Bibliothèque Nationale in Paris
Mit der Rundumsanierung der alten Bibliothèque Nationale in Paris ist dem Atelier Bruno Gaudin ein subtiles und aufregendes Close Reading eines idealtypischen Leseortes gelungen. Denkmalpflegerischer Erhalt und zeitgenössischer Eingriff balancieren sich aus in einer fünfzehnjährigen Arbeit, deren Leitmotiv viel Licht und klare Strukturen war.
Text: Costadura, Leonardo, Berlin
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Der ovale Lesesaal ist dank seines Glasdachs hell und licht. Im Schnitt lassen sich weitere Eingriffe nachvollziehen, die Tageslicht ins Innere bringen, insbesondere im Treppenhaus.
Foto: Takuji Shimmura
Der ovale Lesesaal ist dank seines Glasdachs hell und licht. Im Schnitt lassen sich weitere Eingriffe nachvollziehen, die Tageslicht ins Innere bringen, insbesondere im Treppenhaus.
Foto: Takuji Shimmura
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Die neue Treppe aus handgebürsteten Aluminiumplatten gibt den alten Gemäuern eine neue Dynamik.
Foto: Takuji Shimmura
Die neue Treppe aus handgebürsteten Aluminiumplatten gibt den alten Gemäuern eine neue Dynamik.
Foto: Takuji Shimmura
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Besucher kommen durch den Garten in die neue Empfangshalle. Früher ging man durch den Ehrenhof.
Foto: Takuji Shimmura
Besucher kommen durch den Garten in die neue Empfangshalle. Früher ging man durch den Ehrenhof.
Foto: Takuji Shimmura
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Henri Labrouste entwarf das Magazin, Michel Roux-Spitz erweiterte es in den Boden hinein (Foto unten). Seit der Sanierung kann man dort auch lesen.
Foto: Takuji Shimmura
Henri Labrouste entwarf das Magazin, Michel Roux-Spitz erweiterte es in den Boden hinein (Foto unten). Seit der Sanierung kann man dort auch lesen.
Foto: Takuji Shimmura
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Labroustes Lesesaal von 1868. Unten rechts: der neu gestaltete Lesesaal für Theaterwissenschaft.
Foto: Marchand Meffre
Labroustes Lesesaal von 1868. Unten rechts: der neu gestaltete Lesesaal für Theaterwissenschaft.
Foto: Marchand Meffre
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Die Galerie Mansart im Erdgeschoss mit bleibenden und veränderbaren Ausstellungsmodulen.
Foto: Takuji Shimmura
Die Galerie Mansart im Erdgeschoss mit bleibenden und veränderbaren Ausstellungsmodulen.
Foto: Takuji Shimmura
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Der neu angelegte Garten, in der Zwischenzeit schon üppiger bestückt als auf den Bilderm, mit Blick auf das Hôtel de Tubeuf ...
Foto: Takuji Shimmura
Der neu angelegte Garten, in der Zwischenzeit schon üppiger bestückt als auf den Bilderm, mit Blick auf das Hôtel de Tubeuf ...
Foto: Takuji Shimmura
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... und den neuen Haupteingang.
Foto: Takuji Shimmura
... und den neuen Haupteingang.
Foto: Takuji Shimmura
„Wir haben nicht den leichten Weg gewählt“, sagt Bruno Gaudin im neuen Garten der alten Nationalbibliothek in Paris. Fast fünfzehn Jahre lang arbeitete der Architekt zusammen mit seinem Büro an der Generalüberholung eines Gebäudekomplexes, der über dreihundert Jahre gewachsen ist und bis dato nie in seiner Gänze saniert worden war. 140 Millionen Euro gab das französische Kulturministerium dafür aus, was in Anbetracht der Ausmaße wie der Qualität der Arbeit überraschend wenig ist. „Wenn man die Denkmalsanierungen ausnimmt (nur ein Teil des Bestands ist denkmalgeschützt), haben wir für 200 Euro je Quadratmeter gebaut“, sagt Gaudin, ohne den Hauch eines angeberischen Tons in der Stimme. Die Zahlen sind Ausdruck von zähen Verhandlungen mit Auftraggeber und Brandschutzbehörde, Denkmalpflegeamt und Bibliothekaren, vom Ringen um das bestmögliche Ergebnis.
Das Ziel des „atelier“ (der „Werkstatt“) von Bruno Gaudin war es, den Gebäudekomplex ins 21. Jahrhundert zu bringen, die Einzelteile dabei weiterhin ihre Geschichte erzählen zu lassen. Der Entwurfsprozess entwickle sich aus einer Diskussion mit dem Bestand, aus der Frage: „Was will das Gebäude?“ Das Gebäude will ziemlich viel, denn es beherbergt neben der Bibliothèque Nationale auch das Institut National d’Histoire de l’Art und die École des Chartes, die Eliteschule für Archivare und Historiker. Außerdem will die Bibliothèque Nationale Öffentlichkeits- und Forschungsbibliothek sowie Museum zugleich sein. Eine der Hauptaufgaben für Gaudin war also, Verbindungen zu schaffen: zwischen den drei Institutionen sowie zwischen den zeitlichen und räumlichen Ebenen.
All dies sollte in eine neue Ordnung überführt werden, und dafür mussten die Architekten zunächst einmal entschlacken. Denn über die lange Zeit durchgängiger Nutzung war der Raum immer enger geworden, immer verkrusteter und verwinkelter. Es musste Leere geschaffen werden, Luft zum Atmen und Licht zum Schauen in die Säle gebracht werden. In zwei Bauphasen und bei durchgängiger Nutzung des Gebäudes gelang dieses schwierige Unterfangen, das weit über die Sanierung der großen, bekannten Lesesäle hinausgeht.
Die Geschichte des Ortes beginnt wie so oft in Frankreich mit Ludwig XIV. Auf Drängen des Finanzministers Jean-Baptiste Colbert siedelte man die Bibliothèque du Roi hinter dem Palais-Royal, unweit des Louvre, an. Und zwar dort, wo der Kardinal Mazarin ein bereits bestehendes Gebäude von Mansart für seine private Sammlung hatte erweitern lassen: Schon im Anfang war die Bibliothek also kein Neubau, sondern ein Weiterbau. Von da an wuchs der Buchbestand kontinuierlich und mit ihm die Räumlichkeiten unter sukzessiver Federführung berühmter Architekten wie Robert de Cotte, Henri Labrouste und Michel Roux-Spitz, bis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts klar wurde: Es ist ein ergänzender Neubau an anderer Stelle nötig. Unter Präsident François Mitterrand errichtete Dominique Perrault die neue Bibliothèque Nationale in Form von vier Türmen am Seine-Ufer, die vier aufgeschlagene Bücher symbolisieren sollen. So wurde der Druck vom altehrwürdigen Gebäudekomplex zwischen Rue de Richelieu und Rue Vivienne genommen, und es konnte eine neue Nutzungsperspektive entwickelt werden.
Die Öffnung für das Publikum war eines der Ziele: Die Schätze der Nation, in Form von Büchern, aber auch von Kunstwerken und natürlich die Räumlichkeiten selbst, sollten leichter zugänglich werden. Dafür entwarf Gaudin einen neuen großen Eingang von der rue Vivienne durch den neu angelegten Garten im Innenhof. So präsentiert sich die Bibliothek offen und freundlich. Der alte Eingang in der Rue de Richelieu, monumental und ernst, bleibt bestehen und wird vor allem von Forschern genutzt. Gelangt man also durch den Garten in die Bibliothek, ist der kürzeste Weg vom Empfang aus derjenige in den ovalen Lesesaal, der 1897 von Jean-Louis Pascal entworfen und bis 1932 fertiggestellt wurde. 20.000 Bücher stehen dort im Freihandbestand, von denen 9000 Comics und Kinderbücher sind. Dieser Saal sollte dezidiert ein Ort für alle werden, weshalb er von den Architekten auch so eingerichtet wurde, dass viele Nutzungsweisen gleichzeitig möglich sind. Im inneren Oval stehen Tische, an denen man arbeiten kann, daneben Sessel und Sofas zum gemütlichen Fläzen. Diese innere Fläche ist vom äußeren Wandelgang leicht abgegrenzt durch zwei Ovale aus hüfthohen Bücherregalen, in die noch mal Lese- und Lauschnischen eingelassen sind. Fast unsichtbar hängen Leuchten von der hohen Decke; große Kreissegmente aus stark spiegelndem Material.
Tritt der Besucher aus dem ovalen Lesesaal wieder hinaus, nimmt er die Eingangshalle in ganzer Länge in den Blick. Gaudin und sein Team gestalteten sie lichter und großzügiger, indem sie Zwischenwände und abgehängte Decken entfernten, und gaben ihr die zentrale Verteilerfunktion im Gebäudekomplex. Von dort gelangt man über eine monumentale, aber leichtfüßig sich hochschlängelnde Treppe aus dünnen Aluminiumplatten ins obere Stockwerk, wo es Ausstellungsräume und kleinere, fachspezifische Lesesäle gibt. Die Treppe ist eine der großen Interventionen des Ateliers: An die Stelle eines gemauerten Treppenhauses, das platz- und lichtraubend war, setzten die Architekten eine kühne Spirale, deren Energie einen im Eilschritt hinaufsausen lässt und deren handgebürstete Oberfläche das Licht von der gläsernen Decke auf komplexe Art und Weise bricht und dank ihrer Durchlässigkeit bis ins Untergeschoss verteilt. Der Dialog zwischen dem modernen Material und dem alten steinernen Treppenhaus, wie ihn Gaudin intendierte, ist spannungsreich, ohne überspannt zu wirken.
Entscheidet man sich, an der Treppe vorbei Richtung Rue de Richelieu zu gehen, gelangt man linkerhand durch eine kleine Tür in den unglaublichen Lesesaal von Henri Labrouste aus dem Jahr 1868. Mit seinen anorektischen gusseisernen Stützen und federleichten Kuppeln, seinen Fresken von Bäumen und blauem Himmel in den Lünetten entsteht der Eindruck, diese Architektur sage einem, dass sie eigentlich gar nicht existiert, so filigran ist sie: Man sitzt draußen, „unter Wolken (deren ein jedes eine Ruh hat eigen) unter wohleingerichteten Eichen, auf der Heide des Rehs“, um hier einmal die Worte des Dichters Friedrich Hölderlin zu bemühen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs zum von Jean-François Lagneau behutsam denkmalgerecht sanierten Saal liegt das Magazin, ein weiteres Mirabilium Labroustes. Für diesen Raum, der so viele Bücher wie möglich aufnehmen sollte, ging Labrouste strikt funktionalistisch vor. Er konzipierte Bücherregale, die durch alle Etagen durchgehen und nach oben hin schmaler werden – einerseits aus statischen Gründen, andererseits, um mehr Tageslicht von der Glasdecke nach unten dringen zu lassen. Aus dem gleichen Grund zog er anschließend Gitterböden ein. Ein Stockwerk ist 2,30 Meter hoch, sodass man keine Leiter braucht, um an die Bücher zu kommen. Der Architekt Michel Roux-Spitz verdichtete um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Magazin, indem er eine neue metallene Struktur einzog, um mehr Regale einzubauen, und er vertiefte es um zwei Untergeschosse.
Gaudins Aufgabe war es auch hier, zu entschlacken und den Ort öffentlich zugänglich zu machen. Er brachte wieder mehr Licht in den Raum, so wie es einst gedacht war, und fügte Arbeitsplätze an Kopfenden von Bücherregalen ein, außerdem im Erdgeschoss Tische, die sein Atelier eigens für das Magazin entworfen hat. So entstanden sechzig Leseplätze an einem Ort, der eigentlich als Lagerraum gedacht war und dessen Schönheit wir vielleicht erst heute erkennen: Sie steckt in der genialen Entwurfsidee und Ingenieursleistung sowie in der Ästhetik des nackten Materials. Das Magazin ist das Komplement zum hellen, großen Saal, und stand im Gegensatz zu diesem nicht unter Denkmalschutz. Die Feuerschutznormen waren schwer einzuhalten, ein Erhalt der Struktur war alles andere als selbstverständlich.
Zwischen Labroustes Lesesaal und dem neuen Garten an der Rue Vivienne steht ein Gebäudeteil aus dem 17. Jahrhundert aus der Hand von François Mansart. Er besteht aus zwei übereinanderliegenden Galerien, die Mansart für die Unterbringung der Kunstsammlung des Kardinals Mazarin errichtete. Im Erdgeschoss, in der „Galerie Mansart“, die mit reichen Stuckdecken und Fresken versehen ist, entwickelte Bruno Gaudin ein System aus bleibenden und austauschbaren Stellwänden und Hängevorrichtungen für Ausstellungen, sodass kuratorische Arbeit und die Wertschätzung des Raumes nicht im Widerspruch stehen.
Die darüberliegende „Galerie Mazarin“ hingegen ist ein Ausstellungsstück für sich. Sie wurde restauriert und ist in ihrem jetzigen Zustand zweifelsohne das Schmuckkästlein der Bibliothek. Das Tonnengewölbe rhythmisieren vergoldete Stuckaturen, die Fresken von Francesco Romanelli rahmen; zur Gebäudeinnenseite blickt der Besucher über Trompe-l’œil-Balustraden in gemalte italienische Landschaften, während in den echten Fensternischen zum Garten hin Pflanzen und Tiere als Gemälde ins Gebäude hineinkommen und so die steinerne Grenze zwischen innen und außen auflösen.
Vielleicht ist dies das Kernthema des gesamten Gebäudes, denkt man auch an Labroustes Saal, der nur ein pergamentdünnes Zelt sein will, und an Gaudins Ambition, das natürliche Licht in alle Räume zu bringen. So ist die Bibliothèque Nationale wieder zum idealtypischen Ort des Lesens geworden, an dem man draußen in der Natur und geschützt vor ihren Gewalten zugleich ist. Sie ist eine prachtvolle Metapher für das, was Kunst im besten Falle vermag: Natur in Artefakte zu übersetzen, die den Anspruch erheben, sie zu überbieten und zu sublimieren.
Die fingierte Natur in der Galerie Mazarin zieht uns wieder hinaus in die echte, selbstverständlich auch menschengemachte Natur des Gartens. Hier sprießen Reispapierbäume, Bambus- und Bananensträucher, Schachtelhalme und Zimt-Ahorne ganz unfranzösisch unordentlich auf der Wiese. In der Mitte steht ein kreisrundes Brunnenbecken, Wege aus hell- und dunkelroten Ziegeln führen in die vier Himmelsrichtungen. Gilles Clément und das Landschaftsplanungsbüro Tout se transforme haben den Garten fröhlich und einladend angelegt. Zum Haupteingang hin gibt es Tische und Stühle, wo Menschen in der Sonne sitzen, lesen und Kaffee trinken. Décidément, tout se transforme – alles verändert sich, aber auch: Alles lässt sich verändern.
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