Bauwelt

Kindergarten


Im Zentrum Gemeinschaft


Text: Gabler, Christiane, Basel


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    Foto: Hannes Henz

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Die Stadt Sierre im Unterwallis konnte über genügend Mittel verfügen, um mit dem Neubau des Kindergartens den angrenzenden Platz gleich mit umzugestalten. Giorla & Trautmann durften für Kinder wirklich aller Altersstufen eine sinnfällige Raumfolge entwickeln.
Nur in wenigen gesellschaftlichen Bereichen ist derzeit in der Schweiz so viel in Bewegung wie in der familienergänzenden Kinderbetreuung. Weite Kreise unterstützen den Ausbau der Tagesbetreuung. Die Motive dafür sind jedoch unterschiedlich. Während Wirtschaftskreise vor allem darauf abzielen, gut ausgebildete Frauen während der Kinderphase am Arbeitsmarkt zu halten, geht es anderen um die Erhöhung der Chancengerechtigkeit, um Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder. Die Nachfrage der Familien ist hoch, doch das Angebot an außerfamiliären Betreuungsplätzen liegt im europäischen Vergleich nach wie vor weit zurück. Die Wartelisten der Einrichtungen sind entsprechend lang. Seit acht Jahren ist das „Bundesgesetz über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung“ in Kraft. Dank der darin beschlossenen Anstoßfinanzierung sind vielerorts Betreuungsplätze geschaffen worden – so auch in der kleinen Unterwalliser Stadt Sierre/Siders im Rhône-Tal. Im Jahr 2004 lobte die rund 15.000 Einwohner zählende Kommune einen städtebaulichen Wettbewerb aus, der die Suche nach einem geeigneten Grundstück für eine Betreuungseinrichtung für rund 200 Kinder beinhaltete. Statt im vorgegebenen Perimeter schlug das Architektenteam Giorla & Trautmann einen alternativen Standort an der Place de l’Eu­rope vor. Der nahe dem Bahnhof und dem historischen Ortskern gelegene Platz präsentierte sich damals als ein verkehrsumspülter, geteerter Parkplatz; allenfalls einmal im Jahr, zum Stadtfest, wurde er seiner Funktion als öffentlicher Raum gerecht. Das Konzept der Architekten zielte nicht nur auf eine Belebung und Neudefinition des Platzes, sondern auch auf die Vernetzung der Kindertagesstätte mit der auf der Nordseite vis-à-vis gelegenen Primarschule, einem angrenzenden kleinen Kindertheater und der Bibliothek.
Unvorhergesehene Projekterweiterung
Der Vorschlag war so überzeugend, dass sich aus einem Ankauf im städtebaulichen Wettbewerb ein Direktauftrag des Büros für den Bau der Kindertagesstätte entwickelte. Und glücklicherweise ging man in der weiteren Zusammenarbeit noch einen Schritt weiter. Da ohnehin ein Mangel an Parkplätzen für die umliegenden Wohnungen und Geschäfte herrschte, beschloss die Gemeinde, unter dem Platz eine Tiefgarage zu bauen. So entwickelte sich die Chance, die neue Kinderbetreuungseinrichtung und den Stadtplatz im Zusammenhang zu gestalten, was den Architekten die Möglichkeit gab, ihre Leitidee der außen- und innenräumlichen Verwebung von Blick- und Wegebeziehungen über die Grenzen der Kindertagesstätte hinaus umzusetzen.
Der Platz wird im ansteigenden Gelände klar gefasst; Treppenanlagen sowie zwei Eingangsarchitekturen in die Tiefgarage definieren die Verbindungspunkte mit der Stadtstruktur. Von diesen Punkten aus entwickelt sich eine komplexe Abfolge von Außen- und Innenräumen, welche das Projekt auszeichnet. Der aus dem Baukörper herausgeschnittene Haupteingang in die Kindertagesstätte orientiert sich auf den Platz und leitet in die räumliche Herzkammer des Gebäudes: eine Passage, die an drei farbigen, zueinander verdreht stehenden Sichtbetonkuben und zwei Lichthöfen vorbeiführt. Die Bewegung im Haus erschließt eine vielfältige räumliche Erlebniswelt. Kinder und Eltern können in der Passage spazieren gehen, sich die Fische und Schildkröten anschauen, die in den Innenhöfen leben, auf Sofas sitzen und mit anderen Eltern sprechen; durch die gläsernen Wände der Gruppenräume und des Speisesaals ist zu sehen, was dort passiert. Die Passage ist der zentrale Treffpunkt, Austauschpunkt und Bezugspunkt für alle Kinder.
Die drei unterschiedlich hohen Sichtbetonkuben strukturieren diesen Raum. In ihnen befinden sich die Gemeinschaftsräume der Einrichtung: eine Malwerkstatt, die Kinderküche, ein Theater- und Leseraum. Die opulent dimensionierte Haupttreppe aus Holz inszeniert die Bewegung durch die Raumstruktur. Der Blick von oben nach unten und quer durchs Haus setzt sich fort bis in die Landschaft: zur Schule gegen­über, zur Altstadt, zu den schneebedeckten Gipfeln.
Räume schaffen für jedes Alter
Die Kindertagesstätte umfasst Betreuungsangebote für Kinder im Alter von drei Monaten bis zu zwölf Jahren. Außer der den Platz überblickenden Mensa und der zur Straße orientierten Verwaltung befinden sich im Erdgeschoss die Gruppenräume der Zwei- bis Vierjährigen. Die Räume werden über eine Zone mit Garderobe und Sanitärräumen von der Halle getrennt und besitzen direkten Zugang zu einem teilweise überdachten, geschützten Garten.
Die Kinder im Alter bis zu zwei Jahren haben ihre Räume im ersten Obergeschoss – einschließlich einer eigenen Küche und kleinen Schlafkammern. Auf der Terrasse oberhalb der Verwaltung wurde für sie ein Außenbereich mit Sandkiste und Planschbecken angelegt.
Von der gegenüberliegenden Schule können die fünf- bis zwölfjährigen Schüler über eine Fußgängerbrücke und einen separaten Zugang im Norden das Gebäude betreten. Sie bekommen hier ein warmes Mittagessen und können im Hort die unterrichtsfreie Zeit verbringen. Auch ihre Räume befinden sich im ersten Obergeschoss, sind aber über eine eigene Treppe zu erreichen. Von einem kleinen Balkon aus bietet sich ihnen der Blick auf den Hof ihrer – höher gelegenen – Schule.
Den verschiedenen Bereichen ordneten die Architekten unterschiedliche Farben zu, was den Kindern die Orientierung erleichtert. Fast jede Dachfläche kann betreten und benutzt werden – so auch die Terrasse im Attikageschoss. Hier befinden sich, erschlossen über den großen Turnsaal, Flächen mit weichem Belag für Sport. Auf einer holzbedeckten Terrasse können im Sommer Sonnenschirme aufgestellt werden, zur Erholung und zum Festefeiern.
Betreuung, vernetzt und flexibel
Die Idee der Vernetzung betrifft nicht nur das räumliche Konzept, sondern findet auch in der täglichen Betreuung ihren Widerhall. Die Aktivitäten der Kinder finden nicht abgeschottet in einem Gruppenraum statt. Im Speisesaal mit Ausblick auf den Platz essen die Zwei- bis Zwölfjährigen gemeinsam. Die Küche ist offen, so dass die Kinder sehen können, wie ihr Essen zubereitet wird. Über die Gruppenstruktur hinaus finden in den zentralen „Gemeinschaftsräumen“ übergreifende Aktivitäten statt. Die Räume der jeweiligen Altersklasse sind durch große Schiebetüren miteinander verbunden: Dadurch können die Kinder flexibel betreut werden, und raumübergreifende Aktionen sind möglich. Die Kindertagesstätte ist zwölf Stunden am Tag geöffnet; die Kinder können zu individuellen Zeiten gebracht und wieder abgeholt werden. Am „Terminal“ in der zentralen Halle erhalten die Eltern allgemeine Informationen und individuelle Nachrichten.
Der Neubau der Kindertagesstätte entwickelt im Stadtraum wie im Inneren eine starke Präsenz. Die glatte graue Sichtbetonfassade mit den großmaßstäblichen und plastisch ausformulierten Öffnungen unterstreicht den Charakter eines öffentlichen Gebäudes. Lediglich zurückhaltend und dezent kam Farbe für die Gestaltung der Fassaden zum Einsatz, mit Sonnenstores und Fensterrahmen in verschiedenen Grundtönen wurden auf spielerische Weise Akzente gesetzt und die Nutzungen nach außen thematisiert. Die Ausstrahlung dieses Kinderhauses nicht nur auf den städtischen Raum, sondern auf das ganze Leben in der Gemeinde ist stark. Tatsächlich zogen inzwischen viele Familien zurück ins Stadtzentrum, damit ihre Kinder von der individuellen Betreuung und dem herausragenden räumlichen Potenzial des Gebäudes profitieren können. Die Qualität urbanen Lebens wird auch in Sierre immer mehr geschätzt.



Fakten
Architekten Giorla & Trautmann, Sierre (Schweiz)
Adresse place de l´europe sierre 3960 Sierre, Schweiz


aus Bauwelt 5.2011
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