Es wäre schade, die Kirche als leeres Gefäß zu belassen
Die Trinitatisgemeinde in Kassel brauchte mehr Platz für ihre Gemeindearbeit. Atelier 30 plädierte gegen einen Neubau – und schlug gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ein Gespräch mit Thomas Fischer
Text: Schultz, Brigitte, Berlin
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Thomas Fischer (l.) gründete Atelier 30 Architekten im Jahr 2000 gemeinsam mit Ole Creutzig (r.). Die Trinitatisgemeinde wurde auf das Büro durch die Alte Brüderkirche in Kassel aufmerksam, die es zum Ausstellungs- und Veranstaltungszentrum umgebaut hat.
Foto: Thomas Fischer
Thomas Fischer (l.) gründete Atelier 30 Architekten im Jahr 2000 gemeinsam mit Ole Creutzig (r.). Die Trinitatisgemeinde wurde auf das Büro durch die Alte Brüderkirche in Kassel aufmerksam, die es zum Ausstellungs- und Veranstaltungszentrum umgebaut hat.
Foto: Thomas Fischer
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Die Immanuelkirche in Kassel
Foto: Thomas Fischer
Die Immanuelkirche in Kassel
Foto: Thomas Fischer
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In den neuen Kabinetten findet die Gemeindearbeit statt.
Foto: Monika Nikolic
In den neuen Kabinetten findet die Gemeindearbeit statt.
Foto: Monika Nikolic
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Funktionsräume sind unter der Empore versteckt.
Foto: Monika Nikolic
Funktionsräume sind unter der Empore versteckt.
Foto: Monika Nikolic
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Die Kabinette lassen sich mit Kipp-Drehflügeln ...
Foto: Monika Nikolic
Die Kabinette lassen sich mit Kipp-Drehflügeln ...
Foto: Monika Nikolic
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... zum Altar hin öffnen.
Foto: Monika Nikolic
... zum Altar hin öffnen.
Foto: Monika Nikolic
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Im Innern der Kabinette herrscht durch die Stahlkonstruktion eine sachliche Arbeitsatmosphäre.
Foto: Monika Nikolic
Im Innern der Kabinette herrscht durch die Stahlkonstruktion eine sachliche Arbeitsatmosphäre.
Foto: Monika Nikolic
Herr Fischer, Sie haben in enger Zusammenarbeit mit der Gemeinde die Immanuelkirche in Kassel umgebaut. Mit welcher Ausgangslage waren Sie konfrontiert?
Die Trinitatiskirchengemeinde beschäftigt sich sehr stark mit Gemeindearbeit, die Räume hierfür waren aber zu klein. Deshalb wollte man sie woanders unterbringen und überlegte, vielleicht einen Neubau neben die Kirche zu stellen.
Wie kamen Sie zu dem Auftrag?
Die Gemeinde schaute sich an, wie andernorts mit einer vergleichbaren Aufgabenstellung umgegangen worden war. Dann lud sie drei Architekturbüros ein, sich vor Ort ein Bild der Situation zu machen und erste Ideen verbal vorzutragen. Sie wollte auch ein Gefühl dafür bekommen, wer diesen Prozess am besten moderieren kann. Entscheidend für die Beauftragung war, dass am Ende alle Gemeindeglieder eine entsprechende Lösung mittragen.
Was war Ihr Vorschlag?
Wir haben gegen einen Neubau plädiert. Warum sollte man woanders Räume schaffen, wenn der Kirchenraum zu groß ist? Es wäre doch schade, die Gemeinde außerhalb der Kirche anzusiedeln und die Kirche als leeres Gefäß zu belassen, welches nur noch eine sakrale Ästhetik vermittelt, aber über einige Gottesdienste hinaus keine Funktion mehr hat. Das fanden wir zu wenig.
Neue Räume in die elegante Kirche von Gulbransson einzubauen, ist allerdings mutig.
Tatsächlich war der erste Eindruck, als wir in der Kirche standen: Da können wir gar nichts reinstellen! Das würde diese Raumkomposition konterkarieren. Wir haben das dann offen kommuniziert und erklärt, dass es schwierig sei. Im weiteren Verlauf kamen wir jedoch auf eine Lösung, die mit der Geometrie des Raumes spielt.
Das Ergebnis sieht jetzt sehr selbstverständlich aus, ist aber das Ende eines längeren Prozesses. Wie lief die Partizipation ab?
Als erstes machten wir mit den Gemeindegliedern einen Workshop in der Kirche. Da kamen circa zwanzig Leute. Wir bereiteten den Grundriss der Kirche und ein Modell vor und legten viel Pappe und Cutter aus. Dann wurde beraten, welche Raumgrößen für welche Nutzungen geeignet sind. Wir haben die Teilnehmer spielen lassen und immer moderiert: Welche Möglichkeiten gehen, welche nicht? In der Diskussion, warum die eine Lösung besser ist als die andere, kam ein gewisses Verständnis auf für Architektur und Raum.
Wie viele Workshops haben Sie angeboten?
Wir trafen uns noch circa zehnmal bei uns im Büro, bis das Ergebnis stand. Nach jedem Treffen haben wir die Ergebnisse in den architektonischen Maßstab gebracht, der uns vorschwebte, alles in einem Vortrag zusammengefasst und als Modell präsentiert.
Welche architektonischen Lösungen wurden diskutiert?
Es wurde lange besprochen, ob man ein Haus neben die Kirche stellt oder Räume im Inneren anbietet. Nachdem die Entscheidung für den Kirchenraum gefallen war, wurden verschiedene Varianten diskutiert: Neben unserer Idee der kristallinen Kabinette ging es um freistehende, geschlossene Solitäre. Ein anderer Vorschlag war es, die Empore weiterzubauen. Aber die Teilnehmer merkten sehr schnell, dass sie dadurch die Wirkung ihres Gesamtraumes zerstören.
Am Ende hat der Expertenvorschlag sich durchgesetzt. Wie kam die Form der Kabinette zustande?
Die Geometrie der Kabinette projiziert die Faltung der Dachlandschaft nach unten auf den Boden. Deswegen funktionieren ihre Proportionen im Verhältnis zum Ort sehr gut.
Wo sind die Nebenräume untergebracht?
Funktionsräume wie Toiletten oder auch eine kleine Küche liegen jetzt unter der Empore. Der Einbau ist so zurückhaltend wie möglich gehalten, grau verputzt mit Besenstrich. Das Hauptaugenmerk galt den Gemeinderäumen, die wie transparente Harfen wirken sollten.
Wie sind die Gemeinderäume ausgebildet?
Die beiden Seiten der Glaswände sind sehr unterschiedlich gestaltet. Das Innere, wo gearbeitet wird, besitzt durch die Stahlkonstruktion einen funktionalen, fast industriellen Charakter. Nach außen, zum Kirchenraum hin, greifen die Eichenlamellen die Materialität der Kirche auf. Durch Kipp-Drehflügel lassen sich die Glaswände zum Altar hin öffnen, so dass ein zusammenhängender Raum für Veranstaltungen und Konzerte entsteht.
Welche Verglasung haben Sie gewählt?
Eine zweischeibige Isolierverglasung. So kann man die Kabinette einzeln und getrennt heizen, zudem ist der Schallschutz gewährleistet, so dass man beide Kabinette gleichzeitig nutzen kann.
Gibt es einen Sichtschutz zwischen den Kabinetten und der Hauptkirche?
Nein. Die Transparenz ist wichtig, weil man keinen direkten Bezug zum Außenraum hat. Die Kirchenfenster in den Ecken sind aus semi-transparentem Strukturglas. Die Landschaft, auf die man blickt, ist der Innenraum. Es finden aber auch keine Gottesdienste parallel zu den Gemeindearbeiten statt.
Wie erreichten Sie die optische Leichtigkeit?
Das war ein zentrales Thema: Wie minimieren wir die Konstruktion? Zum einen, damit das Konzept optisch aufgeht, zum anderen, weil der Kriechboden unter der Kirche nicht stark belastet werden darf. Also mussten wir die Profile so schlank wie möglich halten. Die Eichenlamellen sind teilweise über zehn Meter hoch und vorne nur sechseinhalb Zentimeter breit.
Wie funktioniert die Tragstruktur?
Zum einen liegt ein Rahmen um die Einbaukörper, der in Dach und Boden versteckt ist. Dazwischen spannen die Lamellen. Zusätzlich ist das Ganze durch die Faltung und die Glasstruktur ausgesteift.
Was war die größte Herausforderung des Projekts?
Die Selbstverständlichkeit des Raums weiter zu bauen. Dass man das nicht überzieht, sondern mit dem Licht und den skulpturalen Körpern den Bestand so weiter entwickelt, dass der Raum seine Ruhe behält.
Was sagen die Nutzer?
Die Resonanz ist sehr positiv. Obwohl das normale Gemeindeglied sich unter einem Gemeinderaum etwas gänzlich anderes vorstellt. Aber sie identifizieren sich mit den neuen Räumen, weil diese in die Kirche integriert sind und das gesamte Haus eins wird mit der neuen Nutzung.
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