Wolfsburgs Wachstum
Stadterweiterungsmodelle von 1960 bis heute
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Wolfsburgs Wachstum
Stadterweiterungsmodelle von 1960 bis heute
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Das Wolfsburger Stadtmuseum befindet sich in einer Remise des schönen Renaissance-Schlosses, dem die Stadt ihren Namen verdankt. Hierher zu kommen lohnt sich unbedingt, wird die Entstehung der Stadt gegenüber der Produktionsstätte des Volkswagens doch auf ebenso anschauliche wie lehrreiche Weise erzählt; sogar ein ganzer Friseursalon im schönsten 50er-Jahre-Design, der sich bis Ende der 90er Jahre noch im angestammten Ladenlokal befunden hatte, wurde hier integriert (s. Seite 2). Der Schwerpunkt in der Dauerausstellung liegt auf den ersten Jahren der Stadtentwicklung. Derzeit schließt sich eine ebenso sehenswerte Sonderschau an, die die Stadtentwicklung der 60er Jahre fokussiert – und zwar die ab 1961 entwickelten Stadtteile Detmerode und Tiergarten/Teichbreite – und mit dem aktuellen Erweiterungsgebiet Hellwinkel im Wolfsburger Osten vergleicht.
Der Vergleich ist aussagekräftig, nicht nur weil er ein Schlaglicht auf die Entwicklung des Lebensstandards wirft, sondern auch weil er Fragen an die vorhandene Stadt richtet – und zwar an die gebaute Substanz wie an ihre Bewohner. Etliche Wolfsburger, berichtet Nicole Froberg vom städtischen Forum Architektur, fragten heute, warum die Stadt überhaupt ein derart großes Neubaugebiet in Angriff nehme und Neubürger anlocken wolle. Und dies fragten sie, obwohl sie selbst einst als Neubürger nach Wolfsburg gekommen und auf Wohnungssuche gewesen seien. Dabei liegt der Bedarf auf der Hand: Wenn nur ein Teil der täglich 78.000 Einpendler für einen Wohnsitz am Mittellandkanal gewonnen werden könnte, wäre dies ein Gewinn und wieder ein Schritt hin zu „mehr Stadt“, wonach das junge Wolfsburg noch immer strebt: mehr Dichte, mehr Vielfalt, mehr Dynamik.
Mehr Dichte ist ein nachvollziehbarer Wunsch. Man muss nur vom Wolfsburger Bahnhof zum Schloss spazieren, entlang überdimensionierter Verkehrsanlagen, die wie der in den Maßstab 1:1 gezogene Spielzeugautoteppich eines Heranwachsenden wirken, um diese Sicht auf Wolfsburg zu teilen. Die Tendenz aber weist in eine andere Richtung, dafür genügt ein Blick auf die Statistiken, die auch in der Sonderausstellung präsentiert werden: Lebten in den 60er Jahren durchschnittlich 3,6 Personen in einem Wolfsburger Haushalt, sind es heute nur zwei. Standen damals 12 Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf zur Verfügung, sind es heute 47 (!). Und mussten sich seinerzeit 6,8 Personen einen PKW teilen, besitzt heute jeder Wolfsburger ein eigenes Auto (im Bundesdurchschnitt jeder Zweite).
In diesen fünf Jahrzehnten ist also eine immer weitere Ausdehnung und Dichte-Reduktion zu verzeichnen gewesen. Und die immens gestiegenen Ansprüche stellen die zu Beginn des Wolfsburger Stadtaufbaus errichteten Quartiere heute folgerichtig vor gewisse Probleme (Bauwelt 17–18.2013). Dabei sind Detmerode im Wolfsburger Südwesten und Tiergarten/Teichbreite im Norden noch immer attraktiv, zumindest für Menschen mit einem gewissen Faible für die Architektur der Spätmoderne. So wurden in Detmerode einst prominente Planer für einen Katalog von Musterhäusern gewonnen, die auf knapper Fläche eine hohe Wohnqualität erreichten und mit einem Mix von flacher „Teppichbebauung“ und einzelnen Geschosswohnungsbauten eine erkennbare Silhouette und mithin Identität des Siedlungsganzen erzeugt haben.
Ein klar formulierter Gestaltanspruch, der noch heute anzuspornen vermag: Wie damals wurde auch für das neue Wohngebiet Hellwinkel ein ambitionierter Wettbewerb der Planung zu Grunde gelegt. An der „Bauausstellung Wolfsburg“ wird weitergebaut.
0 Kommentare