Mehr als kognitives Training
Das architektonisch wie pädagogisch anspruchsvolle Erbe der Pavillonschulen in Kiel ist bedroht.
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Mehr als kognitives Training
Das architektonisch wie pädagogisch anspruchsvolle Erbe der Pavillonschulen in Kiel ist bedroht.
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Einen international einzigartigen, in Teilen denkmalgeschützten, gleichwohl gefährdeten Baubestand weist die Stadt Kiel mit über zwanzig sogenannten Pavillonschulen auf, gebaut zwischen 1948 und 1964. Ihnen galt im Frühsommer ein dreitägiges Online-Symposion des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Unter dem Thema „Licht, Luft und eine neue Pädagogik“ hatte Institutsdirektor Klaus Gereon Beuckers zum internationalen Austausch über diesen Bautyp sowie Schulbautheorien der 1920er bis 1950er Jahre geladen.
Wie viele Errungenschaften der neueren Baugeschichte reagierten auch die Pavillonschule und der Freiluftunterricht auf hygienische und gesundheitliche Missstände des 19. Jahrhunderts. Im simpelsten Fall, als eine im Grünen freistehende Holzbaracke mit großem Austritt ins Freie, rundum durchfenstert und dadurch gut zu durchlüften, sollte so weitverbreiteten Krankheiten wie Tuberkulose oder Rachitis begegnet werden. Freikörper-, Turn- oder Wandervogelbewegung der Jahrhundertwende sowie eine Reformpädagogik, die erstmals die körperliche, geistige und sinnliche Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt stellte, bildeten nach dem Ersten Weltkrieg ein ideelles Bezugssystem, das in vielen europäischen Ländern Alternativen zum mehrgeschossigen, zweibündigen „Kasernentyp“ erprobte. In Deutschland etwa richtete das „Neue Frankfurt“ eine eigene Abteilung für Schulbau ein, dessen Leiter Wilhelm Schütte in Versuchspavillons Raumdimensionen, Belichtungsverhältnisse, Lernsituationen jenseits Frontalunterrichts und flexible Möblierungen erforschte. In England wurde die Pavillonschule sogar zum verbindlichen Bautyp.
Sicherlich war es dann auch der britischen Besatzungsadministration zu verdanken, dass gerade dieser Schultyp in der jungen schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt eine so weite Verbreitung fand. Unter der Ägide des Kieler Hochbauamtsarchitekten, von 1951 bis zur Pensionierung 1962 Magistratsbaudirektor, Rudolf Schroeder (1897−1965) entstanden über zwanzig Grund- sowie weiterführende Schulen dieser Art. Unter ihnen waren 18 neue Standorte, fünf Ersatzbauten oder Ergänzungen kriegszerstörter Vorgängeranlagen, 13 von ihnen wurden seit 1993 sukzessive unter Denkmalschutz gestellt. Weitgehend authentisch erhalten ist der Kieler Bestand, ein einzigartiges lokales, architektonisch zudem homogenes Konzentrat dieses Schultyps, gekennzeichnet durch eine sparsame, regional geprägte Nachkriegsästhetik in handwerklichem Sichtmauerwerk. Kammartig addierte, eingeschossige Zeilen, erschlossen durch lediglich gedeckte oder einseitig verglaste Laufgänge koppeln jeweils wenige Stammklassen, gedacht für den mehrjährigen Verbleib der Schüler und Schülerinnen, zu einer Gemeinschaft. Die quadratischen Klassenräume werden über einen kleinen Seitenraum betreten, sie sind Ost-West-orientiert zweiseitig belichtetet und quer zu durchlüften. Eigens entwickeltes, leichtes Mobiliar lässt sich zu wechselnden Unterrichtssituationen arrangieren oder in die gärtnerisch gestalteten Freiluftklassen hinaustragen. Mehrgeschossige Baukörper, etwa für Fachräume, Bauakzente mit der charakteristischen Uhr sowie Höfe und Schulgärten vervollständigen das jeweils spezifische Bauprogramm in landschaftlich komponierten, individuellen Anlagen.
Durchaus sendungsbewusst vertraten Rudolf Schroeder und die Stadt Kiel ihr kommunales Schulbauprogramm. Zur Kieler Woche 1952 wurde eine Ausstellung mit internationaler Schulbautagung veranstaltetet: „Der neue Schulbau“. 1953 folgte die Teilnahme am Pendant im Zürcher Kunstgewerbemuseum, „Das neue Schulhaus“, Schroeder referierte dort zur „Ausgestaltung der baulichen Anlagen für den Freiluftunterricht“. Zeitgenössische Kritik lobte die kompromisslose Umsetzung des Pavillontyps in Kiel, bemängelte aber auch die flächen- und kostenintensive Bauweise sowie den zu erwartenden hohen Unterhaltungsaufwand im Vergleich zum kompakten Geschossbau. Schroeder konterte im Bauwelt-Heft 35.1956, dass Freiluft-Pavillonschulen sogar wirtschaftlicher sind. Sie benötigten weniger Treppen, Flure, Hallen und teure Brandschutzvorkehrungen, zudem seien durch die in Kiel praktizierten Kombinationen vom Grund- und Mittelschulen teure Fachräume optimal ausgelastet.
Kiel verfügt über ein architektur- wie bildungsgeschichtlich höchst anspruchsvolles Bauerbe, das in seiner Gesamtheit erhaltungswürdig, in der Bausubstanz wohl auch erhaltungs- und entwicklungsfähig ist. Allerdings regt sich Widerstand in der lokalen Politik: Ein interfraktioneller Antrag vom September 2020 beauftragte die Verwaltung mit der zuständigen Denkmalschutzbehörde „einen größeren Handlungsspielraum beim Umgang mit den sog. Schröder-Schulen [sic] zu erwirken“ und „ggf. nur eine oder wenige […] als baugeschichtlichen Erinnerungsort zu erhalten, während ein Großteil […] basierend auf den Grundsätzen moderner Pädagogik frei umgestaltet werden können [sic]“.
Vorausgegangen war die Teilräumung eines Baudenkmals Schroeders, der Friedrich-Junge-Grund- und Gemeinschaftsschule von 1961. Bei Sanierungsvorbereitungen traten Schäden im Dachtragwerk der vier Pavillonzeilen zutage, die deren Standsicherheit infrage stellten. Sie sollen nun denkmalgerecht ertüchtigt, für den Ganztagsbetrieb der Grundschule modifiziert sowie um Differenzierungsräume ergänzt nach den Sommerferien 2023 wieder bezogen werden. Wirtschaftlich nicht zumutbar allerdings sei der weitere Erhalt des Geschossbaus der Gemeinschaftsschule sowie ihrer Versammlungs- und Fachräume, heißt es aus Kiel. Bereits 2013 wurde dienicht denkmalgeschützte Grundschule in Einfeld abgerissen (und durch einen äußerst schlichten „Kasernentyp“ ersetzt). Eine Erosion des Schroeder-Bestandes hat also bereits eingesetzt, im Falle der Friedrich-Junge-Gemeinschaftsschule nun als Präzedenzfall eines Baudenkmals.
Ausgeschlagen wird so auch ein pädagogisches Potential im Zusammenspiel von Architektur und Natur. In Zeiten gesteigerten Umweltbewusstseins und einer Pandemie, wären Freiluftklassen, praktische Übung im Gärtnern, zu Biodiversität bis Insektenkunde kaum zu überschätzende fakultative Lernangebote. Sollte „Schule“ aber nicht generell mehr sein als nur kognitives Training in den „Lernlandschaften“ geschlossener Innenräume?
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