Quartier ohne Eigenschaften
Text: Crone, Benedikt, Berlin; Bruun Yde, Marie, Berlin
Quartier ohne Eigenschaften
Text: Crone, Benedikt, Berlin; Bruun Yde, Marie, Berlin
Es steht nicht gut um unser Land – glaubt man Meldungen aus dem Verbändebündnis Wohnungsbau. „Der Wohnungsbau stürzt ab“, warnte der Bund, in dem sich Verbände des Handwerks und der Immobilienbranche versammeln, im April. Es drohe ein „GAU am Bau“, noch nie sei die Situation so schlecht gewesen. Die verantwortliche Bundesbauministerin Klara Geywitz beschwichtigt: Trotz Krieg und Krise sei 2022 mehr fertiggestellt worden als im Vorjahr. Dass nicht das versprochene Jahresziel erreicht wurde, sondern nur 295.000 Wohnungen, verschweigt sie. Ebenso wenig begegnet Geywitz der Kritik, die Zahlen sagten nichts über die Qualität der Wohnungen aus. Die Ministerin will sich nun dem vermehrten Bau von Einfamilienhäusern widmen, um die Zahlen zu heben.
Womöglich ist der Messwert – die Wohnungszahl – nicht nur zu kurz, sondern auch zu klein gedacht. Rein räumlich. Schließlich macht erst die Lage eine Wohnung bewohnenswert. Wäre das Umfeld egal und wären die Begebenheiten in Halberstadt wie in Hamburg oder in Wuppertal wie in Wien, hätten wir das ganze Drama nicht. Die Bedeutung der Lage ist für die wachsenden Städte natürlich keine Neuigkeit. Daher versuchen einige sich im Kampf gegen die Wohnungsnot daran, eine vollwertige Umgebung gleich mitzubauen. Keine Siedlungen sollen entstehen, sondern Quartiere. Deren Leitbilder changieren zwischen einer Mischungsromantik aus dem Gründerzeitkatalog und dem friedfertigen Mehrfamilienwohnen im Walde.
Malerische Ansprüche prägten eigentlich alle Quartiersplanungen der Vergangenheit. Spätestens seit den 1980er Jahren durchzieht die Planungsbüros und Amtsstuben allerdings der Ehrgeiz, es nun wirklich besser zu machen als die Vorgängergenerationen – und ausschließlich lebenswerte Stadterweiterungen zu planen. Dass das Bestreben allein nicht reicht, diese Erkenntnis bedarf keiner großen Recherche. In jeder Stadt sind in den letzten Jahrzehnten Quartiere entstanden, die offensichtlich hinter dem zurückliegen, was sich ihre Entwerfer erhofften. Als Ursache des Übels gelten einseitige Eigentumsstrukturen, ein überbordendes Bau-GB oder die Pflicht zur hohen Rendite, wodurch generischen Lösungen entstünden. „Wir fangen immer mit Siena an und enden bei Neu-Hohenschönhausen“, berichtet der Neubaubereichsleiter einer großen städtischen Wohnungsbaugesellschaft aus der Praxis.
Ist dem so? Gibt es nicht unter den vielen großen Neubauvorhaben des Landes doch noch Beispiele, die einer Erwähnung wert sind? Wir versuchen eine Bestandsaufnahme und haben für diese Ausgabe neue Quartiere in Hamburg, Berlin, Hannover, Mannheim und München besichtigt. Dazu stöberten wir im Archiv nach Entwicklungen in denselben Städten aus der jüngeren Vergangenheit, die jede für sich zur Entstehung eine andere Qualität in Anspruch nahmen. Nach dem Prinzip des Langzeittests (was sonst wäre einer Quartiersplanung angemessen?) statteten wir auch diesen Orten einen Besuch ab, dreißig bis fünfzig Jahre nach Planungsbeginn. Ein Fotograf begleitete jeweils unsere Autoren, um die Gegenwart in den Quartieren einzufangen. Allein um der eingangs beschworenen Untergangsstimmung ein Pflänzchen entgegenzustellen, sei verraten: Zwar ernüchtert wie so oft die Erfahrung der Realität – und doch ist nicht alle Hoffnung verloren.
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