Wettstetten
Längst ist das Dorf Wettstetten Wohnstadt für den Mittelstand aus dem nahen Ingolstadt geworden. Das Rathaus-Ensemble von Bembé Dellinger hat dem Ort eine neue Mitte gegeben. Ein Gespräch mit dem Architekten, dem ehemaligen und dem amtierenden Bürgermeister über Identität, den Reiz des Unspektakulären und das Jurahaus
Text: Aicher, Florian, Leutkirch
-
Gerd Risch, Bürgermeister von Wettstetten, Architekt Sebastian Dellinger, Hans Mödl, Altbürgermeister (v.l.)
Foto: Florian Aicher
Gerd Risch, Bürgermeister von Wettstetten, Architekt Sebastian Dellinger, Hans Mödl, Altbürgermeister (v.l.)
Foto: Florian Aicher
-
Vorbild für die Bauten der neuen Ortsmitte: das Jurahaus, traditioneller Haustypus der südlichen fränkischen Alb
Foto: Archiv Bembé Dellinger
Vorbild für die Bauten der neuen Ortsmitte: das Jurahaus, traditioneller Haustypus der südlichen fränkischen Alb
Foto: Archiv Bembé Dellinger
-
Stadträume bildend: das Ensemble aus drei Häusern für Gemeindeverwaltung, Ratssaal/Bürgersaal und Kita/Altenpflege
Foto: Stefan Müller-Neumann
Stadträume bildend: das Ensemble aus drei Häusern für Gemeindeverwaltung, Ratssaal/Bürgersaal und Kita/Altenpflege
Foto: Stefan Müller-Neumann
-
Modellfoto: Bembé Dellinger
Modellfoto: Bembé Dellinger
-
Die Eingänge aller drei Häuser (auf dem Foto Bürgerhaus und Pflegehaus) orientieren sich zum neuen Rathausplatz
Foto: Stefan Müller-Neumann
Die Eingänge aller drei Häuser (auf dem Foto Bürgerhaus und Pflegehaus) orientieren sich zum neuen Rathausplatz
Foto: Stefan Müller-Neumann
-
Foto: Stefan Müller-Neumann
Foto: Stefan Müller-Neumann
-
Foto: Stefan Müller-Neumann
Foto: Stefan Müller-Neumann
-
Blick vom Foyer in den Bürgersaal
Foto: Stefan Müller-Neumann
Blick vom Foyer in den Bürgersaal
Foto: Stefan Müller-Neumann
-
Sitzungssaal
Foto: Stefan Müller-Neumann
Sitzungssaal
Foto: Stefan Müller-Neumann
-
Die Lobby von Sitzungssaal und Trausaal im Obergeschoss.
Foto: Stefan Müller-Neumann
Die Lobby von Sitzungssaal und Trausaal im Obergeschoss.
Foto: Stefan Müller-Neumann
Wettstetten, gut fünf Kilometer nördlich von Ingolstadt in flachem Hügelland gelegen, lebte jahrhundertelang als Bauerndorf von den eher bescheidenen Erträgen vorwiegend flachgründiger Böden der Ausläufer der Fränkischen Alb. Das sieht man dem Ort heute nur noch mit geübtem Auge an ...
Hans Mödl Die Bevölkerung ist im letzten halben Jahrhundert von 800 auf 5000 Einwohner gewachsen, mit Schwerpunkt in den siebziger und achtziger Jahren, als das Hauptwerk von Audi enorm wuchs. Das wurde begleitet vom Verschwinden bäuerlicher Nebenerwerbsbetriebe und dem Rückgang landwirtschaftlicher Haupterwerbsbetriebe auf etwa ein Fünftel. Die bebaute Fläche hat sich gut verzehnfacht – vorwiegend sind das reine Wohngebiete. Ein Wandel, den ich mit eigenen Augen erlebt habe: vom Dorf zu einer Wohngemeinde.
Gerd Risch Ich gehöre zu den in den siebziger Jahren Zugezogenen, und erinnere mich an die Distanz der Altbewohner, die ich als Kind erfuhr. Davon ist heute so gut wie nichts mehr zu spüren, die Neuen bilden die Mehrheit, unterschiedliche Lebenskulturen haben sich gemischt, die Neuen engagieren sich im Gemeindeleben. Eine Ausstellung von Bildern zu Wettstetten, die zurzeit hier zu sehen ist, zeigt, dass sich eher die Neu-Wettstettener mit dem Bild ihrer Ortschaft beschäftigen. Das Miteinander der ursprünglich bäuerlichen Ortsansässigen mit dem neuen Mittelstand der nahen Industrie gelingt heute ausgewogen und eigentlich konfliktfrei.
Hans Mödl Das Neue hat gewissermaßen die Auflösung kleinbäuerlicher Strukturen aufgesogen – diese Auflösung begann früh, zog sich über die Jahre, die Bauerngemeinde war hier nicht so fest gefügt wie anderswo. Der Schreiner verschwand aus dem Ort, der Schmied, manches Gasthaus, die Viehwirtschaft. Die neuen Maschinenhallen der heutigen Ackerbauern entstehen außerhalb der Ortschaft.
Gerd Risch Die Ausstellung, die ich erwähnt habe, zeigt: Man sucht nach Identifikation mit dem Ort – durch alle Schichten und Altersgruppen hindurch. Gerade auch aus den Wohngebieten am Rand ist zu vernehmen: Wir sind Wettstettener. Das Engagement in verschiedenen Vereinen bestätigt diesen Wunsch dazuzugehören.
Stichwort Identifikation. Wie soll die entstehen, wo ein Wohngebiet sich kaum noch vom anderen, eines von hier sich kaum noch von dem der Nachbargemeinde unterscheidet?
Hans Mödl Bei solchen Orten muss man aufpassen, dass sie nicht ganz ihr Gesicht verlieren, ins Einerlei zerfallen. Was hält zusammen? Kontakte. Im Kindergarten, in der Schule, in der Ortsverwaltung, im Sportverein. Darüber wächst man in den Ort. Und der verändert sich, wie sich die Gesellschaft insgesamt verändert. Für Wettstet-ten war das kein Unglück.
Trotz vieler ähnlicher Wohngebiete ist man Wett-stettener, sagen Sie, man nimmt den Ort wahr – wie das
Hans Mödl Wir haben klare Ortsränder, da franst nichts aus. Seit Beginn der fünfziger Jahre haben wir mit Bebauungsplänen darauf geachtet, haben versucht, das zu steuern, waren vorne mit dabei, als man mit so etwas anfing. Wir haben uns nicht von den Zufälligkeiten billigen Baulandes oder guter Beziehungen leiten lassen – das darf gar nicht einreißen, man muss die Gesamtform im Auge behalten.
Die äußere Fassung haben Sie ergänzt durch die Aktivierung des Kerns.
Hans Mödl Der Ortskern war bei uns schon stark verdichtet, da gab es nichts nachzuarbeiten. Die neue Herausforderung war: Leben in diesem Kern halten, dem langsamen Ausbluten entgegenwirken, verhindern, dass der Kern verödet und die Ränder Speck ansetzen. Anzeichen für die Entleerung im Innern gab es – die haben wir als Chance ergriffen. Das Rathaus hatte ausgedient, und wir haben gesagt: Das bleibt im Dorf! Wenn die Gemeinde auch noch an den Ortsrand zieht, was bleibt dann? Nichts! Also waren wir in vielen Jahren bemüht, die vielen kleinen, freiwerdenden Grundstücke in die Hand zu bekommen.
Frühzeitiges Gegensteuern, weitsichtige Liegenschaftspolitik – das klingt nach viel Zeit. Wie lang liegt das zurück?
Hans Mödl Bald nach meinem Amtsantritt Anfang der neunziger Jahre wurde mir das klar. Damals waren die Gemeinden klamm, es hat Jahre gedauert, bis man schuldenfrei war. Ende der neunziger Jahre konnte die Gemeinde beginnen, Grundstücke im Ortskern zu erwerben. Das ging nicht immer reibungslos, aber schließlich ging es gütlich. Und um 2010 konnten wir uns mit dem Bau befassen, den Wettbewerb ausschreiben.
Das Objekt, der Standort, die Ausführung – all das wurde heftig diskutiert. Mancher wollte einen großen Platz, mit einem großen Haus auf grüner Wiese. Vor allem, als das Bauen los ging, hieß es: Da ist ja kein Platz mehr. Als dann die Anlage fertig war, wurde es ruhig, und heute freut man sich an der Folge dieser Räume.
Amtshaus, Bürgersäle, Altenpflege, Kinderhort – alle sind nun mit einem Haus im Zentrum präsent. War das so schwer zu vermitteln?
Gerd Risch Viele haben über das Amtsgebäude gestaunt, als sie zum ersten Mal dort waren, das war nicht das Bild, das Sie aus den Medien hatten. Der Weg aufs Amt öffnet den Leuten die Augen, dann schauen sie in den Saal, und schließlich leuchtet ihnen auch die Kombination von Alten- und Kinderpflege ein.
Hans Mödl Und die Gemeinde kann sich nun nach außen zeigen – mit eigenen Räumen. Jetzt kann man jemanden einladen, geht selbst gern hin. Das sind Dinge, die man nutzt, die gebraucht werden – nicht übertrieben, keine Luftschlösser.
Sebastian Dellinger Bereits in der Ausschreibung des Wettbewerbs war deutlich: Da hat sich ein Bauherr intensiv mit der Sache beschäftigt, nicht nur mit den Funktionen, sondern auch mit der Frage: Was soll an dem Ort passieren, wie soll es weitergehen?
Wie hat das auf die Architekten gewirkt?
Sebastian Dellinger Uns hat die Auseinandersetzung mit dem Ort gereizt. Wir sind überzeugt, dass es eine Antwort auf solche Ortschaften gibt, dass sich daraus neue Aufgaben ergeben mit spannenderem Ergebnis – das ist einfach anregender, als fertige Rathaustypologien anzuwenden. Wir waren gefordert, neu über die Dinge nachzudenken, aus dem Ort heraus.
Bei diesem Ort – eine besondere Herausforderung?
Sebastian Dellinger Sicher. Man geht durch den Ort, schaut genau hin, sucht seine Struktur, seine Körnung – das ist spannend, weil es ja an vordergründigen Bezügen fehlt, nichts Spektakuläres da ist, normal ist.
In der Auslobung gab es den Hinweis, sich mit der örtlichen Bautradition, dem Altmühl-Jurahaus, zu befassen. Im Original ist es kaum noch zu finden. Wir meinen aber, es wirkt im Alltäglichen, durch seine fast elementare Art. Der Wettbewerb zeigte dann ein reiches Spektrum, vom großen Volumen mit flachem Dach bis zur gegliederten Baugruppe mit geneigten Dächern.
Letzteres war Ihr Weg. Die Rolle der Außenräume wächst damit. Was bedeutet das?
Sebastian Dellinger Man spürt es ja: Der Ort war ein Bauerndorf, ohne großen Platz, mit Kirche und einer Bauernstube, die Bürgermeister- und Amtszimmer war. „Städtebau“ gibt es nicht, stattdessen ein Gewebe von Lücken, Höfen, Ausweitungen, Engführungen – da ein Baum, dort Grün am Weg, einige Gärten. Viel Luft im Gefüge. Man bewegt sich. Aus diesem Geist haben wir Räume gemacht. Aber unser Konzept hat natürlich auch seinen Preis; drei Gebäude statt einem heißt ja etwa auch: Es braucht drei Aufzüge, drei Foyers, drei Mal Nebenräume statt nur einem Mal.
Hans Mödl Der kleine Platz vor dem Rathaus – das finde ich am allerschönsten. Wenn es Trau-ungen gibt, dann steht man bei schönem Wetter noch lange herum und feiert. Oder der Platz vor der Kirche – da bleibt man nach dem Gottesdienst noch ein bisschen, Begegnungen ergeben sich. Oder wenn ich aus dem Saal schaue, dann setzt sich der Raum draußen fort. Das ergibt doch mehr Sinn als ein großes Foyer oder ein weiter Platz. Es ist wie früher mit den Höfen: Da tut sich was, da schaut man rein, wechselt ein paar Worte. Das Beiläufige, Informelle, das ist Leben hier, eine eigene Qualität. Unser Foyer ist offen zum Himmel.
Und wird von Hauswänden gefasst. Liegt da der Bezug zur Architektur in dieser Landschaft?
Sebastian Dellinger Das Altmühl-Jurahaus ist prägend: flachgeneigtes Dach, schiefergedeckt, kompaktes Volumen ohne Dachüberstand, gedrungen, wenig Öffnungen in den massiven Mauern, hell verputzt; ähnlich die Wirtschaftsbauten, doch da sind Fenster, Türen und Tore frei gesetzt. So wollten wir weiterbauen, zeigen, wie das heutigen Ansprüchen gerecht werden kann, dem Wunsch nach mehr Licht im Besonderen. Unsere Fenster sind größer, die Zugänge weit geöffnet und regengeschützt, die Ansichten erlauben sich mehr Freiheit, die Dächer sind raumhaltig genutzt – so finden zwei Geschosse in dem gedrungenen Volumen Platz. Traditionelle Bauteile wie Faschen haben wir aufgegriffen, aber als Gewände aus Betonfertigteilen ausgeführt; die Unebenheit alter Putzflächen ist nun die Lebendigkeit geschlämmten Mauerwerks.
Das Jurahaus ist fast die Abstraktion eines Hauses. Das kommt heutigem Formempfinden entgegen – aber damit wollten Sie es nicht bewenden lassen?
Sebastian Dellinger Die skulpturale Klarheit hat uns zu einem Spiel mit der Geometrie herausgefordert. Der reine Würfel ist jeweils polygonal aufgeweitet, genau an der Stelle, wo sich die Bauten begegnen. Ein spielerisches Mittel, ein Augenzwinkern, um den Platz zu fassen, gedeckte Zugänge zu schaffen und der Urform Haus ein Mehr abzugewinnen.
Aus bestimmten Blickwinkeln sind die Neubauten ganz gewöhnliche Häuser. Wenige Schritte weiter sieht man: Das ist die „Neue Mitte“. Eine Kippfigur, ganz gewöhnliches Immer-Schon und Noch-nie-Dagewesenes, wohl ausbalanciert. Bilden die Bauten ab, was dem Ort widerfährt: ein Dorf, das kein Dorf mehr ist; Neues, das sich Altem verdankt?
Sebastian Dellinger Da sind Alt-und-Neu-Denkfiguren mitunter hilfreich. Die Geometrie war uns wichtig, Spiel mit den Volumen, die neue Räume entstehen lassen. Die neuen Zugänge lassen hinter sich, was traditionell Eingang war, wozu sicher das Licht von oben beiträgt, das hinter sich lässt, was einst Dachfenster war – eben aus der Geometrie geboren. Solches findet man im traditionellen Jura-Haus gewiss nicht. Oder außen: Die Giebel lassen die Symmetrie hinter sich, die Traufen neigen sich.
Und doch nimmt man den Bauten ab, dass sie hierher gehören – nur hierher, auch wegen des Maßstabs?
Sebastian Dellinger Der ist aus dem Ort gewonnen. Die Bauten sind zurückhaltend, dank sinnvoller Funktionszusammenhänge angemessen dimensioniert. Sie sind keine große Geste – aber durchaus selbstbewusst und entschieden der Zukunft zugewandt: Die Räume sind nicht groß, sondern großzügig, die Belegung kann wachsen.
Welchen Anteil, schätzen Sie, hat die Materialität daran?
Sebastian Dellinger Sicher trägt die wertige Stofflichkeit und der einfache Materialkanon zur Akzeptanz bei: Kalkputz, Sollnhofer Platten, Eiche, solide verarbeitet. Nimmt man das in die Hand, ist klar, es ist gut gemacht – und selbstverständlich, wie etwa in einem alten Pfarrhaus hier in der Gegend.
Das konnte man sich finanziell leisten?
Gerd Risch Das rechnet sich. Unsere Generation muss da nicht mehr nacharbeiten, das hat eher für hundert Jahre Bestand.
Hans Mödl Holz, Stein – das schafft Vertrautheit. Das zweischalige Mauerwerk ist gewiss ein Kostenfaktor, aber das bleibt, wenn abgekratzt wird, was andere alles raufgeklebt haben. Den Mehraufwand genau zu beziffern, ist schwierig; mehr als 3 bis 5 Prozent sind es nicht. Im Sinne von Nachhaltigkeit kann ein Bürgermeister das verantworten.
Lässt sich nach zwei Jahren sagen, was die „Neue Mitte“ dem Ort gegeben hat?
Gerd Risch Die Verwaltung wird oft und gern besucht, die Belegung der Veranstaltungssäle steigt und soll in Zukunft in den Händen der Bürger liegen; die Plätze werden zunehmend bespielt. So wird sich die Anlage angeeignet.
Hans Mödl Das steht jetzt. Nun braucht es Zeit. Man muss nicht mit Gewalt etwas inszenieren – es wird schon. Schwierig war das Pflegehaus – beim Rathaus, oben Kleinkinder, unten pflegebedürftige Alte – eine Kombination, die manchem Angst machte. Heute hat die niemand mehr; die Kinder sowieso nicht und die Alten reagieren, wenn sie die Kinder sehen, mit Freude.
Gerd Risch Die Mischung tut gut, die Schnittstellen schaffen Leben. Das ist viel besser, als alles säuberlich getrennt, womöglich weit draußen. Wir wollten die alten Leute, die Kinder, die Eltern, die Besucher der Ämter und der Säle in unserer Neuen Mitte, eine lebendige Ortsmitte und so einen lebendigen Ort.
x
Bauwelt Newsletter
Immer freitags erscheint der Bauwelt-Newsletter mit dem Wichtigsten der Woche: Lesen Sie, worum es in der neuen Ausgabe geht. Außerdem:
- » aktuelle Stellenangebote
- » exklusive Online-Beiträge, Interviews und Bildstrecken
- » Wettbewerbsauslobungen
- » Termine
- » Der Newsletter ist selbstverständlich kostenlos und jederzeit wieder kündbar.
Beispiele, Hinweise: Datenschutz, Analyse, Widerruf
0 Kommentare