Markantes Erbe
Eine dreiteilige Filmreihe des Landschaftsverband Westfalen-Lippe widmet sich seinem architektonischen Erbe der 1960er und 1970er Jahre
Text: am Ende, Hannah, Münster
Markantes Erbe
Eine dreiteilige Filmreihe des Landschaftsverband Westfalen-Lippe widmet sich seinem architektonischen Erbe der 1960er und 1970er Jahre
Text: am Ende, Hannah, Münster
Die Region Westfalen ist der geografisch größte Teil von NRW – das birgt Vielseitigkeit. Über Land, Leute und Leibesverköstigungen kursieren zwar viele Klischees, aber selbst als gebürtige Westfälin sind beispielsweise Töttchen und Potthast nur aus der Theorie bekannt. Neben solchen Lokalspezialitäten weist auch die regionale Architektur ein großes Spektrum auf: Von Backsteinbauten über Fachwerk bis zu Industriedenkmälern lässt sich vieles entdecken. Die jüngst erschienene dreiteilige Filmreihe „Markantes Erbe“ des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe unter der Regie von Maria Anna Tappeiner widmet sich in je 20-minütigen Dokumentationen dem Teil der regionalen Architektur, der in den letzten Jahren in den öffentlichen und auch denkmalpflegerischen Fokus geraten ist: den Bauten der westfälischen Moderne.
Veränderung und Neuanfang prägten die 1960er und 1970er-Jahre in Westdeutschland. Das Trauma des Zweiten Weltkrieges schien überwunden und die Menschen waren an den Wohlstand des Wirtschaftswunders gewöhnt, während gleichzeitig – besonders unter Jüngeren – der Ruf nach Reformen und Wandel lauter wurde. In der Architektur zeigte sich das durch Projekte, bei denen mit neuen Formen, Konstruktionen und Materialien experimentiert wurde. Noch heute zeigen die vielseitigen Zeugnisse der Zeit dieses Lebensgefühl: Kein Wieder-, sondern Neubau war die Devise! Oft umgesetzt wurde dies bei Gebäuden wie Rathäusern, Schulen und Kirchen, die Orte für die Gesellschaft sein sollten. Die drei Filme widmen sich jeweils einer dieser Typologien, wobei die Zuschauer und Zuschauerinnen unter Begleitung eines Experten von der Stadt und der LWL-Denkmalpflege durch die Bauten geführt werden. Zusätzlich dazu wird die Tour von Bild- und Filmaufnahmen aus der Entstehungszeit untermauert, die die architektonische Qualität herausstellen.
Den Beginn bilden die Rathäuser, die als Zeichen der jungen demokratischen Bundesrepublik und als Zeichen des städtischen Wohlstandes in der neuen Architektursprache entworfen wurden. Vorgestellt werden die Rathäuser von Marl, Castrop-Rauxel und Gronau. Das Marler Rathaus von Jacob Berend Bakema und Johannes Hendrik van den Broek befindet sich, wie viele Gebäude der Entstehungszeit aktuell in Sanierung, doch auf den historischen Aufnahmen wird die Wirkung des Baus, etwa durch die natürliche Foyerbelichtung, deutlich. Spektakulär ist außerdem die Konstruktion der Hängehochhäuser für die Verwaltung, die die ersten Bauten dieser Art in Deutschland waren. Ebenfalls imposant ist das Rathaus-Forum in Castrop-Rauxel nach dem Entwurf von Arne Jacobsen und Otto Weitling. Der neue Stadtmittelpunkt wurde als Zentrum der kommunalen Demokratie errichtet und bis ins kleinste Detail von Jacobsen durchgeplant. Das Beispiel zeigt auch, was an der modernen Formensprache auf Kritik stoßt. So wurde die Stadthalle mit dem schwungvollen Dach oft als Skischanze belächelt, kann aber bis heute durch Flexibilität der Wände und des Bodens in puncto Nutzung überzeugen. Auch das dritte Beispiel aus Gronau von Harald Deilmann hat die typische Flexibilität und Offenheit seiner Entstehungszeit. Das in Gelb und komplementärem Violett gestaltete Gebäude sollte kein Behördenbau, sondern ein Haus für die Bürger und Bürgerinnen sein und stellte mit den Großraumbüros ein Novum für die öffentliche Verwaltung dar.
Der zweite Teil widmet sich Schulen. Den Anfang macht die Geschwister-Scholl-Gesamtschule Lünen von Hans Scharoun. Hier sollen Klassenwohnungen die Möglichkeit zum Wohlfühlen und altersgerechten Lernen bieten. Die Architektur ist Teil der Lernlandschaft und soll sich anpassen sowie Impulse geben. Dieser Anspruch funktioniert bis heute und bietet den Lernenden Möglichkeiten, von denen andere in ihrer Schullaufbahn nur träumen konnten, denn mit dem Skateboard durch die Schule fahren ist hier nicht nur geduldet, sondern gar erwünscht! Ebenfalls aktivitätsanregend ist die Realschule Lemgo von Harald Deilmann. Durch die Raumorganisation um ein pädagogische Zentrum entfallen Flure und es entsteht maximaler sozialer Kontakt. Zudem besticht der Sichtbetonbau durch die zeittypischen Farbakzente, die natürliche Belichtungs und die markante Form. Die von Ludwig Leo als Großraumschule entworfene Bielefelder Laborschule komplettiert das Schultrio. Von außen wie eine Fabrik anmutend, bilden innen Felder und offene Lernlandschaften mit verbindenden Galerien die Räume, wobei die Altersstufen nach Häusern unterteilt sind. Architektur und Pädagogik funktionieren hier als Einheit. Wie bei den anderen Schulen, stehen die Gemeinschaft und die soziale Begegnung im Fokus.
Der finale Part der Dokureihe thematisiert die Kirchen. Innerhalb der Reihe sticht dieser Teil heraus, da gleich fünf Beispiele vorgestellt werden. Dies zeugt von dem hohen Stellenwert zu dieser Zeit: Die Zahl der Gläubigen stieg und ebenso die Bereitschaft, die Glaubenshäuser an die moderne Gesellschaft anzugleichen. So wurden die Kirchen sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Konfession skulptural und ausdrucksstark – ein Experimentierfeld der modernen Architektur. Allein in Westfalen stehen rund 150 dieser Kirchengebäude unter Denkmalschutz. Wie formenreich diese sein können, zeigt die Auswahl des Films: von dem Entwurf einer aufblühenden Rose bei St. Johannes in Telgte von Ludwig Tiepelmann oder den pyramidalen Stadtakzent bei der evangelischen Thomaskirche in Gelsenkirchen von Fred Janowski und Albrecht Egon Wittig über die turmlose Johannes-Kirche als einziger Sakralbau von Scharoun in Bochum und die gleich mit zwei Türmen ausgestattete Friedenskirche der Benediktinerabtei Königsmünster in Meschede von Hans Schilling bis hin zum Sichtbetonbau St. Josef in Bünde von Joachim Georg Hanke, dessen Formen mit der abstrakten Farbgestaltung des Künstlers Otto Herbert Hajek eine Einheit bilden.
So unterschiedlich die vorgestellten Typologien und auch die einzelnen Beispiele auf den ersten Blick sein mögen, so macht die Trilogie doch die Gemeinsamkeiten des Zeitgeistes deutlich: Die Gemeinschaft und der in den 60er und 70er-Jahren noch junge demokratische Grundgedanke beeinflussten die Formen der Architektur. Auch wenn das neue Skulpturale im Auge der Gesellschaft, besonders im Sakralbau, Irritationen hervorrief, vermitteln die bewegten Bildsequenzen durch den Raum in eindrucksvollerweise, welche Raumqualitäten noch heute in dem markanten Erbe der westfälischen Moderne zu entdecken sind. Wer sich selbst einen Eindruck verschaffen möchte, findet die Filmreihe auf dem YouTube-Kanal des LWL.
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