Nicht Putzen, bitte!
Der Künstler Sebastian Stumpf nutzt den Barcelona-Sessel als Reck und erstaunt mit Parallelwelten im Mies-van-der-Rohe-Haus. Die Ausstellung „Still“ ist die vierte und letzte aus der Reihe Mies – Sitzen und Liegen.
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Nicht Putzen, bitte!
Der Künstler Sebastian Stumpf nutzt den Barcelona-Sessel als Reck und erstaunt mit Parallelwelten im Mies-van-der-Rohe-Haus. Die Ausstellung „Still“ ist die vierte und letzte aus der Reihe Mies – Sitzen und Liegen.
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Kurz stutzt der Besucher im früheren Wohnzimmer. Hat Sebastian Stumpf sich von Thomas Ruffs Serie „La Rêverie“ inspirieren lassen, die hier in der vorletzten Ausstellung gezeigt wur-de? Doch Sprünge, sei es von Brücken oder ins scheinbare Nichts, sind bekannte Mittel des Leipziger Künstlers, die Beziehung von Körper zu Raum auszuloten (Heft 26.2011). Er „befasst“ sich in der Arbeit „Barcelona Chair“ mit dem gleichnamigen Sessel, der im ikonischen Pavillon von Ludwig Mies van der Rohe 1929 für den Besuch des spanischen Königs vorgesehen war.
Der Inbegriff des modernen Herrschersitzes ist längst geradezu inflationär verbreitet, was auch der aktuelle Stückpreis von rund 6000 Euro nicht verhindert. So etwa in den Bundestagsbauten, deren Warte- und Flurbereiche mit dem Sessel ausgestattet sind. Um sechs Uhr morgens, als die Räume menschenleer waren, trat Stumpf mit analoger Kamera und Selbstauslö-ser an, um ausgeklügelte Sprungfiguren an dem gravitätisch auftretenden Sessel einzufangen. Aus den Bildern wählte der Künstler Positionen aus, aus denen nicht deutlich wird, ob er sich im Fall oder Aufstieg befindet.
Der mehrdeutig lesbare Titel „Still“ erklärt sich im einstigen Herrenzimmer. Dort hat Stumpf einen Videostill aus der 2014 entstandenen Serie „Wasserbecken“ auf die Wand kaschiert. Die abgebildete Gestalt ist banal, ganz anders als die Miesʼschen Bassins vor dem Seagram Hochhaus in New York, die den Freiraum auf teuerstes Bauland erweiterten. Der auf dem Bild regungslos im Wasser liegende Künstler kontrastiert die gegenüber stehende Liege, die Mies zusammen mit Lilly Reich entwarf. Die Leihgabe von Knoll International kann ausprobiert werden, wobei der Anblick des edlen Matratzenlagers mehr zur Kontemplation einlädt als seine Nutzung; die ursprünglich hier beheimateten Möbel, ebenfalls von Mies und Reich, waren zweifelsohne bequemer (Heft 10.2018).
Das in eine Zimmerecke des früheren Schlafzimmers projizierte Video von Insekten erweckt ein eigenartiges Gefühl, denn sie stellen die einzigen Lebewesen dar, die im Mies-van-der-Rohe-Haus noch häuslich sind. Mit den abgefilmten Ameisen, Bienen, Spinnen und anderen Gliedertieren, die Stumpf ausdrücklich nicht wegputzen ließ, wird eine unerwartete Verbindung zur Natur hergestellt. Während Mies etwa Gärten auf abstrakte Bestandteile seines architektonischen Konzepts reduzierte, tut sich mit den in Ritzen undhinter Fußleisten lebenden Geschöpfen eine Parallelwelt auf, die anderen, irrational erscheinenden Reizen folgt. Und die, so Stumpf, den Besucher beiläufig in eine Relation zu dem jenseits desindividuellen Gesichtsfeldes liegenden Leben setzt.
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