Bauwelt

Dem Mainstream zugetan

Das DAZ zeigt neue Architektur aus Estland

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

Dem Mainstream zugetan

Das DAZ zeigt neue Architektur aus Estland

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

Manche nennen Estland den baltischen Tigerstaat. Und die estnischen Architekten vermelden stolz, europaweit die Jüngsten zu sein: direkt von der Uni in den Bauboom gesprungen. BOOM ROOM heißt deshalb auch die Ausstellung, die im Deutschen Architekturzentrum (DAZ) in Berlin derzeit neue estnische Architektur zeigt – vom glitzernden Businesscenter über die ambitionierte Provinzbibliothek bis zu Super-Villen, deren Bewohner man sich leibhaftig lieber gar nicht vorstellen möchte.
Architektennachwuchs im Bauboom eines Tigerstaates – leider stimmt diese Melange nicht wirklich froh. Das Feuerwerk der so selbst- wie formbewussten Neubauprojekte lässt den Betrachter rasch ermüden. Derart begeistert dem internationalen Mainstream zugetan war noch keine der Überblicksschauen unserer neuen östlichen Nachbarn. Überall, selbst in Provinzstädten wie Pärnu oder Rakvere, hielt neueste Bautechnik Einzug, an Glas, Metallfassaden und gewagten Konstruktionen wurde nirgends gespart. Leider fällt dabei dem originellen Kick oft alles zum Opfer, was man dem konkreten Ort oder einer regionalen Baukultur wünschen möchte. Baulicher Kontext oder gar das „handliche Maß“ einerkleinen, naturverbundenen Nation, mit denen das Land sonst auch offiziell kokettiert, haben bei solch selbstverliebten Eskapaden wenig Chancen. War inden 1920er Jahren die so pragmatische wie eigensinnige estnische Moderne in Holzlatten und Kalkstein angetreten, ist heute davon nur der Traum geblieben, „in einer westlich anmutenden Großstadt zu arbeiten und im privaten Eigenheim mit Garten zu wohnen“ (Pressetext).
Zumindest in Tallinn ist dieser Traum gründlich schief gegangen. In Konkurrenz zur historisch einmaligen Altstadt und den Hafen als Herz der Stadt achtlos bedrängend, haben zumeist skandinavische Investoren mit spekulativem Geld und ohne planerisches Konzept einen Business-Distrikt empor gewuchtet. Reichlich überdimensioniert, ist diese urbanistische Kraftmeierei vor allem Symbol für das neo­liberale Projekt der jungen estnischen Republik: staatsfern, individualistisch, marktfixiert. Planung gilt als Relikt überwundener linker Ideologie. Und die zu sowjetischer Zeit unbestrittene Trumpfkarte der Esten, ihre originelle und bis ins Detail qualitätsvolle Architektur irgendwo zwischen Spät- und Postmoderne, löst sich nun in reinen Kapriolen auf: Die drei ungeschlachten Glaspfropfen von KOKO architects auf dem Dach der alten Rotermann-Fabrik in Tallinn oder Vilen Künnapus kraftlos runder Wohnturm in Tartu sind nur besonders extreme Beispiele für ein Streben nach Originalität um jeden Preis.

Kein Zukunftsprojekt
Der Drang zum eigenen Haus führt zur Zersiedlung städtischer Peripherien – fataler Triumph einer einst reichen Gartenstadttradition. Einzelne Entwicklerversuchen, den Prozess mit Reihenhauskonzepten maßvoll zu steuern. Das Verfolgen anderswo längst desavouierter Leitbilder von Konsumrausch, Individualverkehr, Flächenfraß und Ressourcenverschleiß macht diese „Leistungsschau“ so bedrückend: Da scheint eine Generation, die sich im revolutionären Aufbruch begreift, doch keine andere Idee zu haben als nachholende „Westlichkeit“. Das ganze Land ist vorbildlich elektronisch vernetzt, jedem Esten steht laut Verfassung ein Internetanschluss zu. Doch ein neues Zukunftsprojekt eröffnet sich damit nicht automatisch.
So wie man alte Bausubstanz allenfalls zu ästhetischer Unterhaltung schätzt, sind Energieeffizienz oder alternative Mobilitätskonzepte (noch) keine Themen, mit denen Architekten öffentlich Profil suchen. Ganz zu schweigen vom Sozialausgleich: Die zentrale Herausforderung kommender Jahrzehnte – zehntausende privatisierter, aber renovierungsbedürftiger Plattenbauten – steht bei Baupolitikern wie Architekten bisher überhaupt nicht auf der Agenda. Dabei brauen sich nicht nur in Tallinner Großsiedlun­gen wie Lasnamäe Probleme ethnischer Segregation zusammen. Triste Industrieorte wie Sillamäe oder Kohtla Järve mit ihrer überwiegend russischen Bevölkerung bedürfen dringender Impulse der Integration. Baukulturelle Nachrüstung, wie sie KAVAKAVA Architekten mit ihrem sympathischen Kindergarten in Tartu betrieben, gehört zweifellos dazu. Artistische Übun­gen in eitler Baukunst sicher weniger.

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