Machino-eki
Markt mit kleinem Hotel
Text: Geipel, Jan Dominik, Stuttgart/Kopenhagen
Ein Neubau von Kengo Kuma, ein architektonischer Hybrid, liegt abgeschieden in den Bergen auf der japanischen Insel Shikoku. Als Baustein touristischer Reaktivierung kombiniert er einen Markt für regionale Produkte mit einem kleinen Hotel. Eine Reportage
Es ist noch gar nicht lange her, da hatte die große japanische Tageszeitung Asahi Shinbun die Geschäftsführer mehrerer Hundert Firmen befragt, wer aus dem vergangenen Millennium der Weltgeschichte ihre Meinung nach geeignet wäre, Japan zu modernisieren und den Weg aus der lang anhaltenden ökonomischen Krise zu weisen. Ganz vorn in der Liste der Antworten rangierte Sakamoto Ryo¯ma, ein bekannter Samurai aus dem 19. Jahrhundert und wesentlicher Wegbereiter der mit der Meiji-Restauration initiierten politischen und gesellschaftlichen Modernisierung Japans. Sakamoto Ryo¯ma lag in der Gunst der Befragten noch vor Oda Nobunaga, einem der mächtigsten japanischen Shogune, und auch vor Leonardo da Vinci oder Thomas Edison. Der derzeit amtierende Premier Japans Shinzo¯ Abe baut in seiner Politik weniger auf Reformen, als vielmehr auf kurzfristige Effekte einer entfesselten – inzwischen bereits nach ihm benannten – Geldpolitik. Die nur 4000 Einwohner zählende Stadt Yusuhara hingegen setzt – neben einer strikt nachhaltigen Energiepolitik – auf die Anziehungskraft von Sakamoto Ryo¯ma, der hier einst Zwischenstation machte, und auf die Wiederbelebung der Chado-Pilgerkultur des 17. Jahrhunderts.
Kioto – Yusuhara
Ende April, sieben Uhr morgens. Von Kioto aus sind es nach Yusuhara fast sieben Stunden Fahrt. Der Shinkansen verlässt den von Hiroshi Hara erbauten Bahnhofskoloss. Eineinhalb Stunden später, in der Hafenstadt Okayama auf Honshu¯, der Hauptinsel Japans, sicht- und erlebbare Entschleunigung und Umstieg in den vergleichsweise gemächlichen Expresszug nach Susaki. Die Ankunft dort und die geschlossenen Ladenzeilen in der Umgebung des kleinen Bahnhofs zeigen unmissverständlich, dass der Aufschwung der „Abenomics“ bis hierher nicht reicht, vermutlich nie reichen wird, und der letzte Aufschwung, wie an den verblichenen Anstrichen zu sehen, schon einige Zeit zurück liegt.
Die Landschaft ist grün, geprägt von Fischzucht, von Gemüse- und Obstanbau. Während der kommenden siebzig Minuten Busfahrt nach Yusuhara wechselt sie mit jedem Kilo-meter Struktur, Topographie und Farbe. Die Bebauung wird lockerer, die Agglomerationen von Gewächshäusern hingegen kompakter. Bald ändert sich die Kulisse vom geschlossenen zum offenen Anbau, von erdfarbenen, über wasserblau zu grün gemusterten, trockenen, gefluteten und erntereifen Reisfeldern. Dazu Kirsch- und Pflaumenbäume in üppiger Blüte. Auf Serpentinen geht es hier hindurch und hoch hinauf. Umgeben von harzig duftenden Sugi- und Hinoki-Nadelbäumen liegen, wie mit schwungvollen parallelen Pinselstrichen in die Landschaft gezeichnet, Teeplantagen.
Unvermittelt erreicht der Bus einen Pass. Die Bergketten sind jetzt gesäumt von hochmodernen Windrädern. Die unten im Tal liegende Stadt setzt auf eine generell nachhaltige Energiepolitik, die nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima mehr und mehr junge Familien anspricht – und hier zur Ansiedelung bewegen soll. Neben der Straße steht ein flügelartiges Konstrukt. Unter dem von mutig filigranen Säulen getragenen und abends dramatisch illuminierten Dach lädt ein 1994 von Kengo Kuma erbautes Hotel zur Einkehr und zum Besuch der nahe gelegenen Onsen, einer heißen Quelle, ein. Seit Kurzem bieten sich hier auch in einer angebauten, über dem Tal schwebenden Galerie Einblicke in die Werke regionaler Künstler. An diesem Solitär vorbei geht es hinunter zum Ziel der Reise, nach Yusuhara: Die Straßen sind ungewohnt aufgeräumt, weil – in Japan äußerst selten – ohne frei hängende Kabel, Gehwege nicht nur vorhanden, sondern auch breit ausgeführt und die Häuser fast durchweg neu gestrichen.
An einer solchen Verkehrsader steht mittig ein scheunenartiges Gebäude, das mit seiner modern rhythmisierten Fassade neugierig macht, auffällt, auffallen möchte. Zehn Meter hoch, auf fast quadratischem Grundriss, etwas mehr als zwanzig Meter Kantenlänge, 1100 Quadratmeter Fläche. Ebenfalls von Kengo Kuma erbaut, steht hier seit Ende 2010 ein Machino-Eki – ein „Bahnhof der Stadt“. Eine Bushaltestelle direkt vor dem Eingang und eine Ladestation für Elektrofahrzeuge sind die beiden einzigen an einen Bahnhof erinnernden Funktionen. Das Haus soll vor allem Pilger und andere Touristen auf sich aufmerksam machen, in sein Inneres locken.
Sugi- und Hinokiholz
Die Seitenansichten mit auswechselbarem Holzpaneelmosaik verweisen auf das begehrte Sugi- und Hinokiholz der umliegenden Wälder, die zugehörige Industrie und das Handwerk. Die der Hauptstraße zugewandte Seite nimmt in ihrer fassadenhoch geschichteten, überlappenden Materialität Bezug auf die Tradition strohgedeckter Chados – offene Hütten mit kleinen Schreinen, in denen Pilger seit dem 17. Jahrhundert Un-terschlupf finden konnten, Momente der Entspannung und die Aussicht genossen und von den Anwohnern mit einer Tasse Tee beschenkt wurden. Über einen unscheinbaren Eckeingang betritt man das Innere: Überrascht ob der räumlichen Opulenz, findet man sich unvermittelt in einem langgestreckten, raumhohen Atrium. Zwischen teils roh belassenen Baumstämmen, die wie zufällig über den Grundriss und zwischen den Marktständen verteilt in den Dachhimmel ragen, ist man an eine Lichtung in einem der umliegenden Zedernwälder erinnert. Zwei vollflächig verspiegelte Wandscheiben zur Straßenseite hin rhythmisieren und bereichern Raum, Eindruck und das auf mobilem Mobiliar arrangierte Marktangebot: Ein perfektes Trompe-l’œil, konzepti-onell so sinnfällig und sinnlich integriert, dass sich beim Gang durch das Gebäude, auf Marktniveau wie auch auf den beiden oberen Geschossen, der Raum durch Spiegelung und Multiplikation trickreich einer endgültige Entschlüsselung entzieht. Eingeschoben in das Atrium und über innenliegende Laubengänge erschlossen, finden sich zwei Geschosse mit jeweils sieben Hotelzimmern. Ein weiteres kleines Hotelzimmer befindet sich auf Erdgeschossebene im hinteren Teil des Gebäudes. Genauso wie die direkt an den Marktraum angeschlossene Rezeption, die auch touristische Informationen zur Gegend bereithält.
Das Frühstück im Machino-eki wird auf Wunsch auf dem Zimmer serviert. Interessanter aber ist es, dies direkt im Marktraum einzunehmen, auf massiv ausgeführtem Mobiliar, das Kengo Kuma entworfen hat. Verglichen mit einer Übernachtung in den lokalen Unterkünften, Ryokans oder Minshukus, die im wesentlich niedrigeren Preis Vollpension mit regionaler Küche anbieten, wird im Machino-eki die Chance vertan, das Marktkonzept konsequent zu Ende zu denken: Statt die hier neben vielen anderen Produkten käuflich dargebotene Ernte der umliegenden Felder und Wälder zur Degustation zu offerieren, wird ein eher gewöhnliches Choushoku serviert, wie man es so auch aus Tokio kennt. Und um nicht mit den örtlichen Gastronomen zu konkurrieren, bleibt am Abend die Küche im Haus geschlossen. Allerdings kann im angeschlossenen Kumo-no-Ueno, dem „Hotel über den Wolken“, hoch oben auf dem Pass und mit reizvoller Aussicht hinunter ins Tal, gespeist werden. Eingeschlossen im Preis des Hotelzimmers ist zwar nicht das Menu, dafür aber der Bus zum Pass und der Zugang zum Onsen dort oben.
Nach dem Nachtmahl, wieder am Machino-eki, wird der Hotelgast auf einen Seiteneingang mit Aufgang zum Zimmer über ein anonymes Treppenhaus verwiesen. Beides passt nicht recht zum Gesamtkonzept. Es gibt auch keine Hotelbar, an der nach erlebnisreichen Ausflügen ein Glas regional gebrannter Sake lockt. Die Möglichkeiten zur Interaktion der hier untergebrachten Funktionen scheinen insgesamt noch nicht ausgeschöpft. Die Bewohner von Yusuhara kaufen für den täglichen Bedarf an anderer Stelle. Und für den Besucher des Marktes und für den Hotelgast ist beim Blick durch das luftige Atrium nicht ohne weiteres zu erkennen, ob die nummerierten Türen nicht vielmehr zum – ebenfalls von Kuma erbauten – großen Bruder des Machino-eki gehören: Wenige Minuten Fußweg entfernt steht das neue Rathaus mit verblüffend ähnlicher architektonischer Außenhülle.
Auch die Detailierung des Machino-eki hinterlässt an manchen Stellen einen zwiespältigen Eindruck. Die „Bäume“ sind allein gestalterisches, nicht tragendes Element. Die traditionellen Tatami in den hellen Hotelzimmern sind, wohl der modernen Interpretation geschuldet, „rahmenlos“, ohne die übliche kantenschützende, farblich kontrastierende Umrandung ausgeführt. Wegen dieses fehlenden, technisch sinnfälligen Details zeigt der Boden schon so kurz nach der Eröffnung deutlich Spuren des Gebrauchs. Ähn-liche Unstimmigkeiten finden sich im „Haupthaus“ des Hotels oben auf dem Pass, das nach neun Jahren schon deutliche genutzt erscheint.
Die dreizehn Chados in und um Yusuhara weisen in ihrer Schlichtheit, in Fügung und Schichtung eine Qualität und Raffinesse auf, die in der Fassade des Machino-eki nicht das erhoffte ästhetische Äquivalent gefunden hat. Die Flä-chen wirken zu sehr appliziert, zu wenig sinnfällig konstruktiv integriert. Dass Kengo Kuma dazu sehr wohl fähig ist, hat er im gleichen Baujahr im GC-Prostho Museum und Research Center in Aichi gezeigt, wo das be-kannte traditionelle Chidori Holzspiel kongenial in eine kon-struktiv wie auch visuell überzeugende Gebäudehülle übersetzt wurde.
Experimentelle Bühne
Man ist dennoch bereits gespannt auf den nächsten Besuch in Yusuhara und auf einen Halt im Machino-eki. In den offensichtlichen Unzulänglichkeiten von Kumas Gebäude zeigt sich zugleich auch die flexible Stärke des Konzepts. Als Hülle, als „Eki“, also Station, Experiment und Plattform hat es räumlich und konzeptionell das Potenzial für Adaptionen. Im Gespräch mit lokalen Architekten, Lehrern, städtischen Repräsentanten und kürzlich Zugezogenen zur Zukunft der Stadt zeigte sich Zuversicht, Ideenreichtum und Identifikation mit dem Ort. Auch für das Machino-eki gibt es Ideen, das Atrium als experimentelle Bühne für öffentliche Events zu nutzen. Die Laubengänge könnten als Ränge dienen. Auf gleicher Höhe gibt es, wohl in kluger Antizipation des Architekten, eine kleine Brücke wie in einem Theater. Und das Mobiliar des Marktes ist rollbar und schnell beiseite geschoben.
Kengo Kumas hat inzwischen vier Gebäude in Yusuhara realisiert, allesamt vom Bürgermeister der Stadt als Direktauftrag vergeben. Obwohl öffentliche Bauten, gibt es in Japan – zumindest bis zu einem gewissen Gebäudevolumen und aufgrund der machtvollen Position der leitenden Amtsträger – die Möglichkeit der direkten Vergabe ohne öffentlichen Wettbewerb.
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