Bauwelt

Brücke


Das große Zeichen


Text: Albani, Julila, Lissabon


Bild 1 von 2
  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Fernando Guerra

    • Social Media Items Social Media Items

    Fernando Guerra

Die portugiesische Kleinstadt Covilhã hat sich eine Ikone für Fußgänger und Radfahrer geleistet. Die spektakuläre Brücke von João Luís Carrilho da Graça führt in 52 Metern Höhe über den Fluss Carpinteira – und über die Ruinen der einst florierenden Textilindustrie.
Zu Fuß oder auf dem Rad können die Einwohner von Covilhã seit kurzem einige entscheidende Meter auf ihrem bislang mühevollen Weg aus der Peripherie ins Stadtzentrum sparen. Sie gewinnen dabei aber mehr, als sie sparen, passieren sie doch die von João Luís Carrilho da Graça entworfene und im September 2009 freigegebene Brücke, die das Carpinteira-Tal überspannt. Sie gewinnen eine neue Wahrnehmung von Zeit und Natur.

Ein Vorzeigeprojekt des Urbanisierungsplans

Die Stadt Covilhã liegt im Zentrum Portugals am Fuße der Serra da Estrela, dem höchsten Gebirge des Landes. Covilhã erhielt 1870 das Stadtrecht und ist seit der Gründung der Universität Beira Interior im Jahr 1979 auch eine Universitätsstadt. Die Flussläufe im Carpinteira-Tal und im benachbarten Goldra-Tal schneiden die 35.000 Einwohner zählende Stadt an ihren Hängen im Norden und im Süden; sie boten die Voraussetzung für die Industrialisierung der Textilherstellung. Auf der weiten Hochebene Cova da Beira, die sich vor dem Gebirge erstreckt, ist die Schafzucht und Produktion von Schurwolle seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Besonders in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts wuchs Covilhã die steilen Hänge entlang über das Carpinteira-Tal hinaus: Es entstanden Arbeitersiedlun­gen, die die expandierende Textil­industrie an den Ufern des Flusses bedienten. Heute liegen die Fabrikgebäude in Ruinen und erinnern, eingebettet in die steil abfallenden granitenen Hänge, die zur Trocknung der Wolle genutzt wurden, sentimental an einst.
Im Rahmen des Entwicklungsprogramms „Polis“ (Programa de Requalificação Urbana e Valorização Ambiental de Cidades), das 1999 für 28 Städte Portugals verabschiedet wurde, ist Covilhã mit insgesamt drei geplanten Brücken (zwei weitere sind im Goldra-Tal vorgesehen) Vorzeigeprojekt eines ehrgeizigen Urbanisierungsplans. Zentral im Polis-Plan steht die Wiederherstellung eines freundlichen urbanen Maßstabs, ausgehend von der Verdichtung des Zentrums, ei­ner am Fußgänger orientierten Mobilität und der Wertschätzung und Einbindung der umgebenden Naturschauplätze mittels Erschließung neuer ebener Verkehrswege für Fußgänger und Radfahrer. Eine Begradigung und Überwindung der beträchtlichen Höhenunterschiede soll durch Brücken und Aufzüge sowie Rolltreppen erfolgen. Das Polis-Programm setzt nicht im historischen Zentrum von Covilhã an, sondern an seiner Peripherie, oder besser, in den Peripherien. Indirekt wirkt es aber auf das Zentrum ein, welches sich auf dem Hügel zwischen den beiden Tälern gefestigt hat. Der von den Architekten und Landschaftsplanern Nuno Teotónio Pereira und Pedro Viana Botelho aus dem Büro Arpas entwickelte Gesamtplan sieht zudem vor, das historische Industrieerbe zu schützen, neu zu definieren und um-
zunutzen.
 
Der antiorganische Verlauf

Brücken sind in Portugal – per Gesetz – Kunstwerke. Die neue Brücke in Covilhã ist nicht nur als große Ingenieursleistung bedeutend, sondern in ihrer Rhythmik auch als Skulptur. Gleich einem Schriftzeichen (einem griechischen ¶) schreibt sich die filigrane Brücke in die extreme topographische Gegebenheit ein und gibt der Stadt eine neue Horizontale sowie die überwältigende Erfahrung der Landschaft.
Carrilho da Graça, der als Urheber unter anderem der Fußgängerbrücke in Aveiro (2002) die Voraussetzung für die von Polis skizzierte Planung mitbrachte, realisiert die physi­sche und direkte Verbindung zwischen der Rua Marquês de Ávila e Bolama und den Anlagen des städtischen Schwimmbads in radikalem und im Verhältnis zur gegebenen Topographie antiorganischem Verlauf. Der 220 Meter lange und 4,40 Meter breite Brückensteg verläuft an seinem höchsten Punkt 52 Meter über dem Flussbett. Nicht etwa senkrecht zum Hang, sondern auf den gegenüberliegenden Zielpunkt gerichtet startet der serpentinenartige Verlauf der Brücke und bricht sich – gemäß William Hogarths „Analyse der Schönheit“ (1753) – graziös zweimal als eine dreigeteilte geschlängelte Linie. Im mittleren Abschnitt verläuft sie orthogonal zum überspannten Flusslauf und mündet zielgerichtet nach einem letzten Achsenwechsel am gegenüberliegenden Plateau. Gestützt wird der sich windende Weg von einem fili­granen Portikus, definiert von zwei zentralen schwarzen Stahlpfeilern, die in Material und Proportionen zum Brücken­steg gehören und, das Flussbett flankierend, im Tal fußen. Hinzu kommen zwei kürzere, dickere Stützen zu den beiden äußeren Enden, die jeweils am Hang stehen. Letztere bestehen aus Betonrohren und sind mit Granitquadern bestückt, die spiralförmig um die Stütze laufen und in Zukunft eine Verschmelzung mit den begrünten Hängen ermöglichen sollen: Im Laufe der Zeit wird das bereits gepflanzte Rankwerk die Umrisse des großen ¶ freigeben, so die Vorstellung des Architekten.

Der Blick in die Tiefe

Der filigrane Brückensteg, zu beiden Seiten von 1,50 Meter hohen Brüstungen begrenzt, ist ausgelegt mit Balken aus Azobéholz, welche in ihrem Abstand und in der Sequenz dem Überquerenden den Blick in die Tiefe erahnen lassen. Nachts werden die Passanten beidseitig durch innen liegende, indirekte, am Fuße der Brüstung verlaufende Lichtbänder begleitet. An den Enden mündet der Brückensteg auf Plateaus, die durch Treppen oder Rampen erreicht werden können.
Was ist also gewonnen? Die Brücke von Covilhã offenbart dem Gehenden oder Radfahrenden eine neue Wahrnehmung der Zeit: Er bewegt sich schneller von A nach B, wird gleichsam aber auch langsamer durch die Wahrnehmung seiner selbst im Schauspiel der Natur, durch die Achsenwechsel der Brücke, alternierend zwischen dem Gebirge und der weiten Ebene. Die kürzeste Distanz zwischen zwei Punkten kann eben auch eine gekurvte Linie sein.
Die aus der Ferne als filigran empfundene Brücke ist ein identitätsstiftendes Element, welches als Akupunktur nicht nur Covilhã, sondern auch die Region stärken kann.



Fakten
Architekten Carrilho da Graça, João Luís, Lissabon
aus Bauwelt 15.2010

0 Kommentare


loading
x

8.2025

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.