Von Breslau nach Wrocław
Als Folge des Zweiten Weltkriegs fiel Breslau an Polen. Neue Einwohner kamen in die schwer zerstörte, ihnen völlig fremde Stadt und standen vor der Aufgabe, Wrocław eine Identität zu geben
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Von Breslau nach Wrocław
Als Folge des Zweiten Weltkriegs fiel Breslau an Polen. Neue Einwohner kamen in die schwer zerstörte, ihnen völlig fremde Stadt und standen vor der Aufgabe, Wrocław eine Identität zu geben
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Sie zieht alljährlich Hunderttausende an: Max Bergs Jahrhunderthalle, 1911–1913 errichtet und seit 2006 Weltkulturerbe. Auf dem Weg zum Haupteingang kommt jeder Besucher an einem technoiden Gebilde vorbei, das unvermittelt und rätselhaft vor dem Hallenrund in den Himmel ragt. Das ist „Iglica“ (die „Nadel“), eine fast hundert Meter hohe, extrem schlanke Stahlkonstruktion, die der Ingenieur Stanisław Hempel im Sommer 1948 hier am Ort zusammenmontieren und in einem Stück aufrichten ließ. Sie war das weithin sichtbare Ausrufezeichen der legendären Ausstellung über die „Wiedergewonnenen Gebiete“ gewesen, mit der die Warschauer Regierung den neuen territorialen Status quo, die Westverschiebung des polnischen Staates als Folge des Zweiten Weltkrieges, zu unterstreichen gedachte.
In einer Mischung aus Volkspädagogik und Jahrmarkt wurden auf dem traditionellen Messegelände verschiedene gesellschaftspolitische Fragen des „neuen Polen“ verhandelt, aber es ging auch um Erfolge, die die Volksrepublik beim Wiederaufbau ihrer neuen „Westgebiete“ schon errungen hatte. Diese erste Leistungsschau polnischer Nachkriegswirtschaft hatte rund 1,5 Millionen Besucher. Von den teilweise verwegenen Pavillons blieb danach keine Spur, und so ist Iglica wenn nicht das einzige, so doch das monumentalste Denkzeichen, das an das schwere Schicksal dieser Stadt erinnert: an die Verwandlung einer deutschen Großstadt in eine polnische Metropole. Ein Schicksal, das europaweit seinesgleichen sucht und sich in seiner alle Lebensbereiche aufrührenden Dramatik allenfalls mit den Erfahrungen Berlins als Frontstadt im Kalten Krieg messen lässt.
Breslau war bei Kriegsende eine der am schwersten zerstörten Städte Europas. Erst nach dem Fall Berlins, am 6. Mai 1945, unterschrieb der Festungskommandant die Kapitulation. NS-Gauleiter Hanke, der in der Innenstadt ganze Straßenzüge für ein Rollfeld hatte sprengen und planieren lassen, war in der Nacht zuvor mit dem letzten Flugzeug geflohen. Wenige Tage später setzten unter neuer, nun polnischer Verwaltung die Aufräumarbeiten ein. Den Beschlüssen der Siegermächte von Jalta und Potsdam folgend, begann der Bevölkerungsaustausch unverzüglich.
Etwa 300.000 noch verbliebene deutsche Bewohner mussten Stadt und Region gen Westen verlassen. Polnische Neubürger, die bald darauf eintrafen, waren vielfach ihrerseits Vertriebene aus Ostpolen, aus Wilna, oder kamen aus dem zerstörten Warschau. Sie alle standen nicht nur vor einer Trümmerwüste, sondern in einer ihnen völlig fremden Stadt. Möglichst schnell mussten sie Vertrauen gewinnen, dass aus Breslau nun Wrocław werden würde, also eine Stadt, deren polnische Geschichte und Traditionen tiefer reichen und nachhaltiger wirken würden als die, wie es nun hieß, „unselige Ära“ Preußisch-Schlesiens. Von nun an sollte ein polnischer „Geist des Ortes“ die zusammengewürfelten Zuzügler zu einer künftigen Stadtbürgerschaft verbinden.
Wie auch in den Fällen von Danzig/Gdańsk oder Stettin/Szczecin setzte man bei der Verwandlung von Breslau in Wrocław zuerst auf die komplett zerstörte Altstadt. Bei deren Wiederaufbau wurden Spuren einer – realen oder entsprechend gedeuteten – polnischen Stadtgeschichte bis weit ins Mittelalter gelegt. In gewisser Weise wurde also versucht, Geschichte mit den Mitteln der Architektur (wie auch mit Denkmälern, Straßennamen usw.) neu zu erzählen. „Lokalhistoriker, Philologen, Archäologen und Kunsthistoriker wurden quasi zu Ingenieuren eines kulturellen Gedächtnisses.“ Um alle deutschen Spuren bereinigt, wurde die Breslauer Altstadt nicht einfach rekonstruiert, sondern erfuhr „die Umformung zu einer polnischen Gedächtnislandschaft“.
Bemerkenswert an der Baugeschichte Nachkriegspolens ist nun, dass auch nach Abschluss des historisierenden Wiederaufbaus weiter auf markante Architekturen als „Identitäts-Anker“ gesetzt wurde. Kaum war der von Moskau geforderte „Sozrealismus“ vom Tisch, wuchsen überall im Land ambitionierte Projekte einer weltgewandten Nachkriegsmoderne empor, die den Bürgern der Volksrepublik ein besseres Leben in lichterer Zukunft versprachen. In Wrocław, wo zahllose Baulücken bis weit in die sechziger Jahre auf neue Nutzung warteten, ist diesem Ehrgeiz die Auffüllung des Altstadtgefüges mit einigen sehr sensiblen Wohnanlagen zu verdanken. Einmal einfühlsam renoviert, gehören sie zum Besten, was Polens Architekten zum internationalen Diskurs der Wiederaufbaujahre beitragen konnten. Ihre stadträumlichen Qualitäten widerlegen alle Klischees einer „urbanen Unverträglichkeit“ spätmoderner Architektur.
Den Gipfel jenes leidenschaftlichen architektonischen Höhenflugs stellte zweifellos die Bebauung der Riesenbrache des Plac Grundwaldzki mit einer gigantischen „Stadtmaschine“ dar, bei der über einer mehrere hundert Meter langen, abwechslungsreichen Ladenzone sich sechs expressiv durchgeformte Wohnhochhäuser erhoben, die sogleich zum Wahrzeichen der zunehmend stolzen Metropole eines polnischen Niederschlesiens wurden.
Trotz so vieler markanter „Leuchttürme“ im Wrocławer Stadtbild verdankt sich der Durchbruch zu einer wirklich intakten, selbstbewussten und entspannten Stadtgesellschaft letztlich einer Katastrophe: der gewaltigen Oderflut des Jahres 1997, die ganze Stadtteile unter Wasser setzte und Schäden in vielfacher Millionenhöhe verursachte. Nach Meinung aller Zeitzeugen waren es die großen kollektiven Schutz- und Rettungsaktionen, die die Bewohner miteinander als eine Art „Neugründung“ ihrer bedrohten Stadt erlebten, eine Erfahrung, die die jahrzehntelang als schwierig und ungelöst empfundene Vergangenheit in den Hintergrund drängte. Endlich waren die bösen Geister aller Vorzeiten ge- bannt. Eine Verwaltungsreform zur Stärkung der Wojwodschaften gegenüber der Warschauer Zentrale, der EU-Beitritt Polens mit dem daran geknüpften Fördersegen, nicht zuletzt der Zuschlag als ein Austragungsort der Fußball-EM 2012 entfachten schließlich eine Dynamik, die Wrocław den Ruf eintrug, Polens eigentliche Boomtown zu sein.
Und nun auch noch Europäische Kulturhauptstadt. Mit dem Programmteil „Architektur“ hat die Stadt sich ohne Scheu ihren krassen geschichtlichen Brüchen im 20. Jahrhundert gestellt. Nachdem die Bauwelt schon über die Werkbund-Ausstellung aus der Breslauer Zeit berichtete (Bauwelt 16–17/2016), soll es diesmal um die Nachkriegsjahrzehnte gehen. Als in Wrocław polnische Architekturgeschichte geschrieben wurde.
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