Bauwelt

Ein Dach wie ein zerknittertes Stück Papier

Interview mit Klaas De Rycke, Niederlassungsleiter von Bollinger + Grohmann in Paris

Text: Brensing, Christian, Berlin

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Klaas De Rycke mit Nicoletta Pramaggiore, Projektleiterin für Neapel im Büro DPA.
    Foto: Christian Brensing

    • Social Media Items Social Media Items
    Klaas De Rycke mit Nicoletta Pramaggiore, Projektleiterin für Neapel im Büro DPA.

    Foto: Christian Brensing

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Entwurfsskizze von Dominique Perrault
    Skizze: DPA Architecture

    • Social Media Items Social Media Items
    Entwurfsskizze von Dominique Perrault

    Skizze: DPA Architecture

Ein Dach wie ein zerknittertes Stück Papier

Interview mit Klaas De Rycke, Niederlassungsleiter von Bollinger + Grohmann in Paris

Text: Brensing, Christian, Berlin

Wie kam es zu dem Auftrag?
Klaus Bollinger und Manfred Grohmann arbeiteten vor zehn Jahren bereits mit Perrault an dem Projekt Mariinski-Theater in St. Petersburg und hatten zuvor zusammen ein kleineres, aber sehr spezielles Projekt, das gläserne 360-Grad-Café „Lichtblick“ auf dem Dach des Innsbrucker Rathauses, realisiert. Dann kam der Auftrag in Neapel.
Was zeichnet Ihrer Meinung nach Dominique Perraults Entwurf aus?
Perraults Idee war es, vor dem Hauptbahnhof eine unterirdische Passage u.a. mit Läden und Bars, die sozusagen als Zwischenebene des eigentlichen Hauptbahnhofs und der Station Garibaldi der U-Bahnlinie funktioniert, auszuheben. Darüber spannte er eine Dachkonstruktion, die auf gleicher Höhe in Pier Luigi Nervis Bahnhofsüberdachung der späten fünfziger Jahre übergeht. Perraults Überdachung fasst große Teile des Bahnhofsvorplatzes ein und garantiert die Durchgängigkeit des gesamten Areals. Als wir die Idee das erste Mal im Frankfurter Büro auf ihre Machbarkeit hin analysierten, programmierte Arne Hofmann (jetziger Geschäftsführer von Bollinger + Grohmann in Wien) in das Tragwerksprogramm einen generischen Algorithmus. Das war die Anfangsidee, die das Dach wie ein zerknittertes Stück Papier aussehen ließ.
Wie kamen Sie selbst zu dem Projekt?
Ich hatte in Frankfurt bereits am Mariinski-Theater mitgewirkt und spezialisierte mich auf 3D-Bearbeitungen und die damit verbundenen komplexen Berechnungen, zudem war ich damals der einzige im Büro, der fließend Französisch sprach. Um den Schulterschluss Architekt-Ingenieur noch weiter zu perfektionieren, siedelte ich Ende 2005 nach Paris in das Büro von Dominique Perrault über, was später der Nukleus der heutigen Niederlassung von Bollinger + Grohmann in Paris wurde.
Wie beschreiben Sie das Projekt aus der Sicht des Tragwerksplaners?
Erstens: Dem generischen Algorithmus liegt ein Dreiecksraster zugrunde. Ursprünglich war es glatt, wurde aber durch die Faltungen zu einer tragfähigen Konstruktion ausgebildet. Heute erkennt man immer noch diese Dreiecke im Grundriss der Konstruktion. Zweitens: Die Reduzierung der Stützen war ein Parameter, den der Architekt ins Spiel brachte. Die Stützen sollten wie Bäume aus der Tiefe herauswachsen. Drittens: Die Entwurfsidee war auch, die Konstruktion nach unten, sozusagen in ein Loch, zu ziehen. Auf Perraults Wunsch sollte dabei die horizontale Dachebene immer gleich bleiben. Das alles hat dazu geführt, dass wir auf das Bild eines Baumes kamen, der eine durchgehende horizontale Fläche trägt. Immer wieder sprachen wir über diese Parameter und letztendlich sind es zehn Bäume geworden, mit einer Dachfläche von jeweils 50 x 25 Metern. Allerdings vermieden wir das Bild der klassischen Gabelung und Verästelung. Wir kehrten den Prozess um. Statt immer kleiner zu werden, legten wir oben ein Rohr mit 15 Zentimeter Durchmesser fest, das dann auf dem Weg zur Wurzel immer weiter geführt wird. Dort, wo es Gabelungen gibt, kommen andere Stränge hinzu, alle bleiben dabei im gleichen Querschnitt. Somit ist der Stamm nur eine Bündelung aller Äste. Eigentlich eine ganz simple Konstruktion.
Ist es Ihnen möglich nachzuvollziehen, woher die einzelnen Ideen kamen?
Der Austausch mit dem Architekten war wie ein Pingpongspiel. Teils entsprangen die Ideen sehr geometrischen Strukturen, dann wieder konkreten Beispielen, wie den mit Lianen behangenen Bäumen auf Sizilien, die wir Perrault zeigten. Ich war derjenige im Team, der durchgängig in 3D arbeitete. Die Architekten dagegen bauten Modelle von meinen 3D-Visualisierungen, die wir dann gemeinsam interpretierten und die Perrault weiter überarbeitete. Klaus Bollinger und Manfred Grohmann kamen in der Zeit oft nach Paris, da das Mariinski-Projekt fast parallel mit dem der Piazza Garibaldi bearbeitet wurde. Es fand ein intensiver Austausch statt. Da wir im Büro des Architekten saßen, testeten wir immer mehrere Ideen – unmittelbar, entweder parallel oder im direkten Austausch sogar auf dem Bildschirm. Wir hatten nicht, wie sonst üblich, eine Besprechung oder ein neues Modell vom Architekten und die damit verbundene Gelegenheit, es zwei Wochen zu analysieren und dann mit dem Ergebnis wieder beim Architekten aufzutauchen. Wir waren viel schneller, haben teilweise die Gestaltungsarbeit übernommen und probierten dadurch sehr viel mehr Varianten aus.
Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Büro?
Ich hatte dort den Kollegen Mark Fahlbusch, der, neben Bollinger und Grohmann, alle drei Wochen nach Paris kam. Dominique Perrault konnte ich damals fast täglich in seinem Büro treffen und das Projekt immer mit ihm besprechen. Der Austausch war auf allen Ebenen direkt, schnell und effizient.
Das Projekt zog sich dann aber über zehn Jahre hin, wie kam es dazu?
Nach der Präsentation des Projekts auf der Biennale 2006 in Venedig passierte einige Jahre nichts Wesentliches. Die Genehmigungsplanung war eingereicht und man hätte anfangen können zu bauen. Vom Projekt-ablauf her wurde aber zuerst der Tunnel gebaut mit dem Zugang zur U-Bahnstation in 40 Meter Tiefe. Erst danach erfolgte die Ausschachtung des Grabens für die Passage mit den Läden und Cafés. Die Planung und Ausführung der eigentlichen U-Bahnlinie nahm also viel mehr Zeit in Anspruch als geplant. Das lag unter anderem auch am spezifisch neapolitanischen Kontext mit bedeutenden archäologischen Funden. Erst nach der Fertigstellung des Tunnels und des Grabens wurden die Ausschreibung und die Vergabe gestartet, zunächst für zwei Bäume, die den Eingang zur U-Bahnstation überdachen. Schließlich realisierte man alle zehn Bäume. Es gibt vier Typen von Bäumen. Sie sind nicht symmetrisch oder identisch und haben jeweils einen schief stehenden Stamm mit Auflager. Immer zwei Bäume stellen eine statische Einheit dar, bedingt durch den Erdbebennachweis.
Fakten
Architekten Bollinger + Grohmann, Paris; DPA Architecture, Paris
Adresse Piazza Garibaldi, Neapel


aus Bauwelt 42.2015
Artikel als pdf

0 Kommentare


loading
x
loading

23.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.