Bauwelt

Energiearmut und der European Green Deal

Die Initiative „New European Bauhaus“ will den Green Deal zu einer kulturellen Erfahrung machen. Das Bewusstsein für nachhaltige und traditionelle Baupraktiken kommt in der Gesellschaft nur schneller an, als im Europäischen Parlament Gesetzesänderungen umgesetzt werden.

Text: Stumm, Alexander, Berlin

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Erneuerung der Dämmung in einer Wohnhochaussiedlung in Nischnewartowsk in Russland

Foto: Vladimir Melnikov/Alamy Stock Foto

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Erneuerung der Dämmung in einer Wohnhochaussiedlung in Nischnewartowsk in Russland

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Energiearmut und der European Green Deal

Die Initiative „New European Bauhaus“ will den Green Deal zu einer kulturellen Erfahrung machen. Das Bewusstsein für nachhaltige und traditionelle Baupraktiken kommt in der Gesellschaft nur schneller an, als im Europäischen Parlament Gesetzesänderungen umgesetzt werden.

Text: Stumm, Alexander, Berlin

37,4 Millionen Menschen in der Europäischen Union litten 2018 an Energiearmut – sie können es sich nicht leisten ihren Wohnraum angemessen zu heizen. Diese Zahl dürfte sich seit der Covid-19 Pandemie noch erhöht haben. Gleichzeitig zählt die „Europäische Säule sozialer Rechte“ Energie zu den essenziellen Versorgungsleistungen, auf die Jeder und Jede Anspruch hat. Der Zugang zu Energie ist nicht nur für die Erhaltung biologischer Grundstandards wie Wärme und Licht notwendig, sondern wird außerdem für Geräte benötigt, ohne die eine soziale Teilhabe erschwert oder verhindert wird. 2019 hat die Europäische Kommission den European Green Deal verabschiedet, der die EU bis 2050 klimaneutral machen will. Mit der Entscheidung steht ein umfangreicher Umbau des Energiesektors an, fossile Brennstoffe werden schrittweise reduziert.
Eine Renovierungswelle für Europa
In diesem Spannungsfeld aus akutem Energiebedarf und langfristiger Umstellung auf erneuerbare Energiequellen hat die Europäische Kommission (EK) am 14. Oktober 2020 ihre Strategie für eine „Renovierungswelle“ als Teil des Green Deal veröffentlicht. Sie will die Renovierungsquote in den nächsten zehn Jahren mindestens verdoppeln und dadurch zu einer Verbesserung der Energie- und Ressourceneffizienz von privaten wie öffentlichen Gebäuden beitragen. Auf Gebäude entfallen circa vierzig Prozent des Energieverbrauchs und 36 Prozent der durch den Energieverbrauch bedingten Treibhausgasemissionen in der EU. Bis 2030 könnten Schätzungen der EK zufolge 35 Millionen Gebäude renoviert und bis zu 160.000 zusätzliche grüne Arbeitsplätze im Baugewerbe geschaffen werden. Mit dem Finanzrahmen 2021–2027 und dem Aufbaupaket NextGenerationEU stehen dafür rund 1,8 Billionen Euro zur Verfügung. „Der grüne Aufschwung beginnt bei uns allen zu Hause“, so die Kommissarin für Energie Kadri Simson.
Die Emission von Treibhausgasen reduzieren, die Umwelt schonen, die Lebensqualität der Menschen verbessern und dabei neue Jobs schaf­fen – die Renovierungswelle klingt nach einem ökologischen und sozialen Vorzeigeprojekt. Energiearmut ist aber nur teilweise auf die schlech­te Energieeffizienz von Wohngebäuden zurückführbar. Hinzu kommen sozioökonomische Fak­toren wie niedriges Einkommen und hohe Energiekosten. Energetische Sanierungen können außerdem zu höheren Mietkosten führen und unter Umständen Verdrängungseffekte befeuern. Das Problem ist komplex. Und die Datenlage mit stichhaltigen Informationen ist dünn, was das Statistische Amt der Europäischen Union und die Europäische Beobachtungsstelle für Energiearmut mit neu entwickelten Indikatoren beheben will.
Um die Renovierungswelle voranzutreiben, will die EK strengere Vorschriften, Standards und Informationen in Bezug auf die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden durchsetzen, um Renovierungen im öffentlichen und privaten Sektor attraktiver zu machen. Welche Folgen bringt das mit sich?
Die Wirkmacht des Wärmedurchgangskoeffizienten
Nichts besitzt weniger architektonische Ausstrahlung als das Wärmedämmverbundsystem (WDVS). Das liegt auch daran, dass es keinerlei Gestaltungsfragen aufwirft. Wärmedämmung, wiesie heute verstanden wird, ist eine technische Frage und regulatorische Vorschrift, die in den Untiefen der Fassaden verborgen bleibt und nie in Erscheinung tritt. Mehr noch, lässt sie sich auf eine einzige Zahl reduzieren: den U-Wert. Dieser auf den französischen Physiker Jean Claude Eugène Péclet (1793–1857) zurückgehende Koeffizient bestimmt die Wärmedurchlässigkeit eines Körpers. Er wird in Watt pro Quadratmeter Kelvin (W/m2K) gemessen und ist heute Standardmaß für den Wärmedurchgang bei der Planung von Gebäudehüllen. Je niedriger der U-Wert, desto höher die Wärmedämmeigenschaft. Aus diesem Grund besteht ein WDVS heute aus Mineralwolle oder Kunststoffschäumen.
In nachhaltigen Baupraktiken kommen seit Längerem traditionelle Dämmstoffe wie Baumwolle, Holz, Kork, Lehm, Stroh oder Sägespäne zum Einsatz. Sie stellen eine deutlich geringere bzw. keine Belastung für die Umwelt dar, sind recyclingfähig oder können unproblematisch entsorgt werden, bieten jedoch nach dem U-Wert mitunter schlechte Eigenschaften. Die angekündigte Anhebung der Standards reicht daher nicht. Deshalb gibt die EK die Stärkung der Kreislaufwirtschaft als eine weitere der zentralen Leitaktionen in der Strategie der Renovierungswelle an. Notwendig ist hier die Förderung nachhaltiger Bauprodukte und -leistungen sowie die Über­arbeitung der Rechtsvorschriften und Zielvorgaben für Wiederverwendung und Verwertung.
Neues Eurozentrisches Bauhaus?
Dies müsste schnell gehen. Eine Renovierungswelle mit synthetischen Dämmstoffen jedenfalls läuft Gefahr, unter dem Vorwand der Lösung sozialer Probleme vorrangig etablierte Industrien zu stärken und dabei umweltschädigende Folgeerscheinungen zu vernachlässigen. Derweil will die Renovierungswelle „eine umfassende Veränderung unserer Städte und der baulich gestalteten Umwelt auslösen“. Ziel ist, den Green Deal zu einer kulturellen Erfahrung zu machen. Zentraler Baustein ist das Neue Europäische Bauhaus. Wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt hat, soll mit dieser Institution eine „neue europäische Ästhetik“ gefördert werden.
In einem offenen Brief äußert Hicham Khali­di, Direktor der Jan van Eyck Academie in Maas­tricht Bedenken: „Das Bauhaus wird als Inbegriff der Moderne wahrgenommen. Eine kritische Lesart der Moderne bindet es unweigerlich an eine Vergangenheit des kolonialen Extraktivismus und eine Zukunft des industriellen Kapitalismus.“ Das Neue Europäische Bauhaus trage einen „starken westlichen und eurozentrischen Ton“ und „das Erbe einer problematischen historischen Konfiguration“.
Die Klimakrise stellt sich als eine planetarische Herausforderung dar. Die Energiefrage bietet viele Möglichkeiten, von nicht-westlichen Gestaltungsansätzen zu lernen.

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