Alles in der Hand
Das Museum für Architekturzeichnung der Tchoban Foundation in Berlin feiert zehnjähriges Bestehen. Zu diesem festlichen Anlass zeigt es eine Ausstellung, die einerseits die Geschichte der Sammlung, andererseits aber die Geschichte des Mediums Architekturzeichnung sowie seine Möglichkeiten abbildet.
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Alles in der Hand
Das Museum für Architekturzeichnung der Tchoban Foundation in Berlin feiert zehnjähriges Bestehen. Zu diesem festlichen Anlass zeigt es eine Ausstellung, die einerseits die Geschichte der Sammlung, andererseits aber die Geschichte des Mediums Architekturzeichnung sowie seine Möglichkeiten abbildet.
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Seit zehn Jahren steht das eigenwillige Gebäude in Berlin-Prenzlauer Berg an der Christinenstraße 18a, scheinbar aufgestapelt aus Betonkästen, deren dritter leicht aus der Achse geschoben ist und rechts ein großes Fenster freigibt, während der vierte nach hinten auskragt und schließlich alle vier von einem quer stehenden, rundum verglasten Kasten überragt werden. Rechts schließt das Gebäude an die übliche Berliner Straßenbebauung des späten 19. Jahrhunderts an, links steht es frei und markiert den Zugang zum Gelände des Pfefferbergs mit seinen ehemaligen Fabrikhallen. Ein Gebäude, wie es in Berlin kein zweites gibt.
Es beherbergt das seit zehn Jahren bestehende Museum für Architekturzeichnung, getragen von der Tchoban Foundation ihres Gründers und Stifters, des Architekten Sergej Tchoban. Die Fassaden des Museumsgebäudes lassen erahnen, welchem Zweck es dient, denn die erst in Nahsicht zu entziffernden Lineaturen im Beton stellen Zeichnungen dar – Architekturzeichnungen in Form von Vertiefungen, die sich seriell in den einzelnen Platten wiederholen, aus denen die Fassade in ihren vier Geschossen gebildet wird. Zugleich geben diese Reliefs einen Kommentar ab zu der Frage, ob Beton einförmig ist oder sein muss – er muss es nicht, er kann auch sprechend sein.
Jetzt feiert das Museum mit der Ausstellung „ArchiVision“ sein zehnjähriges Bestehen. Sie zeigt 116 Zeichnungen aus der Stiftungssammlung und Tchobans Privatsammlung, die die Vielfalt und den Reichtum der Gattung der Architekturzeichnung vorführen. Denn das ist das Anliegen des Museums und seines Gründers, die Architekturzeichnung als eigenständige Gattung herauszustellen: nicht nur als Hilfsmittel im Entwurfsprozess, sondern zuallererst als Medium der Ideenfindung, der Selbstreflexion, der Wirklichkeitswahrnehmung um ihrer selbst willen. „Zeichnen ist eine Leidenschaft“, schreibt Sergej Tchoban im Vorwort zum Katalog der Jubiläumsausstellung. Mit anderen Worten: Sie bedarf keiner Zweckbestimmung. Sie folgt dem ureigenen Antrieb des Zeichnenden. Auch deshalb gilt, was Tchoban am Schluss seines Vorworts schreibt: „Der computergestützte Entwurf wird diese Kunst niemals ersetzen können.“
Rund dreißig Ausstellungen hat das Museum in zehn Jahren gezeigt, teils zu historischen Themen, vor allem aber zur Zeichenkunst zeitgenössischer Architekten wie Álvaro Siza, Thom Mayne, Peter Cook oder jüngst des zu früh verstorbenen Aldo Rossi. Die beiden Sammlungen, aus denen die Jubiläumsausstellung schöpft, umfassen beides. Die Auswahl traf Eva-Maria Barkhofen, die viele Jahre die Architekturarchive erst der Berlinischen Galerie und dann der Akademie der Künste geleitet hat. Sie hat thematische Zusammenhänge gebildet und bändigt die Fülle der ausgewählten Arbeiten in einer „Wolkenhängung“,wie sie das nennt, einem Cluster aus mehreren dicht neben- und übereinander angeordneten Arbeiten, wobei beinahe jedes Blatt in einem eigenen Rahmen gefasst und als vollgültiges, eigenständiges Werk gekennzeichnet ist.
Gegliedert ist die Ausstellung in fünf Kapitel. Den Auftakt macht „Die Urskizze“, die Barkhofen als „Gespräch des Architekten mit sich selbst“ bezeichnet. Oft ist ein solches Blatt aber auch nur ein Merkposten, ein Festhalten des flüchtigen Gedankens, so bei Ferdinando Galli-Bibienas Detailstudien der 1730er Jahre oder Alexander Rodtschenkos „Entwurf für einen Kiosk“ von 1919. Ludwig Mies van der Rohes zarte Federzeichnung eines Privathauses von 1935 zeigt einmal mehr, warum der vormalige Bauhaus-Direk-tor unter dem Nazi-Regime nichts bauen konnte und durfte; bemerkenswert nebenbei, dass überhaupt eine Zeichnung von Mies außerhalb des im New Yorker MoMA bewahrten Nachlas-ses zu erwerben war.
Das zweite Kapitel ist mit „Türme der Fantasie“ überschrieben und ist begründet in der reichen Anzahl von Turmdarstellungen und -entwürfen in beiden Sammlungen. Gerade Turmbauten evozieren das Feld der Fantasie, der die Ausstellung als Ganzes ein Denkmal setzt. Deswegen finden sich hier zum Auftakt Fantasien über den Turm zu Babel, so von Gottfried Böhm, der sei-ne eigene Wallfahrtskirche in Neviges in einen solchen Turmbau hineinstellt und gar nicht so weit entfernt ist von des Franzosen Legays „antiker Ruinenlandschaft“ am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Der Sowjet-Avantgardist Jakow Tschernichow, der sich aus den Zwängen des Stalinismus in pseudo-technische Konstruktionen flüchtete, ist mit gleich mehreren Blättern vertreten. Fünf Jahrzehnte später tat es ihm Lebbeus Woods mit Bleistiftzeichnungen ungeheurer Maschinerien gleich.
Unter den „Visionären Stadt- und Wohnwelten“ des dritten Kapitels stechen diejenigen heraus, die die Grenze zur Vedute berühren. Hubert Robert vereint um 1760 das römische Pantheon mit dem damals noch sichtbaren Tiber-Hafen in einer zauberhaften Komposition, während sein Landsmann Claude-Nicolas Ledoux eine Generation später in seinem Entwurf eines Theaters für Marseille die Härte vorführt, die vom Klassizismus her in die Revolutionsarchitektur hinüberführt. Zartes Lineament zeigt daneben die Federzeichnung des großen Otto Wagner mit dem bis in die Details des skulpturalen Dekors ausgeführten Entwurf des Kaiser-Franz-Joseph-Stadtmuseums von 1903. Sieben Jahrzehnte später nutzt Aldo Rossi alle Instrumente von Filzstift bis Fineliner für seine verspielte Studie eines Berliner Wohnhauses, in der man manche Einzelheit erkennt, die Rossi später in seinem ungebaut gebliebenen Entwurf des Deutschen Historischen Museums verwendete.
Das folgende Kapitel der „Bautechnischen Utopien“ führt fort, was im „Turm“-Kapitel bereits angeklungen ist, hier nun mit Zeichnungen von Daniel Libeskind (1981) oder auch Günter Zamp Kelp von der Gruppe „Haus-Rucker-Co“ mit einer „pneumatischen Wohnzelle“ (1967), die übrigens in leicht abgewandelter Form bei der legendären documenta 5 von 1972 realisiert wurde, wenn auch nur temporär. Das Schlusskapitel „Welttheater“ nennt Barkhofen ihre „Lieblingsabteilung – da findet alles zusammen, was man über Architektur überhaupt nur denken kann“. Die Bühnenbildnerei bot stets die Möglichkeit, Fantasien quasi real werden zu lassen. So ist von Karl Blechen ein Kirch- oder Klosterhof in vollständig ausgeführtem Aquarell um 1824 und ein Jahrhundert später von Hans Poelzig eine Burgruine als spontane Bleistiftskizze wohl für ein Filmset zu sehen. Giacomo Quarenghi, einer der Italiener, denen Tchobans Vaterstadt St. Petersburg so viel verdankt, ist mit einer Fantasie aus dem Garten von Zarskoje Selo vertreten.
Am Schluss der Ausstellung geht es schon nicht mehr um Architektur, wenn Alexander Brodsky – ein Hauptvertreter der Moskauer „Papierarchitektur“ am Ende der Sowjetzeit – einen Mann mit Regenschirm zeichnet, auf den allein der Regen niederprasselt. Das Schlussbild der Ausstellung schließlich ist gänzlich abstrakt: Striche, diagonal sich kreuzend, in Rot und Schwarz, wiederum von Rodtschenko, mit dem die Ausstellung begonnen hat. Der Antrieb zu zeichnen behält über allen praktischen Erwägungen die Oberhand. Und die Zeichnung kann – einfach alles.
Zehn Jahre als privates Museum zu bestehen, ist eine bemerkenswerte Leistung. Es ist, über den Betrieb einer Privatinstitution in der durchweg öffentlich finanzierten Kulturlandschaft Berlins hinaus, zugleich eine kulturelle Leistung; denn durch die Arbeit des Museums ist die Gattung der Architekturzeichnung in ihrer Eigenart und ihrem Reichtum ins Bewusstsein gehoben worden. Berlin hat es bis heute nicht geschafft, seine vielfältigen Sammlungen zur Architektur in einem eigenen Museum öffentlich zu machen. Für den Bereich der Architekturzeichnung hat private Initiative es vermocht. Diese Initiative auf Dauer zu stellen, ist Sache auch der Berliner Kulturpolitik.
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