines Tabernakel fällt. Durch ein schräg angebrachtes Oberlicht hinter dem Altar fällt gedämpftes, weißes Tageslicht in den Bereich, in dem die Messe zelebriert wird. Das Gewölbe beginnt als ein abgeflachter Bogen über den verglasten Seitenwänden des Narthex, erhebt sich über den Seitenschenkeln und endet in einem Segmentbogen über dem Altar. Diese geometrische Volte wie auch die sorgfältige handwerkliche Ausführung der glatten Betonflächen im gesamten Kloster und der kleine verglaste Hof des Refektoriums erinnern nicht an Le Corbusier, sondern an Louis I. Kahn, für den Renzo Piano in den sechziger Jahren kurzzeitig tätig war.
Der Demiurg
Im überwiegenden Teil des letzten Jahrhunderts herrschte Le Corbusier als ein Architektur-Demiurg, als ein unschlagbarer Lieferant kluger Ideen zu Form und Typus, aber als Prophet ohne Glück. Trotz seiner Invektiven gegen den Akademismus des Beaux-Arts nährte sein Erbe einen neuen Akademismus, der neben den Werke des Meisters auch seine Formensprache in Aufbau und Details „heiligsprach“. Im Juni 2011 wies die UNESCO zum dritten Mal den von sechs Ländern eingebrachten Vorschlag ab, neunzehn Gebäude Le Corbusiers, darunter auch die Kapelle von Ronchamp, zu Welterbestätten zu erklären. Wenn man an die meisten seiner Gebäude zurückdenkt, so haben sie selten der Zeit standgehalten: die Cité du Refuge und die Maison La Roche-Jeanneret waren unter klimatischen Gesichtspunkten desaströs, die Villa Savoye war schon nach wenigen Jahren unbewohnbar. Die zwei Nebengebäude in Ronchamp, das Haus für den Küster und das „Pilgerhaus“, wirken trotz ihrer mit Rasen bedeckten Dächer als Fremdkörper. Letzteres verstellt die Aussicht in das Tal in einer Weise, wie Pianos Gebäude sich das nicht gestatten. Trotzdem bleibt die Kapelle in Ronchamp eines der wenigen Gebäude Le Corbusiers ohne technische oder programmatische Mängel. In ei­nem Jahr, wenn die Pflanzen gewachsen sind, dürfte kaum noch jemand auf den Gedanken kommen, dass das neue Kloster jemals als Bedrohung für die vorgeschlagene Welterbestätte erschien. Und man darf bezweifeln, dass Le Corbusier, der sich 1959 gegen alle Erweiterungsbauten verwahrte, heute noch aufgebracht wäre. Als ihn Philippe Boudon zu den Veränderungen befragte, die im Verlauf von drei Jahrzehnten an seinem Wohnprojekt der Cité Frugés in Pessac vorgenommen worden waren, zeigte er sich jedenfalls einsichtig: „La vie a toujours raison.“
Aus dem Englischen von Christian Rochow



Fakten
Architekten Piano, Renzo, Paris
Adresse 70250 Ronchamp, Frankreich


aus Bauwelt 43.2011
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