Bauwelt

Der Colle Baldi in Olevano Romano

Der Autor verbrachte das erste Quartal 2022 als Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi in Olevano Romano – und fühlte sich beschenkt von den Göttern und Geistern, die hier, hoch über dem Sacco-Tal, wirken.

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

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    Die Stadt liegt ihr zu Füßen: Die Casa Baldi thront oberhalb des Olivenhains über Olevano. Blick vom Centro Storico über Via Cavour/Via VI Giugno
    Foto: Ulrich Brinkmann

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    Die Stadt liegt ihr zu Füßen: Die Casa Baldi thront oberhalb des Olivenhains über Olevano. Blick vom Centro Storico über Via Cavour/Via VI Giugno

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    Blick auf die Casa Baldi vom Norden. Ganz hinten die Albaner Berge, links die Monti Lepini, dazwischen glitzert am Nachmittag das Mittelmeer.
    Foto: Ulrich Brinkmann

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    Blick auf die Casa Baldi vom Norden. Ganz hinten die Albaner Berge, links die Monti Lepini, dazwischen glitzert am Nachmittag das Mittelmeer.

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    Die Terrasse im winterlichen Abendrot.
    Foto: Ulrich Brinkmann

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    Die Terrasse im winterlichen Abendrot.

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    Ausblick als Landschaftsgemälde: Morgendlicher Blick von der Casa Baldi nach Süden auf die Mon­-
    ti Lepini. Hinter ihnen liegt das Meer.
    Foto: Ulrich Brinkmann

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    Ausblick als Landschaftsgemälde: Morgendlicher Blick von der Casa Baldi nach Süden auf die Mon­-
    ti Lepini. Hinter ihnen liegt das Meer.

    Foto: Ulrich Brinkmann

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    Olevano Romano
    Vermessung eines Mythos
    Hg. von Julia Draganović
    128 Seiten mit 76 Abbildungen, 20 Euro
    Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2022
    ISBN 978-3-7533-0243-0

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    Olevano Romano
    Vermessung eines Mythos
    Hg. von Julia Draganović
    128 Seiten mit 76 Abbildungen, 20 Euro
    Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2022
    ISBN 978-3-7533-0243-0

Der Colle Baldi in Olevano Romano

Der Autor verbrachte das erste Quartal 2022 als Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi in Olevano Romano – und fühlte sich beschenkt von den Göttern und Geistern, die hier, hoch über dem Sacco-Tal, wirken.

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Studio Eines von zweien: das obere. Ich habe den Raum nicht vermessen, aber er ist leicht längsrechteckig, vielleicht fünf auf sieben Meter. Man betritt ihn auf der ansonsten völlig geschlossenen Längsseite durch eine hölzerne Tür. Gegenüber, in der Nordostwand, gibt es einen Kamin, eine Fenstertür, die auf eine langgestreckte Dachterrasse führt, und ein Fenster. Auch die Schmalseite zur Linken hat ein Fens­ter, und auch die zur Rechten. Wichtiger aber noch sind die zwei Dachfenster im flach geneigten Schrägdach, dessen First über die kurze Seite spannt. Das Studio ist ein intimer Raum, der sich doch öffnet, zur Landschaft, zum Licht, zu den Bewohnern des Himmels über uns, sei­en es nun die Götter oder nur die Stare, die im Winter in großen Schwärmen über dem Haus und dem Studio kreisen.
Wenn ich könnte – hier wollte ich arbeiten, nicht nur für drei Monate. Ich weiß nicht, was in diesem Raum mit mir passiert, welche verborgenen und schwer zu beschreibenden Kräfte hier wirken: Es ist, als hätten sich die Wände aufgeladen mit der Energie und Schaffensfreude, den Ideen und Gedanken all derer, die hier seit Jahrzehnten eine Auszeit geschenkt bekommen aus ihrem Alltag in Deutschland; als hätten sie eine Kraft verdichtet, die ich nicht anzapfen muss, sondern die einfach zu mir kommt, im Raum ist. Jedenfalls: Ich kann mich an den Tisch setzen, ohne ein genaues Vorhaben für den Tag, mit nur ein paar vagen Ideen für die erste Woche hier und die drei Monate, die vor mir liegen, den Laptop aufklappen, und wenige Minuten später fange ich etwas an, an das ich gar nicht gedacht habe. Schreibe. Einen Satz. Einen zweiten. Einen Absatz. Einen zweiten. Eine Seite. Eine zweite. Noch eine. Noch eine. Noch eine. Dann ist Mittag, und ich muss zurück in den Alltag: Einkaufen. Kochen. Essen mit meiner Tochter, die aus der Schule kommt, aus dem farbenfrohen, spätpostmodernen Neubau, der nun auch schon fast zwanzig Jahre da unten im Tal steht; wenn ich auf die Dachterrasse trete um 14 Uhr, kann ich die Schülerinnen und Schüler über den planen Vorplatz nach Hause strömen sehen. Von zuhause aus Berlin mitgebracht für diesen Moment habe ich ein Gefühl des leichten Ungehaltenseins, eine Mischung aus Trauer und Ärger – ich war gerade so gut im Fluss, wer weiß, wann mir die Rückkehr in diesen Zustand gelingt? Doch ich bin nicht zuhause. Am Nachmittag, nach dem Einkaufen, Kochen, Essen, Miteinanderreden gehe ich wieder hinüber ins Studio, setze mich vor den Laptop, und kann sofort da weitermachen, wo ich zwei, drei Stunden vorher abbrechen musste. Glück gehabt, denke ich.
Doch am nächsten Tag ist es genauso. Am übernächsten auch. Keine Unterbrechung reißt mich aus der Konzentration, und mit jedem Neuansetzen wächst mein Vertrauen, dass ich mich nur wieder hinzusetzen brauche und gleich weitermachen kann, als führte ein Zauber meine Hände und meinen Geist. 15.000 Zeichen. 25.000. 40.000. 75.000. 100.000. Nach sieben Wochen sind es 115.000, etwa ein Drittel dessen, was der Text am Ende wohl haben wird. Dann fällt Putins Armee über die Ukraine her, und wir erkranken an Corona. Genesen gerade rechtzeitig zur Schlusspräsentation, geht es ein paar Tage später schon zurück nach Norden, nach Modena erst, von da nach Deutschland. Der Text ist neun Monate später nicht viel länger geworden. Aber dieses Mal gibt es kein Zurück für mich.
Haus Auch das Haus ist längsrechteckig, vielleicht acht auf achtzehn Meter, es steht parallel zum Studio, mit einem Abstand von rund zwei Metern: ein Gang, wo man sich trifft. Denn es gibt zwei Wohnungen im Haus, eine unten, eine oben, und dann noch ein kleines Apartment, das früher der Unterbringung von Gästen diente, nun aber eine neue Bestimmung hat als Zuhau­-se für einen „kuratorischen Praktikanten“, der das Quartal gemeinsam mit den beiden Stipendia­-ten und ihren Familien auf dem Hügel verbringt. Außerdem sind auch täglich irgendwelche Handwerker auf dem Grundstück, die irgendetwas reparieren, oder Gärtner, die sich um die Pflege der Liegenschaft kümmern; einmal in der Woche kommt das Reinigungsteam, und auch der langjährigen, inzwischen pensionierten Haushälterin, die unterhalb des Hauses wohnt an der schmalen Straße, die zum Friedhof führt, kann man hier begegnen, da sie doch immer noch irgendetwas zu tun, zu verschönern oder zu helfen hat. Nein, man ist nicht allein auf dem Baldi-Hügel. Aber man ist ungestört.
Das Haus sieht wie ein Neubau aus, so frisch gestrichen und tiptop gepflegt, wie es da auf dem Hügel über dem Ort thront. Tatsächlich aber ist es ein altes Gebäude, erbaut 1784 vom Kardinal Scipione Borghese als Sommerhaus – auf diesem Hügel weht selbst bei Gluthitze ein kühlendes Lüftlein. Seit den 1980er Jahren der Ort eines eigenen Stipendiums der Deutschen Akademie Rom, besser als „Villa Massimo“ bekannt, diente die Casa Baldi zuvor als Außenposten der Institution, nachdem die Reichskulturkammer das Anwesen in den dreißiger Jahren erworben hatte. Man darf es sich in dieser Ära wohl als eine Art Zufluchtsort der Rompreisträgerinnen und -träger vorstellen, die hier draußen, in der Ruhe des Hügellandes, der gelegentlich sich einstellenden Paranoia hinter der Umfriedung der Villa Massimo entfliehen konnten. Der Dichter Rolf Dieter Brinkmann hat davon Gebrauch gemacht, Ende 1972; seine Eindrücke und Gedanken beim Herumgehen im Ort und beim Blick in die Ferne sind im Buch „Rom, Blicke“ überliefert, ein Titel übrigens, den Florian Illies einleuchtend als Bezugnahme auf beide Orte gedeutet hat1, auf Rom („Rom“) und auf Olevano („Blicke“). Die Tradition der Casa Baldi als Künstler-Unterkunft reicht aber viel länger zurück. Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts diente sie als Albergo, betrieben von der Familie, nach der es benannt ist, und beliebt unter den in Rom weilenden mittel- und nordeuropäischen Künstlern, die hier, rund sechzig Kilometer von der Ewigen Stadt entfernt, nach Abkühlung, Ruhe und Anregungen anderer Art suchten.
Verzweifelt habe ich für diesen Artikel eine bestimmte Textstelle gesucht, die ich irgendwann irgendwo über das Haus im 19. Jahrhundert gelesen hatte, bei Gregorovius, wie ich mir sicher war, doch in seinen „Wanderjahren in Italien“ konnte ich die besagte Passage nicht finden: Der Autor schrieb da von den Zeichnungen und Bildern, die noch vor ein paar Jahren das Innere des Albergo bedeckt hätten, nun aber überstrichen worden seien. Eine Praxis, die bis heute fortdauert: Ich weiß von einem Gemälde Tim Trantenroths unter der weißen Wandfarbe, der den Sommer 2008 mit Tatjana Doll hier verbrachte und mir seine Arbeiten bei einem Besuch gezeigt hat. Spurlos verschwunden? Nein, nur nicht mehr zu sehen. Aber noch da. Kein Wunder, dass die­se Wände Energien abgeben.
Hügel Warum aber haben auch schon vor 200 Jahren hier Künstler gearbeitet, Maler, Dichter? Von welcher Energie haben sie gezehrt? Die mythischen Berge Latiums sind dank der römischen Geschichtsschreibung bis heute bekannt, man nehme nur die auffälligsten, den Monte Soracte im Norden von Rom oder den Monte Circeo an der Küste im Süden der Hauptstadt. Olevano ist eine alte Ansiedlung, die bis in die frühe Antike zurückreicht, von der noch heute zyklo­pisches Mauerwerk am Rand des mittelalterlichen Kerns kündet, und die direkte Nachbarschaft des Hügels, auf dem die Stadt gebaut ist, zu dem noch etwas höheren Hügel mit dem Pa­noramablick, der die Casa Baldi trägt, lässt kultische Handlungen auf letzterem durchaus denkbar erscheinen. Doch ist nirgends überliefert, dass der Colle Baldi in Vorzeiten eine religiöse Bedeutung hatte; weder bei Historikern ist davon zu lesen, noch von den Olevanesen ist davon zu hören. Die Magie des Ortes ist somit einfach hinzunehmen.
Vor dem Haus, auf der Südwestseite, liegt eine große Terrasse, und der Blick von hier reicht im Grunde schon aus, um drei Monate keine Langeweile zu haben. Jeder Tritt aus dem Haus ist der Eintritt in ein Landschaftsgemälde. Von der Terrasse geht der Blick nach Süden übers Sacco-Tal auf die Monti Lepini, nach Westen auf die Mon­-ti Prenestini (dazwischen, weiter entfernt, die Albaner Berge und, noch weiter weg, nachmittags, bei guter Sicht, das glitzernd vom Thyrre­nischen Meer reflektierte Sonnenlicht, ein gleißend-silbriger Strich), nach Osten auf den Mon­te Scalambra und, dahinter, die Bergketten der Monti Ernici und, gegenüber, der Monti Ausoni, zwischen ihnen die Bahnstrecke Rom-Neapel und die Autostrada del Sole. Dazu, als Einbruch der Gegenwart, seit neuestem der gigantische Amazon-Hub, der wie ein gleißend beleuchte­-ter Landeplatz für außerirdische Flugobjekte in der Dunkelheit des Tals strahlt (für die Götter kann das nicht gebaut sein, die haben schließlich schon ihre Landeplätze und Kontaktorte zu den Irdischen). Zahlreich die Städte und Dörfer, die von der Terrasse aus sichtbar sind, vor allem nach Sonnenuntergang, wenn sie auf den Hügeln und in den Tälern funkeln: Anagni, Paliano, Colleferro, Gavignano, Segni, Rocca Massima, Artena, Rocca di Cave, Capranica Prenestina, Guadagnolo, San Vito Romano. Davor und vor allem aber Olevano Romano, an dessen alten Kern der Zauberberg angrenzt, am Weg von der Piazza San Rocco im oberen Ortsteil zum Friedhof.
Für den Blick nach Norden, über die Neustadt, die man lieber ausblendet, und die Schule, auf den Eichenwald der Villa Serpentara – das zweite Stipendiatenhaus in Olevano, das der Berliner Akademie der Künste gehört – und auf den noch höher gelegenen Ort Bellegra, gibt es die Terrasse des Studios.
Kleine Kleinstadt Die Eindrücke, die das rund 6500 Einwohner zählende Olevano Romano für das deutsche Stipendiatenvölkchen bereit hält, sind leichter zu verarbeiten als das auf die nordischen Seelen einhämmernde und -sägende Rom mit all seinen Meisterwerken aus über 2000 Jahren; auf dem Colle Baldi findet man leichter zu sich selbst wie Zugang zur fremden Umgebung: Da ist der Turm der Colonna-Burg zuoberst über dem mittelalterlichen Zentrum, darunter die Piazza San Rocco mit der nächstgelegenen Caffè-Bar und Tabaccheria, ganz unten, am Piazzale Aldo Moro, steht der ehemalige, zum Café umgenutzte und vor ein paar Jahren renovierte Busbahnhof aus den Fifties (Bauwelt 31.2008), noch heute Ort der Ankunft und des Abreisens für alle, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sprich: einem der blauen Überlandbusse, unterwegs sind – die Bahnstrecke Rom-Neapel mit den Bahnhöfen in Colleferro und Valmontone ist zu umständlich zu erreichen, wenn man kein Auto hat. Zwischen den beiden Plätzen schlängelt sich der Straßenzug Via VI Giugno/Via Cavour den Hügel hoch und bietet alles, was man zum täglichen Leben braucht. Als baulich-räumliches Phänomen viel interessanter aber ist der mittelalterliche Kern, der sich ebenfalls Richtung Südwesten einen Hang hinabstaffelt. Aber ohne Aussicht. Ein enges Labyrinth von Treppenstraßen, Bogengängen und kleinen, überraschend sich weitenden Piazzette, das nur beim ersten Besuch verwirren kann, im Grunde aber völlig vernünftig angelegt ist: Sanft ansteigend, durchzieht eine Serpentinenstraße den Ort, dazwischen bieten Treppenstraßen steile Abkürzungen, in der Mitte steht die Kirche Santa Margherita, zuoberst erhebt sich die Burg. Auf ihren mit runden, buck­ligen Steinen gepflasterten Höfen schleichen Katzen umher und dösen Hunde.
Katze Mitte März, kurz nach der überstandenen Corona-Erkrankung, war sie plötzlich da. Lauerte auf dem Mäuerchen über der Treppe hinab zur Straße oder gleich vor der Küchentür, vielleicht aber auch vor dem Haupteingang. War sie nirgends, war sie überall – und sprang uns plötz­lich von hinten in die Beine, krallte sich fest in den Jeans und war kaum wieder abzuschütteln. Meine Tochter hatte sie irgendwo auf der Straße aufgelesen, eines dieser struppigen, herrenlosen Tiere, von denen es in Olevano etliche gibt; sie schien noch ziemlich klein, kontaktfreudig, aber ein wenig unbeholfen, unwissend, wie man die Zuneigung (und Fürsorge) dieser großen Zweibeiner gewinnen kann. Meine Frau hasste sie und ihre Festkrallattacken, der Nachbar überschüttete sie am Tag der Schlusspräsentation gar mit einem Eimer Wasser, woraufhin sie sich entsetzt in mein Studio flüchtete, erst auf dem Kaminsims einrollte, und dann, als ich den Raum verließ, ins Regal wechselte, auf den Stapel von Skizzen meiner Frau, wie wir später feststellten. Als ich abends noch einmal hochkam, strich sie mir noch einmal um die Beine, danach blieb sie verschwunden. Ich hatte sie Franz Horny getauft, nach dem jungen Maler aus Weimar, der 1824, noch keine 26 Jahre alt, in Olevano, wo er, seit 1818 tuberkulosekrank, gelebt und gearbeitet hatte, verstarb und in der Kirche San Rocco bestattet wurde. Sie kannte sich einfach zu gut aus auf dem Colle Baldi.
Die Bewerbungsfrist für ein Stipendium in der Casa Baldi im Jahr 2024/25 endet am 15. Januar. Nähere Informationen auf www.villamassimo.de

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