Bauwelt

Kindertagesstätte


Das Glasscheibenspiel


Text: Cohn, David, Barcelona


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    Foto: Fernando Alda

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In El Chapparal können Kleinkinder Scheerbart’scher Esoterik nachspüren. Mit bunten Glas und traufübergreifenden Fenstern hat Alejandro Muñoz Miranda expressionistische Farbräume komponiert, welche die Welt unter der gleißenden Sonne Südspaniens neu sehen lehren.
Was kann Architektur Kindern bieten, die gerade beginnen, die Welt zu entdecken? Wer – wie der junge Architekt Alejandro Muñoz Miranda – einen Kindergarten bauen will, kommt nicht umhin, sich mit solchen Fragen auseinander­zusetzen. Bauherr der Kindertagesstätte im Bergdorf El Chapparal im Bezirk Albolote bei Granada ist die Bezirksverwaltung. Der Kindergarten liegt am Eingang des Dorfes, das nach einem Erdbeben in den 1950er Jahren mit einfachen, ländli­chen Häusern neu erbaut wurde. 102 Plätze für – zum größten Teil halbtags betreute – Kinder im Alter von wenigen Monaten bis zu drei Jahren stehen zur Verfügung. Das Bauprogramm umfasst sieben Gruppenzimmer mit dazwischen geschobenen Schlafräumen; im Kopfbau sind Mehrzweckraum, Küche und Speisesaal untergebracht. Ergänzt wird das Programm von den teils überdachten Freibereichen.
Bereits 2006 hatte Muñoz den Wettbewerb für das Vorhaben gewonnen, doch erst 2009, als die Kommune dank eines Förderprogramms der Landesregierung über die nötigen Gel­der verfügte, konnte die Realisierung angegangen werden. 600.000 Euro kostete das 900 Quadratmeter große Gebäude; im September 2010 wurde die Einrichtung eröffnet.
Hauptcharakteristikum des Gebäudes ist die Durchlässigkeit, die der Entwurf den heißen Sommern und dem harten Licht der Bergregion zum Trotz einlöst. Der Architekt setzte den eingeschossigen Bau als großen Winkel an die südliche und östliche Kante der Parzelle, so dass der Freibereich möglichst im Schatten liegt. Unter dem Schutz einer weit auskragenden Dachtraufe öffnen geschosshohe Glaswände und -türen die Spielzimmer zum Garten. Auch die Zwischenwände der hintereinander liegenden Räume sind aus Glas, und da sich ihre Flucht in drei Stufen das leicht fallende Gelände hinabtreppt, können die fünf Erzieher mit einem Blick die Übersicht über alle Räume behalten. Für eine flexible Nutzung der Flächen lassen sich außerdem die Glaswände zwischen den Räumen der jeweiligen Altersgruppen (0–1, 1–2 und 2–3 Jahre) zur Seite wegfalten. Die hohe offene Halle am Kopf des Außenbereichs schützt vor Regen und Sonne.
An der Süd- und Ostfassade greift Muñoz auf die orts­typische, weiß verputzte Massivbauweise zurück. Der Gegensatz zwischen den Mauern und der Offenheit des restlichen Baus eröffnet einen visuellen Dialog um die Helligkeit und Intensität des Lichts, das ausgesperrt oder zumindest abgemil­dert werden muss: Im spanischen Süden ist das gleißende Licht quasi eine feindliche Naturgewalt – und doch lebensnotwendig. Der Architekt instrumentiert diesen Dialog mit kräf­tigen Einschnitten in der Südfassade längs des Korridors, in die er eine Serie bunter Fenster setzt. Der intensive Lichteinfall taucht Wände, Raum und jeden, der hier entlanggeht, in ein strahlendes, in allen Farben des Regenbogens schillerndes Bad – eine verspielte Überschwemmung mit Farbe, die die Welt buchstäblich in anderem Licht erscheinen lässt und die Kinder zum Staunen bringen will. In den Gruppenräumen dagegen, wo neutral-weißes Licht vorherrschen sollte, lassen deutlich kleinere Öffnungen entlang der Dachkante helle Sonnenflecken über die eingefärbten Linoleumböden wandern. In der Außenhalle fällt durch einige größere Einschnitte mit far­­bi­gen Glasinlays erneut buntes Licht in den hohen, schattigen Raum.
In allen drei Fällen ist der Lichteinfall durch die Geome­trie der Maueröffnungen scharf definiert: Die Fenster schneiden aus der Kante zwischen Wand und Decke eine L-förmige Scharte heraus. Dieses Verfahren scheint Licht als präzises Raumvolumen darstellbar zu machen: Suggeriert wird ein virtueller Raum, der sich rein aus der Immaterialität des gebündelten Lichts generiert – die zweidimensionale Version eines ähnlichen Effekts, den der Architekt bei seinem ersten Auftrag, den Granada Business Confederation Headquarters (Bauwelt 42.2009) – entdeckt hatte. Dort evozieren dreieckige Laternen in den Ecken des zentralen Atriums schwebende Lichtwürfel. Muñoz selbst nennt diese „Faltung der Glasscheiben zwischen Mauer und Dach“ einen Versuch‚ „die Trennung zwischen Horizontale und Vertikale aufzuheben“. Die Scheiben sind ohne Rahmen eingesetzt, was den immateriellen Charakter betont, außerdem schließen sie außen bündig mit der Mauer ab. In der Außenansicht wird so die abstrakte Wirkung des Baus betont. Das Material selbst ist besonders lichtdurchlässig – Muñoz machte ein Glas ausfindig, welches noch in der Schmelze durchgefärbt wird. Fokussiert man also den Blick ins Innere und schaut durch eine der Scheiben hindurch, ist deutlich erkennbar, wie die Öffnung regelrecht aus dem Gebäudevolumen herausgefräst worden ist; das bunte Licht, das die Seitenflächen der Fensterlaibungen koloriert, verstärkt die Illusion eines eingefärbten Raums zusätzlich.
Die Materialität der Luft verändern
Ob bei Spielzeug, Kleidung, Möbeln oder in der Architektur – allenthalben werden im Design für Kinder kräftige Farben verwendet, die losgelöst vom Material wirken. Muñoz hingegen zielt mit seiner Untersuchung zu Wirkung und assoziativ-spielerischem Effekt von starker Farbe auf ein neues Niveau. In der schmalen Flucht des Korridors bewirkt das von Wänden, Boden und Decke reflektierte kolorierte Licht eine spürbare Einfärbung des Raums: Dadurch wird Raum an sich manifest, wird die Materialität der Luft eine andere. Das Konzept erinnert an die – damals weitgehend uneingelöste – Forderung der deutschen Expressionisten nach einer Architektur des farbigen Raums, wie sie in den Schriften von Paul Scheerbart, Bruno Taut und anderen postuliert wurde. 1914 etwa beschrieb Scheerbart Gebäude, die „das Licht von Sonne, Mond und Sternen“ in die Räume lassen sollten, und zwar nicht durch einige wenige Fenster, sondern durch Wände, die ganz aus farbigem (!) Glas bestehen müssten. Wenn man sich an sein fernes Kinder-Ich erinnert, so muss einem ein solches Eintauchen in ein Wechselbad aus farbigem Raum ähnlich auf­regend vorkommen wie ein Sprung in kaltes Wasser, eine Schlammpackung oder sonst eine kuriose Kneipp-Anwendung. Die Farbfolge im Südkorridor ist die eines Prismas oder Regenbogens, die wandernden Lichtflecken in den Spielzimmern und in der schattigen Freilufthalle erinnern an die bunten Lichtspektren, die von geschliffenem Kristall oder Glas­prismen zurückgeworfen werden. Gerade das Prisma ist eines dieser charmanten Lehrmittel, die Magie und Wissenschaft auf sich vereinen: seine schillernden Effekte illustrieren ein wissenschaftliches Prinzip.
Diese Grundidee verschiebt der Architekt noch ein wenig weiter in Richtung träumerischer Abstraktion, schaut man sich den Deckenleuchter und die Wandmalerei an, die er gemeinsam mit dem Künstler José Manuel Darro für die Freilufthalle entworfen hat. Der Leuchter ist eine aus einem Würfel entwickelte geometrische Form, die Wandzeichnung zeigt eine Serie farbig unterlegter Diagramme, die, so Muñoz‚ „den Schattenwurf der fraktalen Geometrie des Leuchters nachzeichnen“. Zugleich meint man die Umrisse eines Pferdes oder eines anderen springenden Tieres zu erkennen, eine Sonne, Sternkonstellationen, Symbole. In ihrem geometrischen Spiel bezieht sich die Wandzeichnung auf die islamischen Kacheldekors, die man in der nahen Alhambra bewundern kann. Es bleibt offen, welche Schlüsse die Kinder aus solchen, etwas abwegigen Konnotationen ziehen – in jedem Fall ist die Wand­dekoration ein Baustein in der Atmosphäre Scheerbart’scher Esoterik, die Muñoz im strikt funktionalen Rahmen des spani­schen Kindergarten-Standards aufruft. Und wie bei den Fröbel­gaben-Bauklötzen, die einst Frank Lloyd Wright als Kind in die Finger bekam, kann heute noch keiner sagen, welche Wirkung diese meditativen Dekorationen auf die Entwicklung der Kinder haben mögen, die zu ihren Füßen spielen.
Aus dem Englischen von Agnes Kloocke



Fakten
Architekten Muñoz Miranda, Alejandro, Granada
aus Bauwelt 5.2011
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