Das Chaos organisieren
Thom Mayne über seine Zeichnungen, die derzeit in der Tchoban Foundation in Berlin ausgestellt sind, über die Suche nach neuartigen Systemen von Zusammenhängen und über das Skizzieren am Strand mit einem Bier in der Hand
Text: Friedrich, Jan, Berlin
Das Chaos organisieren
Thom Mayne über seine Zeichnungen, die derzeit in der Tchoban Foundation in Berlin ausgestellt sind, über die Suche nach neuartigen Systemen von Zusammenhängen und über das Skizzieren am Strand mit einem Bier in der Hand
Text: Friedrich, Jan, Berlin
Leider sitze ich hier fest. Ausgerechnet jetzt, wo bei uns Dinge vor sich gehen, die die Idee von Zivilisation, von einer sozialen Gesellschaft infrage stellen. Was mir zurzeit meine geistige Gesundheit erhält, ist meine Arbeit.
Meine Zeichnungen sind eine Methode, zu denken. Konzeptionell zu denken. Ich verbringe gerade eine Menge Zeit damit, zwei bis drei Tage in der Woche. Der Fokus meiner Karriere verändert sich – wieder stärker in Richtung meiner Anfangsjahre. Damals habe ich vor allem Ideen produziert: Eine der schönen Besonderheiten des Architektenberufs ist ja, dass es kein Problem ist, im Alter von um die Vierzig noch nichts in der Realität, sondern ausschließlich Ideen gebaut zu haben.
Es gibt keinerlei Verwirrung darüber, ob ich vielleicht Maler oder Bildhauer bin. Ich bin Architekt. Und meine Zeichnungen sind Experimente zu Organisationsstrukturen. Die Arbeiten repräsentieren etwas, das im Gegensatz zu Gebäuden frei ist von all den äußeren Einflüssen auf die Architektur, die extrem willkürlich sind. Natürlich sind auch diese Zwänge Teil der Verpflichtung, die man als Architekt hat. Aber sie sind nicht der Teil, der mich antreibt, der mich nachts aufstehen lässt, um etwas auszuprobieren.
Die Zeichnungen des Lawrence House waren eine Methode der Selbstkritik. Ich steckte künstlerisch fest und versuchte deshalb, neu über das Haus nachzudenken. Das führte zum Entwurf für das Venice-III-Haus. Was damals geschah: Ich bewegte mich vom eher wörtlichen, figurativen Arbeiten in die Abstraktion. Freunde von mir wie Zaha Hadid sind schneller zur Abstraktion gelangt. Bei mir war das ein gut fünfjähriger Prozess.
Die Reliefs sind enorm präzise. Und in ihrer Präzision versuchen sie, Chaos zu organisieren. Das ist eine Herangehensweise, die nicht aus der Architektur kommt, die kommt von Musikern wie Miles Davis oder Herbie Hancock, wenn sie darüber sprechen, wie sie den vollständigen Angriff auf die figurative Musik starten. Die beiden sagen, es brauche eine ungeheure Präzision, um das zu tun. Diese Vorstellung interessiert mich. Wenn man sich die Reliefs anschaut, kann man völlig neue Welten entdecken, aber es herrscht dort eine Disziplin, eine Rigorosität, die extrem wichtig ist. Leute, die diese Arbeiten in meinem Studio an der Wand sehen, fragen mich immer als erstes: Liegt denen eine Ordnung zugrunde? Natürlich sieht jeder, dass da irgendeine Art von Ordnung herrscht, aber niemand kann sagen, warum. Das ist genau das, wo ich hinmöchte: Ich suche nach neuartigen Systemen von Zusammenhängen.
25 Jahre Arbeit mit dem Computer haben bei mir die Faszination für eine erweiterte Vorstellung von Autorschaft geweckt. Diese Reliefs stellen die Autorität der Hand infrage. Sie sind computergemacht, ich zeichne die nicht. Sie entstehen aus einem Prozess, und ich arbeite mit dem Prozess, nicht mit der Herstellungstechnik. Gleichzeitig wähle ich immer noch aus. Ich entscheide: diese Variante, nicht jene. Doch ich kann nur bis zu einem gewissen Grad auswählen und damit Kontrolle ausüben: Es gibt einfach zu viele Interaktionen, jeder Zeichnung liegen Tausende von Interaktionen zugrunde. Und von den vielen verschiedenen Ergebnissen gibt es welche, die ich lieber mag als andere. Aber weshalb? Die Sache lässt gehörige Zweifel an der gängigen Vorstellung von einem Ideal aufkommen.
Jedes Jahr fahre ich nach Yucatán. Ich sitze dort am Strand mit einem Bier in der Hand und zeichne. Aber auch hier eher wie ein Musiker. Stevie Ray Vaughan, einer der außergewöhnlichsten Gitarristen, die es gab, sagte, es müsse einen Ort geben, an dem man das Hirn abschaltet. Also: Ich kann in einer gewissen Geschwindigkeit zeichnen, und an einem bestimmten Punkt übernimmt das Zeichnen – die offensichtlichen, logischen Mechanismen sind dann ausgeschaltet. Für mich ist das ungeheuer wichtig, wenn ich eine neue Sichtweise auf die Dinge finden will. Das ist in der Musik üblicher als in der Architektur. Architektur ist – ach! – die konservative Kunstgattung. Sie ist so durchtränkt vom Geschäft. Das ist langweilig.
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