Zu Fuß durch die Stadt
Wir haben uns bei Carlo Ratti Associati über ihre städtebauliche Vision für Pristina und die Manifesta erkundigt.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Zu Fuß durch die Stadt
Wir haben uns bei Carlo Ratti Associati über ihre städtebauliche Vision für Pristina und die Manifesta erkundigt.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Worin besteht Ihr architektonischer Beitrag für die Manifesta in Pristina?
Carlo Ratti Wir waren in Pristina verantwortlich, einen städtebaulichen Rahmen für die Manifesta abzustecken – so wie OMA in Palermo vor vier und MVRDV in Marseille vor zwei Jahren. Wir nennen unseren Ansatz „Open Source Urbanism“; es ist ein Versuch, die Bewohner an der Stadtentwicklung zu beteiligen. Es mangelt in Pristina vor allem an öffentlichem Raum. Wir haben kleine, temporäre Eingriffe im Stadtraum vorgenommen, zu denen die Anwohner ihre Meinung abgeben konnten. Im amerikanischen bezeichnet man die Methode, auf die wir aufbauen, als „vote with your feet“.
Daniele Belleri Man zählt dabei zum Beispiel, wie viele Menschen eine Intervention nutzen. Darüber hinaus sind wir ins Gespräch gegangen, haben Stimmungsbefragungen vorgenommen. Anhand dieser Rückmeldungen konnten wir besser einschätzen, welche unserer Ideen dafür geeignet sein würden, eine dauerhafte Bereicherung für die Stadt darzustellen. Unsere Arbeit zielt darauf, das Bewusstsein für Gemeinschaftsflächen zu schärfen – daraus leitet sich der Titel unserer Vision ab: „Commons Sense“.
Wie sind Sie mit der Stadt auf Tuchfühlung gegangen?
Carlo Ratti Unserem Auftrag ging ein zweistufiges Auswahlverfahren voraus. Als unsere Bewerbung angenommen wurde, haben wir uns mit den Mitarbeitern der Manifesta und mit dem Bürgermeister von Pristina ausgetauscht. Dann haben wir begonnen, Daten zu sammeln und eine urbanistische Analyse vorgenommen. Uns fiel auf, dass es in der Stadt sehr wenig nutzbaren öffentlichen Raum gibt. Das kommt daher, dass sich Einflüsse osmanischer Stadtplanung mit späteren Entwicklungen mischen, insbesondere dem sogeannten Turbo-Urbanismus der frühen 2000er. Wir wollten uns darauf konzentrieren, den öffentlichen Raum zu stärken. Und wir haben eine Methode gesucht, die Bevölkerung in den Prozess einzubinden.
Dafür haben sie auf künstliche Intelligenz zurückgegriffen.
Carlo Ratti Unsere Arbeitsweise ist in zwei Phasen aufgeteilt. Zuerst haben wir ganz klassisch Daten gesammelt, Karten gezeichnet. Aber dann wollten wir ein bisschen weitergehen. Schon sehr früh haben Theoretiker aus Bildern der Stadt, Rückschlüsse auf deren Charakter gezogen. Diese Analysemethode reicht von Kevin Lynch über Rudolph Arnheim zurück bis ins 19. Jahrhundert, etwa zu Camillo Sitte. Heute gibt es, allein durch Google Street View oder Bilder in Social Media, eine schier endlose Zahl an freiverfügbaren Stadtansichten. Wir haben eine Software – eine künstliche Intelligenz – entwickelt, um tausendeBilder auszuwerten.
Welche Art von öffentlichem Raum haben Sie in Pristina gefunden?
Daniele Belleri Einen sehr vom Auto dominierten. Die Leute parken auf den Fußwegen, versperren Zugänge zu Parks.
Was hat das mit der Vergangenheit Pristinas als osmanische, später sozialistische Stadt
zu tun?
zu tun?
Carlo Ratti Der Öffentlichkeit waren in der osmanischen ganz andere Räume zugedacht als in der traditionellen europäischen Stadt mit ihren Boulevards und Plätzen. Osmanische Stadträume sind sehr viel introvertierter. In der sozialistischen Ära wurden dann zwar monumentale Straßen und Plätze angelegt. Sie dienten aber weniger dem Aufenthalt als vielmehr der Repräsentation. Die jüngst einsetzende Phase des Turbo-Urbanismus droht nun die Verhältnisse wiederum zugunsten privater Interessen auszunutzen.
Daniele Belleri Wir haben erfahren, dass die Übergänge zwischen den Regimes der letzten 100 Jahre jeweils sehr harsch waren. Das junge Jugoslawien hat viele Relikte der osmanischen Zeit zerstört – zum Beispiel den alten Bazar in Pristina, der einer der wichtigsten Treffpunkte in der Stadt gewesen war. Pristina sollte eine moderne Stadt sein, und dafür riss man jahrhundertealte Gebäude ab und tilgte mit ihnen auch Lebensweisen. Dann folgte in den Neunzigerjahren, in den Jahren vor dem Krieg, ein weiterer Schock. Es war eine Zeit schlimmer Segregation: Die Albaner wurden gezwungen, sich in den privaten Raum zurückzuziehen. Unter diesem „parallelen System“ richteten sie sich Schulen und Kulturvereine in Häusern und Wohnungen ein. Dadurch hat der öffentliche Raum stark an Attraktivität verloren. Nach dem Krieg war das zwar vorbei, jedoch setzte ein Bauboom ein, der sich weitgehend unkontrolliert durch die Stadt fraß. Diese Tendenz sieht man zwar auch in anderen osteuropäischen Staaten, aber in Pristina sattelt sie auf eine ohnehin schon sehr ungeordnete Situation auf. Die Manifesta rückt den öffentlichen Raum ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Haben Sie auch mit lokalen Architekten zusammengearbeitet?
Carlo Ratti Die Kosovarische Architektur Stiftung hat uns sehr unterstützt bei der Materialrecherche, aber auch Arbeitskräfte vor Ort vermittelt. Außerdem haben wir mit der Architekturfakultät von Pristina zusammengearbeitet. Unsere Interventionen haben wir in gemeinsamen Seminaren entwickelt, und Studierende haben auch die Datenerhebung übernommen. Sie sind im Sommer mit 360°-Kameras durch die Stadt gelaufen und haben Bildmaterial gesammelt, das wir in unsere Datenbank einspeisen konnten – in Pristina gibt es nämlich kein Street View, das wir hätten nutzen können.
Welche Interventionen haben Sie umgesetzt?
Daniele Belleri In Vorbereitung der Manifesta haben wir einen Rahmenplan entwickelt und Ortedefiniert, von denen später Catherine Nichols, die „kreative Mediatorin“, einige als Ausstellungs- oder Aufführungsorte ausgewählt hat. Wir haben an vier Orten vor Beginn des Festivals Vorschläge gemacht, wie man sie für das Alltagsleben nutzbar machen könnte. Es waren temporäre Maßnahmen, die aber zu dauerhaften umgewandelt werden könnten.
Zum Beispiel haben Sie in der Brick Factory den Boden gelb gestrichen.
Daniele Belleri Im Juni 2021 haben wir das Areal geöffnet und die Anwohner eingeladen. Wir haben einen „urban living room“ eingerichtet. Das war die Grundlage für die Workshops, die Raumlabor dort während der Manifesta veranstalten. Außerdem haben wir uns damals das verlassene Gebäude der Hivzi Sylejmani Bibliothek angeschaut. Auf den Parkplatz haben wir ein paar Bänke gestellt. Die Leute kamen und haben sich darüber unterhalten, wo man sonst noch etwas verbessern könnte in der Stadt. Daraufhin hat die Manifesta beschlossen, das Gebäude zu renovieren. Darin befindet sich nun eine dauerhafte Kulturinstitution – und als „Center for Narrative Practice“ ist es ein wichtiger Anlaufpunkt während der Manifesta. Zu guter Letzt haben wir eine Straße vor dem Kulturministerium, in der es einige kleine Restaurants gibt, zur Fußgängerzone umgewandelt.
Welche Rolle spielt der „Green Corridor“ in Ihrem Konzept für Pristina?
Daniele Belleri Dieser Weg liegt an der westlichen Stadtgrenze, er folgt den Bahngleisen der ehemaligen Verbindung Pristina – Belgrad. Er verknüpft zwei Ausstellungsorte der Manifesta: den Jugend- und Sportpalast und die Brick Factory. Er ist eine sehr schlichte Konstruktion mit Pflanzkübeln und Bänken. Das Gleisbett war sehr heruntergekommen, überall lag Müll. Wir dachten uns, dieser Korridor könnte sich über die Jahre in eine Art High Line verwandeln. Das Projekt hat noch immer etwas Temporäres, denn vielleicht könnten irgendwann einmal wieder Züge auf der Strecke verkehren. Es wäre dann einfach, die Latten und das Mobiliar an einen anderen Ort in der Stadt zu bringen. Wir hoffen aber, dass unser Projekt so lang wie möglich bleiben kann, und die Manifesta setzt sich dafür ein.
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