Heinrich-Schütz-Schule in Kassel
Text: Ballhausen, Nils, Berlin
Ein kleiner Erweiterungsbau von Schultze+Schulze lockt uns in einen unterschätzten Stadtraum. Die Architekten polieren ein Meisterwerk der Moderne auf. Wäre Architektur ein Schulfach, gäbe es rund um diese Schule viel zu lernen.
Oft ist man froh gewesen, am ICE-Halt Kassel-Wilhelmshöhe nicht aussteigen zu müssen. Wer aber doch einmal die grobschlächtigen Bahnsteigrampen und den grotesken Stützenwald des Bahnhofsvorplatzes passiert hat und auf die Wilhelmshöher Allee tritt, findet sich in einem spannungsvollen Stadtraum wieder. Auf der gegenüberliegenden Seite der großen Ost-West-Achse, die zwischen der Stadt und dem Schloss Wilhelmshöhe verläuft, amtiert das Bundessozialgericht, untergebracht im ehemaligen „Generalkommando“, einem Monumentalgehäuse, das vor lauter Strammstehen jeden Augenblick zu platzen droht. Der NS-Bau war 1938 als Kontrapunkt zu dem Lyzeum gemeint, das Heinrich Tessenow auf dem Nachbargrundstück errichtet hatte – ein international beachteter Bau der frühen Moderne.
Im Jahr 1930 als Malwida-von-Meysenbug-Schule eröffnet, wurde die Lehranstalt 1940 nach dem Komponisten Heinrich Schütz umbenannt; heute ist sie eine Gesamtschule mit musikalischem Profil und wird von rund tausend Schülern besucht. Der weiß verputzte Bau steht in der Senke eines kleinen Parks. Von dem dreigeschossigen Klassentrakt, der sich um einen stillen Hof fügt, gehen an drei der vier Ecken unterschiedlich große Appendizes ab: die Aula, die Turnhalle und die Hausmeisterwohnung. Auf den ersten Blick überrascht es, dass Tessenow den Haupteingang wie beiläufig an der Südost-Ecke angelegt hat, statt die Axialsymmetrie des Klassenhauses zu bedienen. Erst bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass das Gebäude weder Vorder- noch Rückseite hat, sondern sich nach allen Himmelsrichtungen als eine fein austarierte Addition unterschiedlicher Volumina darstellt, die von einem Fensterraster zusammengebunden sind. Tessenows Moderne, die von Reduktion, Proportion und Handwerklichkeit bestimmt wird, ruft: Egalité! – im Gegensatz zur soldatischen Unterordnung, die das Gegenüber propagiert.
Ein Schloss der Bildung
Tessenow konnte, nachdem er den Wettbewerb gewonnen hatte, seine Auftraggeber davon überzeugen, den Bauplatz an das westliche Ende der Goetheanlage zu verlegen, einen lang gestreckten öffentlichen Park. Von dort aus betrachtet, wirkt die Schule noch heute wie ein kleines Schloss – inklusive Herkules-Figur im Hintergrund, die der kurfürstlichen Achse kurzerhand entlehnt zu sein scheint. Diese wichtige stadträumliche Ausrichtung – eben nicht zur Wilhelmshöher Allee, sondern zu dem von Mietwohnungsbauten gesäumten Grünraum – ist vergangenes Jahr durch einen Erweiterungsbau gestärkt worden. 2009 ermöglichte es das Konjunkturprogramm des Bundes, das Baudenkmal einmal mehr an die aktuellen Nutzungsbedürfnisse anzupassen. Das Kasseler Büro Schultze+Schulze wurde mit einem neuen Fachklassen-Anbau beauftragt, der eine frühere Ergänzung aus den siebziger Jahren ersetzen sollte. Jener zweigeschossige Anbau, 1975 in Betrieb genommen, stand vor der Südfassade des Tessenow-Baus und verstellte die historische Ansicht von der Wilhelmshöher Allee. Als Skelettbau mit vorgehängten Waschbeton-Elementen war er ein Kind seiner Zeit und folgte im Sinne der damaligen sozial-liberalen Bildungspolitik eher pragmatischen als konservatorischen Vorgaben. Seine Sanierung war 2009 nicht gewünscht bzw. wurde wegen der erforderlichen Altlastensanierung als unrentabel beurteilt.
Schultze+Schulze docken mit ihrem Erweiterungsbau an den Turnhallenflügel an. Wolfgang Schulze deutet bei unserer Besichtigung an, dass es zahlreicher Gespräche bedurfte, um die Entscheidungsgremien von dieser – heute wie selbstverständlich wirkenden – städtebaulichen Lösung zu überzeugen. Durch die Verlängerung des Turnhallenflügels wird die Schule, die so eigenartig im Grünraum zu schwimmen scheint, punktuell an die Freiherr-vom-Stein-Straße herangeführt. So wird damit zum einen der Haupteingang als
Adresse akzentuiert, zum anderen bekommt der karge Schulhof eine lesbare räumliche Einfassung und mit dem langen überdeckten Gang zudem auch noch einen geschützten Platz für die Regenpausen.
Für immer Sommer?
Der einhüftige Fachklassentrakt für die Fächer Chemie, Physik, Biologie und Musik steht entlang einer Hangkante und ist deswegen im Untergeschoss nur einseitig von Tageslicht erhellt; in den Dunkelzonen wurden Lager für die Sammlungen eingerichtet. Alle 13 Klassenräume hingegen orientieren sich nach Süden, also zum Park und zur Wilhelmshöher Allee. Die durchgehend raumhohe Verglasung ist hier der einzige Luxus, der bei dem knappen Budget umzusetzen war. Wenn die Architekten sagen, ihr Anbau sei „der Moderne verpflichtet, ohne die Tessenow’schen Gestaltungsprinzipien zu verlängern“, so wird dies beispielsweise an den Sonnenschutzelementen deutlich. Von weitem wirken sie wie ausgestellte Markisen, in Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um feststehende Schirme, bespannt mit perforiertem Textilgewebe; die simple und robuste Stahlkonstruktion dürfte recht wartungsarm sein. Ob die heitere Sommerstimmung, die der Sonnenschutz verbreitet, auch bei Schneegestöber und Herbststürmen noch passend wirkt, wird man sehen. Gelungen ist aber die heikle Balance zwischen dem neu eingeführten Element und seiner Beziehung zur Gesamtanlage: Es wirkt eigenständig, aber nicht fremd. Inspiriert sei es, sagt Wolfgang Schulze, auch durch die Architektur von Otto Haeslers nahe gelegenem Seniorenheim (1931), dessen Glasfassade von Markisen beschattet ist.
Wie präzise die Architekten den Tessenow’schen Schulbau weitergedacht haben, zeigt der Blick auf die Grundrisse: Der Laubengang entlang des Erweiterungsbaus führt passgenau in das Foyer. Nach dem Abriss des Siebziger-Jahre-Anbaus ist es wieder visuell mit dem Park verbunden und hat damit an Aufenthaltsqualität gewonnen, vor allem die tiefen Fensternischen werden von den Schülern als informelle Sitzgelegenheiten angenommen. Im Untergeschoss, wo Schultze+Schulze eine Mensa einrichteten, kamen nach dem Abriss einige der originalen Fensterprofile zum Vorschein, die als Vorlage für die neu eingebauten Fenster dienten. Sie unterscheiden sich insoweit von jenen, die das Staatshochbauamt in der neunziger Jahren eingebaut hatte, als dass sie wesentlich schlichter profiliert sind; welche unterschiedliche Anmutung das Gebäude dadurch erhält, lässt sich heute an der Nord-West-Ecke des Klassentrakts begutachten, wo beide Versionen aufeinander treffen.
Im Auftragsvolumen, das inklusive Abriss, Neubau und Sanierung nur 10 Millionen Euro umfasste, lag auch die Herrichtung der Aula, die nach dem Krieg eine Zeit lang als Kino „Liberty“ der US-Army diente. Mit viel Feingefühl und Augenmaß wurde hier ausgebessert, rekonstruiert und ertüchtigt. Die Messlatte für zukünftige Sanierungen des Bestands ist damit gelegt.
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