Bauwelt

Kanagawa-Institut


Stützenwald


Text: Kockelkorn, Anne, Zürich


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    Foto: Christian Richters

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Ein Wald aus mehreren hundert Stahlstützen, eine perforierte Betonschale und ein Holzwabennetz aus Polygonen prägen drei große Hallen. Der kontrollierte Zufall bestimmt das Verhältnis zwischen Architektur und Konstruktion.
Dieses Jahr konnte man sich auf der Architekturbiennale in Venedig davon überzeugen, dass man einen Raum auch mit-hilfe von Bleistift und Radiergummi auskleiden kann. „Pflanzen und Architektur“ lautete der Ausstellungstitel des japani­schen Pavillons, den der Architekt Junya Ishigami gestaltet hat: Minimalistische Bleistiftzeichnungen mit Pflanzen, Bergen, Teichen und kleinen Häuschen waren direkt auf die weißen Wände gezeichnet. Das Grau dieser Strichzeichnungen kon­kurrierte mit den schmutziggrauen Abdrücken der Besucherschuhe auf dem lackierten Boden; der filigran gestaltete Ausstellungskatalog war schon vor der offiziellen Eröffnung ausver­kauft. Zeichnungen und Publikation spiegelten ein Verhältnis zur „Natur“ wider, das auf jeden Fall jenseits von romantischer Sehnsucht oder aktuellen Nachhaltigkeitsdebatten liegt: Junya Ishigami zufolge erreicht man natürliche Phänomene der Außenwelt nur über Abstraktion, und deren zeichnerische Formulierung bilde wiederum die Basis für die Pro­duktion von Architektur. Das gelte für Handzeichnungen ebenso wie für den computergenerierten Entwurf eines Stahltragwerkes, zum Bei­spiel bei der neuen Werkstatthalle des Kanagawa Institute of Technology im südwestlichen Sprawl von Tokio.

Multifunktionales Gewächshaus
Das „KAIT-Workshop-Building“ liegt mitten im Campusgelände der Universität zwischen Bibliothek, Mensa und fünf- bis 13-geschossigen Instituts- und Laborgebäuden – direkt an einer Kirschbaumallee. Es erfüllt die Aufgaben eines offenen Kommunikations- und Werkstattzentrums. Auf 2000 Quadrat­metern können die Studenten hier an ihren eigenen freien Projekten arbeiten; sie haben die Möglichkeit, „Dinge auszuprobieren“, Roboter zu bauen, Lampe und Fernseher zu reparieren. 46 mal 47 Meter misst die Halle, sie ist fünf Meter hoch, hat keine Trennwände und ist über drei Flügeltüren ebenerdig zu betreten. Im Inneren, hinter der umlaufenden Glaswand, scheint sich das Campusgelände als künstlicher Bambushain fortzusetzen; wie eine zufällige Streuung von weißen Origami-Stahlstützen, vorgefundenen Möbeln der Universität, Maschinen und Blumentöpfen. An jeder Stelle hat der Besucher einen anderen Raumeindruck – während die Halle ganz nebenbei auch die Vorgabe einer offenen Erschließung übernimmt, Werkstatt und Administration beherbergt und individuelle Rückzugsbereiche erlaubt. Der selbstverständliche Übergang zwischen Außen und Innen ist wichtig für den offenen Charakter der Werkstatthalle, bedingt jedoch eine fortgeschrittene Haustechnik: Die makellose Glasfassade fordert Klimaanlage und Fußbodenheizung ein, Abluft und Warmwasser werden über die Bodenplatte zur entfernt gelegenen „Außeneinheit“ weitergeleitet. Aber das nachhaltige Energiekonzept ist nicht das Leitmotiv dieser Architektur. Der 34-jährige Architekt wollte diesen Raum so gestalten, als „liefe man durch einen Wald, in dem das Sonnenlicht durch die Baumstämme gefiltert wird“. Der Wald steht auch für die Unbestimmtheit und Öffentlichkeit des Programms: Jenseits der Verbildlichung von Plattitüden heißt das, der architektonische Raum musste universell genug sein, um der Zufälligkeit des Mobiliars zu widerstehen – und er musste unterschiedliche Funktionsbereiche andeuten, ohne sie festzulegen.

Geschlossene und offene Bereiche
Was Ishigami indes eindeutig definiert hat, ist die Positionierung der 306 Stützen, die er durchgängig als „columns“, Säulen, bezeichnet. Wenn er in diesem Zusammenhang die Berliner Nationalgalerie als Referenz erwähnt, so distanziert er sich doch im gleichen Atemzug von der Allgemeingültigkeit des Mies’schen Raums: Werkstattlandschaft für Ingenieurstuden­ten und nationales Kunstmuseum lassen sich nicht vergleichen. Entscheidender für Ishigami ist der Begriff der „accessible abstraction“, der „zugänglichen Abstraktion“, mit dem er seine eigene Variante der ästhetischen Unbestimmtheit bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist das Verhältnis von der Stütze zum Raster der Dachträger. Die Vorgabe des Bauherrn lautete, den Grundriss in geschützte und offene Bereiche einzuteilen, also Bereiche für Information, stille Arbeit, materialorientierte Arbeit, Computerbenutzung etc. zu unterscheiden. Das Stützenraster, mit dem der Architekt zu Beginn gearbeitet hatte, erschien dem Bauherrn dafür zu starr. So verabschiedete sich Ishigami von der Regelmäßigkeit des Rasters. Wenn sich nun im realisierten Bau viele Stützen unter angeflanschten Nebenträgern befinden und nur ein kleiner Teil direkt unter den Hauptträgern des Dachs steht, so hat das nicht nur mit der geforderten Anpassung an die Nutzungsmöglichkeiten zu tun. Die Benutzer des KAIT-Workshop-Building sollten nicht in der Lage sein, aus dem Erscheinungsbild der Konstruktion die Regeln für die Anordnung der Stützen abzuleiten. Erst durch die Inszenierung des Zufälligen, erst dadurch, dass die geomet­rische Nachvollziehbarkeit und die Logik der Konstruktion verwischt sind, werde der architektonische Raum anpassungsfähig an die wechselnden Bedürfnisse der Nutzer. Ishigami feilte mehr als ein Jahr an der Position und den Querschnitten der Stützen, bis er jede einzelne auf den Millimeter genau definiert und ihren Winkel im Raum bestimmt hatte. Grundsätzliches Ziel war, die Stützenquerschnitte so schlank wie möglich zu machen und jeder Stütze eine wenn auch nur minimal andere Form und Position zu geben.

Trennung der Kräfte
Konstruktiv erwies sich diese maximale Reduktion bei größtmöglicher Formenvielfalt nur dann als machbar, wenn man den Kräfteverlauf in den Stützen in Querkräfte und Normalkräfte trennte. Dies führte zu zwei unterschiedlichen Stützenarten mit jeweils anderen Tragwerkseigenschaften: Da gibt es zum einen die zwischen 16 und 45 Millimeter breiten Flachstahlstützen, die biegesteif mit dem Dach verbunden sind und Horizontalkräfte (Wind und Erdbeben) aufnehmen. Und zum anderen gibt es in etwa quadratische Stützen für die Normalkräfte – wie gesagt, so gut wie keine der „columns“ gleicht der anderen. Man kann sich die gewählte Konstruktion etwa so vorstellen als würde man ein fragiles Architekturmodell zum Zwecke der Präsentation auf lange Stöcke stellen. Damit das Ganze seitlich nicht wegkippt, gibt es einige Stöcke mit unter der Platte verborgenen Dreiecken als Aussteifungen. Beim Kanagawa-Institut musste die Trennung des Kräfteverlaufes über derart verschiedene Anschlussdetails in jedem Fall unsicht-bar bleiben. Beim Anschluss an die Dachträger sind die geschraubten Bolzenverbindungen der Druckstützen und die Schweißverbindungen der Horizontalkraftstützen auch nicht zu unterscheiden. Schwieriger war die Frage, wie der Bodenanschluss der beiden Stützenarten identisch zu gestalten sei. Die schlanken Horizontalkraftstützen mussten am Boden ein bewegliches Auflager haben, durften aber unter keinen Umständen Normalkräfte aufnehmen, das sie sich sonst biegen würden. Eine erste Idee zielte darauf ab, sie in Löcher frei beweglich in den Boden zu versenken – was ästhetisch unbefriedigend gewesen wäre. Die Lösung bestand darin, das Dach über den Normalkraftstützen aufzubauen und dann mit einer virtuellen Schneelast durch zusätzliche Stahlträger zu beschweren. Unter diesem erhöhten Druck wurden die Flachstützen per Kran ein­gehängt, am Dach verschweißt und am Boden fixiert. Sobald man die Last wieder wegnahm, „hingen“ diese Stützen am Dach. Sie nehmen jetzt Quer- und Biegekräfte aus Wind- und Erdbebenlast auf, kommen aber nicht in die Verlegenheit, durch Normalkräfte belastet zu werden. Alles in allem ein komplizierter Bauvorgang, um die gewünschte Unbestimmtheit zu erreichen. Der Entwurfsprozess begann mit vielen Handzeichnungen und endete mit computergestützter Parametrisierung. Ishigami ließ seine Mitarbeiter lange per Modell und Handskizze arbeiten, bis sich jeder anhand der kleinen Grundrisspunkte der Stützen den Raum genau vorstellen konnte. Bei den Modellen im Maßstab 1:2o wurde die Stützenposition immer wieder neu markiert, dann wurden die Änderungen nach Winkel und Uhrzeit mit Farben auf dem Grundriss festgehalten und schließlich in den Computer eingegeben. Aber Junya Ishigami betont, dass die Parametrisierung den Entwurfsprozess zu keinem Zeitpunkt bestimmt habe.



Fakten
Architekten Ishigami, Junya, Tokio
aus Bauwelt 42.2008
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