Bauwelt

London 2012 – Ein unbescheidenes Versprechen



Text: Wainwright, Oliver, London


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    Foto: LOCOG, London 2012

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    Plan: LLDC

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    Plan: LLDC

Bei der Planung für die Olympischen Spiele lag der Schwerpunkt nicht auf den wenigen Wochen des Sports, sondern darauf, was auf sie folgen soll: die Regeneration des Londoner Ostens, in dessen Mitte der Olympiapark liegt. Was ist aus der Vision der nachhaltigen Spiele geworden? Ein kritischer Blick auf den Stand der Dinge und ein Ausblick auf 2014, wenn der Zaun um den Park fallen wird.
Londons Bewerbung für die Olympischen Spiele 2012 klang alles andere als bescheiden. „Es geht bei Weitem nicht nur um die Tage des olympischen Sports“, hatte der Chef der Bewerbung Sebastian Coe angekündigt, „das Danach macht wahrscheinlich 90 Prozent des gesamten Projekts aus“. Damit hat er im Jahr 2005 das Internationale Olympische Komitee überzeugt und zugleich jene Londoner beschwichtigt, denen der Rummel von Großveranstaltungen zuwider ist. Als „Chance für die Regeneration des Lower Lea Valley“, des unteren Lea Flusstals, als „200 Hektar großes städtebauliches Rehabilitationsprojekt in Ostlondon“, bezeichnete das IOC die Bewerbung in seiner Beurteilung und sprach „von langfristigen Verbesserungen für die Einwohner der Stadt in Bezug auf Beschäftigung, Wohnen, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen“.
Die Spiele wurden als Wunderkur für den schlecht beleumundeten Londoner Osten und mit Blick auf seine Attraktivität für Investoren konzipiert; der Standort für den Olympiapark ergab sich dabei fast von selbst. Entlang der Ufer des unteren Lea treffen die vier ärmsten Bezirke der Stadt – Hackney, Tower Hamlets, Newham und Waltham Forest – aufeinander. Der Bahnhof in Stratford wird zu einem der größten Verkehrsknotenpunkte des Landes ausgebaut. Und nicht zuletzt liegt die Fläche im Wachstumskorridor London-Stansted-Cambridge und im Entwicklungsgebiet des nordöstlichen Themseufers.
Der Park entstand auf einer Insel, die zuvor nicht nur durch Wasser, sondern auch durch Eisenbahntrassen und Autobahnen von ihrer Umgebung abgeschnitten war, eine Restfläche, auf der sich all jene Nutzungen und Bevölkerungsgruppen eingerichtet hatten, die nur an den Rändern einer Stadt existieren können. Was aus der Ferne wie eine postindustrielle Brache aussah, war die Heimstatt völlig heterogener Nutzungen zwischen Schwerindustrie und Kleingewerbe: Kirchen in Lagerschuppen neben Wettbüros, Zeitungsdruckereien neben Schrebergärten, einfache Touristenunterkünfte neben dem Busdepot, dazwischen Lachsräuchereien, chinesische Lebensmittelgroßhändler und nach islamischem Recht betriebene Schlachthöfe. Um die Fläche für den Park frei zu machen, verhandelte die regionale Entwicklungsgesellschaft London Development Agency (LDA) mit über 3000 Firmen und Einzelpersonen in langwierigen Enteignungsverfahren und entschädigte sie mit Flächentausch-Aktionen für den Standortwechsel. Für jene auf der „falschen“ Seite des Zauns waren das Ereignisse, die sie nicht so schnell vergessen werden.
Vernunftehe von Schwergewichten
Für die Standortwahl wichtiger vielleicht als alles andere aber war die Möglichkeit, einem gigantischen Stadtentwicklungsprojekt auf die Sprünge zu helfen: Stratford City. Die Pläne dafür reichen bis Mitte der neunziger Jahre zurück. Rund 3 Mrd. Britische Pfund wollten die Entwicklungsgesellschaft Stanhope and Chelsfield investieren, um 73 Hektar aufgelassenes Eisenbahngelände rund um den zukünftigen Bahnhof Stratford International in ein „neues Zentrum der Metropole“ zu verwandeln: 5000 Wohnungen, 500.000 Quadratmeter Bürofläche, 200.000 Quadratmeter Gewerbe und Freizeitangebote. Der Bauantrag nach einem Entwurf von Fletcher Priest, Arup und West 8 war der größte, den London je gesehen hatte, sodass nur wenige daran glaubten, dass das Vorhaben jemals realisiert werden würde. Doch die erfolgreiche Olympiabewerbung, die kurz nach der vorläufigen Baugenehmigung des Projekts bekannt wurde, erwies sich als Katalysator. Nicht zuletzt weil plötzlich 17.000 Sportler und Offizielle untergebracht werden mussten. So schlossen die Veranstalter der Olympischen Sommerspiele und Stratford City eine Vernunftehe, um sich so gegenseitig ihrer Lebensfähigkeit zu versichern.
Der Alltag gestaltete sich komplizierter. Das Vertrauen der britischen Investoren Stanhope and Chelsfield in die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens schwand. Sie verscherbelten das Projekt an die beiden australischen Schwergewichte Westfield und Lend Lease. Westfield übernahm den Gewerbe- und Freizeitbereich und baute in Stratford City eine der größten Malls Europas. Lend Lease trat als Entwicklungsmanager für das gesamte Wohnungssegment auf und überließ, als mit der Finanzkrise auch die große Kreditklemme kam, die finanzielle Verantwortung für den Bau des Olympischen Dorfes der mit öffentlichem Geld finanzierten Olympic Delivery Authority (ODA). Damit war die Idee einer integrierten „Stadt“ beerdigt, kaum dass sie geboren war. Gewerbe und Wohnen waren nicht nur durch die Bahntrasse getrennt, jedes war nun in privater Hand und von ganz unterschiedlichen Interessen gesteuert.
Wo die Champions wohnen
In den Straßen des Olympischen Dorfs wird diese verworrene Vorgeschichte samt ihren vielen Kompromissen offensichtlich. Es liegt etwas eigenartig Schematisches über dem Ort. Dieser Eindruck entsteht nicht nur angesichts der maß- und maßstabslos wirkenden Blockrandbebauung, sondern auch in den 30 Meter breiten Straßenachsen. Sie sind auf Canary Wharf oder das neue Hochhaus The Shard ausgerichtet, als versuchten sie, das Quartier in das Makro-Netzwerk der Londoner Großprojekte einzubinden. Neben den Reihenhäusern der Nachbarschaft wirken die rund 100x80 Meter großen Blöcke mit bis zu zehn Geschossen, als hätte man ein paar Beton-Burgen spanischer Suburbs in die fein gesponnene Struktur des Londoner Ostens versetzt.
Die Bauqualität dieser Blöcke ist außerordentlich hoch, was sie angesichts der stattlichen Bausumme von 1 Milliarde Britische Pfund auch sein sollte. Angeregt durch Vorbilder wie Stockholm-Hammerby und Paris-Bercy liegen auf jeder der elf Parzellen eine gen Norden gerichteten Wand, zwei flankierende Flügel und eine Reihe aus drei „Pavillons“ im Süden, verbunden durch voll verglaste Wintergärten. Die dreigeschossigen Townhouses beherbergen Maisonettes: Deren Erdgeschoss öffnet sich zu einem privaten Garten und einem Gemeinschaftshof auf der Rückseite, jede darüber liegende Wohnung erfreut sich eines, gemessen an englischen Standards, außergewöhnlich großen Balkons. Diese Disposition erlaubt Haustüren auf Straßenniveau, was dann, mit Stellplätzen unterhalb des Hofes, irgendwie doch in Richtung einer anständigen Wohnstraße geht. Um den Bau zu beschleunigen, wurden die Blöcke mit einer einheitlichen Betonskelettkonstruktion errichtet. 17 Architekten waren eingeladen, das „Dressing“ hinzuzufügen. Damit kein Stil-Mischmasch entsteht, wurden strenge Entwurfsregeln erlassen, die zu einer cremefarbenen Fertigteilverkleidung geführt haben. Von jedem möglichen Blickwinkel aus erweckt dieses „Dorf“ den Eindruck einer schroffen Felswand in Beige.
Die Sache mit dem Flat-pack
Der Olympiapark erstreckt sich westlich und südlich des Olympischen Dorfes an den Ufern des Lea und des schmaleren Flusses Bow Back. Er ist eine grüne, hügelige, wenn auch eher sterile Parklandschaft geworden, in die die Hauptwettkampfstätten wie Inseln eingebettet sind. Die industrielle Nutzung des Geländes hatte hochgradige Schwermetall- und Säureverunreinigungen hinterlassen. Der Boden musste gründlich saniert, das Flussbett ausgebaggert werden. Frühere Erwägungen, wie im Emscher Land­schaftspark von Peter Latz einige Zeugnisse der Industrie zu bewahren, wurden angesichts des finanziellen und zeitlichen Aufwandes schnell aufgegeben. Sie wären weniger pittoresk ausgefallen als die vor sich hin rostenden Kohlegiganten an der Ruhr. Niedliche Blumenmuster markieren jetzt die vormaligen Standorte.
Die Wettkampfstätten sind das Ergebnis ständig wechselnder Vorgaben der Organisatoren dafür, was nach den Spielen mit den Stadien passieren soll. Für die architektonisch inter­essantesten – etwa das Velodrom von Michael Hopkins – stand der sogenannte Legacy Modus von Anfang an fest. Da das Radstadion auf der Fläche des beliebten „Eastway Cycling Circuits“ gebaut wurde, der ersten künstlich angelegten Straßenradsportstrecke Englands, erwartete die Radsportszene eine neue Sportstätte von Weltklasse-Format. Zum Velopark, er kostete 105 Mio. Britische Pfund, gehören ein BMX- und ein Mountainbike-Parcours, ein Rund für Straßenrennen – und natürlich das Velodrom, ein schlanker,  6000 Zuschauer fassender Bau mit abgehängtem Dach.
Diese Spann-Konstruktion – so effizient wie das Rad – ähnelt auf den ersten Blick Zaha Hadids Aquatics Centre weiter südlich, bei dem allerdings 30 Mal so viel Stahl, nämlich 3000 Tonnen, verbaut wurden, um eine ähnlich große Fläche zu überdachen. Das 269 Mio. Britische Pfund teure Schwimmstadion war als das spektakulärste Bauwerk des Parks gedacht, das Assoziationen zu einem kraftvoll und elegant schwimmenden Rochen wecken soll. Dies ist gelungen – sieht man einmal davon ab, dass die Wirkung im „olympischen Modus“ durch zwei keilförmige Zusatztribünen mit 15.000 Plätzen ruiniert ist. Sie werden nach den Spielen wieder entfernt.
Das zentrale Stadion, das nach Plänen von Populous (vormals HOK Sport) entstand, geriet ebenfalls in den Diskussionsstrudel zwischen Stehenlassen und nach den Spielen wieder Abbauen, auch wenn man es ihm derzeit nicht ansieht. Es ist als Flat-pack-Stadion konzipiert, als eines, das man demontieren und zum nächsten Sportevent verschicken kann. Seine Struktur wurde bis aufs äußerste reduziert, alle Nebennutzungen sind in temporären Gebäuden untergebracht. Als aber die Bausumme auf 500 Mio. Britische Pfund geklettert war und Hoffnungen auf weitere sportliche Großereignisse geweckt wurden beschloss man, das Stadion doch zu behalten – auch wenn es nach den Spielen erst noch zum Fußballstadion umgebaut und nachgerüstet werden muss.
Das Olympiastadion ist das leichteste Stadion seiner Größe weltweit. Umso grotesker wirkt der Olympiaturm ArcelorMittal Orbit unmittelbar daneben, ein gigantisches Monument des Stahlmagnaten Lakshmi Mittal, entworfen von Anish Kapoor. Während das Tragwerk des Stadions schlank und elegant gehalten ist, steht das verdrehte Durcheinander des Olympiaturms, der sich bis in 115 Meter Höhe schraubt, als Warnung vor den schlimmsten Exzessen rechnergesteuerten Entwerfens und Fertigens, als eine groteske Inversion der eleganten strukturellen Logik der Wettkampfstätten, als Verhöhnung des Gedankens der zurückhaltenden Olympischen Spiele in Zeiten der Sparpolitik.
Mietangelegenheiten
Was ist von der Vision „London 2012“ geblieben, von der Idee der Flat-pack-Spiele, und den Versprechungen für den Osten der Stadt? Aus dem veranschlagten Budget von 2,4 Mrd. sind längst 11 Mrd. Britische Pfund geworden, mehr als 98 Prozent davon sind öffentlich finanziert. Bleibt die Frage, welches Gemeinwesen sich in den versprochenen 11.000 neuen Wohnungen entwickeln wird. Die 3000 Wohnungen des Athletendorfs, die 1 Mrd. Britische Pfund öffentlicher Gelder verschlangen, sind im August letzten Jahres für nur 557 Mio. an ein von den Royals des Emirats Katar geführtes Konsortium verkauft worden. Die Hälfte dieser Wohnungen ist als affordable, bezahlbar, klassifiziert. Was das heißt, hat die Koalitionsregierung gerade wieder modifiziert: Eine Miete, die 80 Prozent des Mietniveaus auf dem freien Wohnungsmarkt nicht übersteigt. Damit liegen diese Wohnungen weit außerhalb der finanziellen Möglichkeiten der Nachbarn des Olympiaparks.
Der ursprüngliche Entwurf für die Anschlussbebauung des Athletendorfs wurde radikal überarbeitet. Angesicht des wenig vertrauenerweckenden wirtschaftlichen Klimas und der stetigen Nachfrage nach Einfamilienhäusern bekamen die Parzellen des nördlichen Nachbarquartiers Chobham Manor, das ab 2013 gebaut werden soll, jetzt das traditionelle, feingliedrige Londoner Reihenhausraster mit kleinen Gassen, Wirtschaftswegen und Plätzen. Ein Entwurf, der an dieser Stelle weit mehr Erfolg verspricht als glitzernde Hochhäuser.
Wenn der Zaun fällt
Wegen der Demontage einiger Sportstätten werden die Zäune um den Park nicht vor dem Frühjahr 2014 fallen. Aber dann wird es hektarweise leere Flächen geben. Die London Legacy Development Corporation (LLDC) – sie ging im April dieses Jahres  aus der 2009 gegründeten Olympic Park Legacy Company hervor –, soll die Vision der Legacy, des Danach, umsetzen. Nach dem Muster der Docklands Development Corporation, die in den achtziger Jahren den Bau von Canary Wharf überwachte, tritt die LLDC als Grundstückseigentümerin, Entwicklerin und Planungsbehörde mit Enteignungs- und Entschädigungsbefugnissen auf. Ihr Einflussbereich reicht weit über den Park hinaus.
Viele der angrenzenden Gebiete leiden seit längerem unter der von Olympia angeheizten spekulativen Entwicklung. So sprießen entlang der High Street in Stratford, nordöstlich des Parks, überproportionale Hochhausblocks empor, und „LandProp“, IKEAs Entwicklungsgesellschaft, riss kürzlich historische Lagerhäuser an der Sugar House Lane südlich des Parks ab, um hier u.a. 1200 neue Wohnungen und fast 60.000 Quadratmeter Büroflächen zu errichten. Mit den Masterplänen für den Olympic Fringe (Olympischer Rand) hofft die LLDC etwas vom Charakter der Nachbarschaften zu erhalten (siehe Seiten 36 bis 55), sodass im besten Fall auch die bestehenden Quartiere die Neubausiedlungen beeinflussen – und nicht (nur) andersherum.
Ein Schlüssel zu dieser Strategie liegt in der Zwischennutzung. Die Verantwortlichen haben aus der Misere auf der Greenwich Halbinsel gelernt, auf der der Millenium Dome die Entwicklung eines neuen, mischgenutzten Stadtquartiers anstoßen sollte, das aber niemals kam. Sie haben kleine Kulturunternehmer und Großfirmen aufgefordert, Vorschläge einzureichen, wie man der Tabula rasa Samenkörner einpflanzen könnte. Sollte das gelingen, könnte es ein ähnlicher Erfolg werden wie in den nördlichen Hafengebieten in Amsterdam oder in anderen Großstädten Europas, wo temporäre Nutzungen die Planungen für Dauernutzungen befruchten.
Die LLDC hat ihr Entwicklungsmodell immer wieder mit den ansehnlichen Siedlungen Grosvenor oder Cadogan im Londoner Westen verglichen. Doch diese Urmodelle des öffentlichen, urbanen Lebens sind im 18. Jahrhundert als exklusive Quartiere entstanden und waren einst von Zäunen umgeben und von privaten Sicherheitsdiensten kontrolliert. Kritiker prophezeien dem Olympiaquartier eine ähnliche Zukunft: Baugrundstücke, die häppchenweise an den Höchstbietenden verkauft werden, ein Park, der vielleicht gerade noch als halb­öffentlicher Raum durch private Firmen verwaltet wird. Wenn es der Planungsabteilung des Bürgermeisters in den kommenden 30 Jahren gelingt, die „Legacy“-Pläne weiter zu entwickeln, könnten dies bloße Befürchtungen bleiben.




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aus Bauwelt 24.2012
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