Rasender Stillstand
Berlin wählt neu. Baupolitisch war 2022 ein vergebenes Jahr. Dringend benötigt wird eine Gesamtstrategie, um Klimakrise und sozialen Spannungen zu begegnen.
Text: Stumm, Alexander, Berlin
Rasender Stillstand
Berlin wählt neu. Baupolitisch war 2022 ein vergebenes Jahr. Dringend benötigt wird eine Gesamtstrategie, um Klimakrise und sozialen Spannungen zu begegnen.
Text: Stumm, Alexander, Berlin
Spätestens mit der Annullierung der Wahl hat sich das einst als „arm, aber sexy“ geltende Berlin zu einem Problem für die Demokratie entwickelt. Trotz hohem zivilgesellschaftlichem Engagement laufen in der Verwaltung seit Jahren im Kleinen wie im Großen viele Dinge quer. Ein Beispiel: Ich wohne im Akazienkiez. Hier organisiert sich eine Bürgerinitiative für die Schaffung eines „Kiezblocks“, der Straßen für den motorisierten Durchgangsverkehr sperren will – abends und ehrenamtlich. Dabei hat schon im Juni 2019 die Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg beschlossen, dass die gesamte Strecke vom Rathaus Schöneberg über Belziger Straße und Monumentenstraße bis nach Kreuzberg Fahrradstraße wird. Durchgesetzt ist dies bis heute nicht, was, wie man hinter vorgehaltener Hand hört, am Personalmangel liegt. Mehrere Schritte weiter und wieder zurück ist man bei der traditionsreichen Einkaufsmeile Friedrichstraße. Seit August 2020 war sie versuchsweise verkehrsberuhigt, die Lösung sollte verstetigt werden. Im Oktober 2022 kippte das Verwaltungsgericht die Maßnahme nach einem Eilantrag mit der trockenen Begründung, dass die Straßenverkehrsordnung dafür keine Rechtsgrundlage enthalte. Pünktlich zur Weihnachtszeit war die Friedrichstraße wieder für den Autoverkehr frei. Hastig deklarierte man daraufhin die parallel verlaufende Charlottenstraße zur Fahrradstraße.
Anderes Beispiel: Wohnungsneubau. Dieser ist laut Koalitionsvertrag der rot-grün-roten Regierung „mit höchster Priorität voranzubringen, um der Zielsetzung des Neubaus von 20.000 Wohnungen im Jahr zu entsprechen.“ Nach Prognosen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen sind 2022 lediglich 16.500 neue Wohnungen in Berlin gebaut worden. Noch unrühmlicher sieht es bei den Sozialwohnungen aus: Statt der avisierten 5000 konnten in Berlin letztes Jahr nur 1935 errichtet werden. Dabei besteht überparteilicher Konsens. Im Rahmen des Wahlkampfs fordert die CDU ein Sofortprogramm mit 25.000 Sozialbauwohnungen bis 2025 über Sonderbaurecht, Die Linke will bis 2030 50.000 dauerhaft bezahlbare Wohnungen in kommunaler Trägerschaft errichten.
Mit dem Molkenmarkt kam im September das mehrjährige Verfahren zum prestigeträchtigen Stadtquartier in Berlin-Mitte direkt hinter dem Roten Rathaus zum Ende – vorläufig und ergebnisoffen (Bauwelt 24.2022). Wie Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt bei der Pressekonferenz offenbarte, sei eine Entscheidung nie vorgesehen gewesen. Das widerspricht jedoch der Auslobung, wo es heißt, dass als „Ergebnis des aufwendigen Qualifizierungsverfahrens“ ein „konsensualer Entwurf stehen“ soll, der „die genannten Herausforderungen löst und von allen Beteiligten mitgetragen wird und umgesetzt“ wird. Statt mit dem von einem partizipativen Prozess begleiteten Wettbewerb sollen die weiteren Vorgaben für das Verfahren nun in der Verwaltung des Senats selbst erarbeitet werden. Wer könnte es engagierten Bürgern verdenken, wenn sie sich frustriert abwenden?
Ebenfalls im September ließ Kahlfeldt verlautbaren, dass es für die Bauakademie auf jeden Fall eine Rekonstruktion in historischer Gestalt geben wird (Bauwelt 22.2022). Die Bombe platzte genau in einen von der Bundesstiftung Bauakademie veranstalteten Thinktank, in dem ein vielstimmiges Expertengremium gerade Wettbewerbskriterien für die Wiedererrichtung erarbeiten sollte. Das autoritäre Auftreten der Senatsbaudirektorin führt in weiten Teilen der Architektenschaft zunehmend zu Kopfschütteln.
Noch zum Jahresende wurde trotz Protesten von Initiativen wie Architekturschaffenden das Ende des ikonischen Ostmoderne-Stadions im Jahnsportpark von Rudolf Ortner beschlossen (Bauwelt 21.2020). Der Realisierungswettbewerb (die Bauwelt berichtet in Ausgabe 5) sieht den Abriss des 24.000 Sitzplätze umfassenden Stadions vor, um an entsprechender Stelle ein neues Stadion mit 24.000 Sitzplätzen zu errichten, aber barrierefrei. Unter der Maxime Inklusion hat das Klima Nachsicht – zwei Themen, die man einfach nicht gegeneinander ausspielen sollte.
Was fehlt ist eine baupolitische Gesamtstrategie für Berlin. Das sieht auch das kurz vor der Wahl gegründete Bündnis Klimastadt 2030 so. Es ist eine erstaunliche Allianz aus Berliner Initiativen, Verbänden, Planerinnen und Planern, die sich da zusammengetan haben, um für eine klimagerechte und soziale Stadt einzustehen: Architects for Future, Berliner Mieterverein, BUND, Bauhaus Erde, Initiative Hermannplatz oder die Koalition der Freien Szene gehören genauso dazu wie Matthias Sauerbruch (Sauerbruch Hutton), Theresa Keilhacker (Kazanski . Keilhacker), Eike Roswag-Klinge (ZRS), Nils Buschmann und Tom Friedrich (Robertneun Architekten), Slavis Poczebutas (Mekado), Henri Praeger und Jana Richter (Prager Richter Architekten), Sabine Müller (SMAQ) oder Christian Schöningh (die Zusammenarbeiter).
Mit einem sieben Eckpunkte umfassenden Papier machen sie mit ihrer vielfältigen Expertise Vorschläge zu Themen wie Klimaresilienz, Mobilität, Bauwende und bezahlbarem Wohnraum in einer Metropolregion Berlin-Brandenburg. Forderungen umfassen eine Netto-Null-Versiegelung und umfangreiche Entsiegelungen von Verkehrsflächen, um zunehmenden Hitze- und Extremwetterperioden sowie dem Rückgang der Biodiversität zu begegnen, die Ernennung einer „Umbausenatorin“ in einem transparenten Verfahren als architektonisches Leitbild der Bauwende, ein Abriss-Moratorium und die Festlegung rechtlich bindender Ziele zur schrittweisen Dekarbonisierung des Bausektors bis 2030. Im Sinne der kooperativen Stadt geht es um die Förderung von Strukturen bürgerschaftlichen Engagements durch Experimentierräume, Pilotprojekte und Kooperationsvereinbarungen, um die zeitweise Übertragung von Verantwortungsräumen auf Kiezebene an die Zivilgesellschaft oder um Mehrfachnutzungen öffentlicher Gebäude wie Schulen und Universitäten für die Gemeinschaft. Das Papier sprüht vor Ideen, und man würde sich wünschen, dass die nach der Wahl am 12. Februar gebildete Regierung zu mehr Dialog und echtem Wandel bereit ist.
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