Bauwelt

Neue Mediathek


Identität stiften in der Mailänder Peripherie


Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin


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    Foto: Roland Halbe

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Die Kleinstadt am Nordrand von Mailand will nicht nur Schlafstadt sein; eine neue Mediathek ist Bestandteil einer eigenständigeren Identität. DOIT Architetti aus Rom entwarfen einen streng gerasterten Rahmenbau von industrieller Präzision und Großzügigkeit. Die Fassade der alten Schule wurde kurzerhand integriert.
Die Geschichte von DOIT Architetti aus Rom beginnt wie eine Erfolgsgeschichte: Fünf junge Architekten lernen sich im Büro von Massimiliano Fuksas in Rom kennen, nehmen gemeinsam an einem offenen, internationalen Wettbewerb für den Neubau einer Bibliothek teil – und gewinnen. Das war im Dezember 2001. Es folgt ein zäher Planungs- und Bauprozess für das neue Kulturzentrum Il Pertini im Mailänder Vorort Cinisello Balsamo, mit einem Budget von nur knapp 10 Millionen Euro. Für den 7000 Quadratmeter großen Neubau galt es, kostengünstige Lösungen für jedes Detail zu entwickeln und gleichzeitig dem eigenen Anspruch an die Gestaltung gerecht zu werden. Elf Jahre später, im September 2012, wird die zum Kulturzentrum erweiterte Bibliothek „Il Pertini“ endlich eröffnet. Von den ehemals fünf Freunden sind Riccardo Gaggi, Cristina Gagliardi und Mariella Tesse noch dabei. Ein Jahr nach der Eröffnung lässt sich feststellen: Ihre Ausdauer hat sich gelohnt. Il Pertini ist für Cinisello Balsamo auf vielen Ebenen ein Erfolg, der weit über den der Architektur hinausgeht.
Die kleine Stadt im Norden der Metropole hatte zwischen 1950 und 1970 ihre Einwohnerzahl mehr als verfünffacht, auf 77.000. Aus Süditalien zogen Arbeitssuchende in die industriestarke Region. Cinisello Balsamo wuchs zu einer Trabantenstadt, ohne ein der neuen Größe und eigenen Identität angemessenes Zentrum zu entwickeln. Seit den achtziger Jahren wiederum hat die Stadt ein ganz anderes Problem: Sie schrumpft. Um diesem Trend entgegen zu wirken, setzte sich Ende der Neunziger die damalige Bürgermeisterin für die Neugestaltung der städtischen Mitte ein. Zum Programm gehörte der Umbau der Piazza Gramsci durch das Büro Dominique Perrault, der 1999 begann, sowie 2005 der Einzug des Museums für Zeitgenössische Fotografie in die Villa Ghirlanda Silva aus dem 17. Jahrhundert. Schräg gegenüber, neben dem Rathaus, stand das Gebäude einer ehemaligen Grundschule seit Jahren leer. Vor 12 Jahre wurde dafür der Wettbewerb für ein Kulturzentrum mit Bibliothek ausgeschrieben.
DOIT Architetti aus Rom überzeugten mit der Idee eines gläsernen Baukörpers, in den die u-förmige Bestandsfassade integriert wird. Deren Erhalt war eine Auflage der Ausschreibung. Die Architekten verschweigen nicht, dass sie ein ambivalentes Verhältnis zu der Bestandsfassade haben. Der Erhalt wog nicht nur in Anbetracht des knappen Budgets schwer, er bestimmte außerdem – obwohl nur eine dünne, nicht tragende Scheibe stehen blieb – das komplette Raster des Neubaus. Gleichzeitig war es den Architekten aber wichtig einen Ort zu schaffen, der auch die Identität von Cinisello Balsamo unterstreicht. Von einem denkmalschutzgerechten Umgang mit der fast hundertjährigen Fassade kann allerdings nicht die Rede sein. Da, wo heute der Haupteingang der Bibliothek liegt, stürzte während der Bauarbeiten ein Teil der Fassade ein. Die Ornamentik wurde an dieser Stelle nicht rekonstruiert. Auch die rote Farbe des historischen Bauwerks wurde nicht restauriert, sondern alles komplett weiß überstrichen. Die Architekten behandelten den Bestand mit der gleichen Radikalität wie den Neubau: Die Substanz wurde so weit wie möglich reduziert.
Hell, weiß, offen
Hinter der historischen Fassade fällt vor allem eins auf: eine offene, helle Architektur. Sowohl konzeptionell als auch räumlich ist dies auf allen Ebenen durchgehalten. Die Gestaltung des Innenraums wurde auf die wesentlichen Bestandteile reduziert, die Struktur bis auf den weißen Anstrich roh belassen. Selbst auf die weiße Farbe hätten die Architekten gern verzichtet.
Für die vom demografischen Wandel betroffene Stadt sollte sich das Kulturzentrum mit größtmöglicher Flexibilität nutzen lassen. Den Entwerfern war es wichtig, Il Pertini nicht als einen starren Ort mit nur einem Nutzungszenarium zu realisieren. Das Gebäude sollte sich, den wechselnden Wünschen der Einwohner entsprechend, immer wieder neu bespielen lassen. Konstruktiv wurde dies mit einem Betonrahmen-Skelett gelöst, dessen schmale Rahmen 20 auf 100 Zentimeter messen. Die drei Obergeschosse konnten so weitgehend als freie Ebenen ausgebildet werden, die über eine große Treppe miteinander verbunden sind. Nur die Büros der Mitarbeiter, ein Spielzimmer, die Fluchttreppenhäuser und die Servicebereiche sind mit Wänden abgetrennt. Wobei aber auch hier meist nur eine akustische Trennung vorgenommen wurde. Durch großflächige Verglasungen kann man auch in diese Räume einsehen.
Statt hinter abgehängten Decken versteckt sich ein Großteil der Technik, wie etwa für die Belüftung, in den Beton-Rahmen. Ein ständiger Luftstrom sorgt für ein angenehmes Klima im Innenraum. Über den Boden verstreut verbergen silberne „Knöpfe“ Anschlüsse für Strom, Internet und Intranet. So können die Räume immer wieder anders eingerichtet und genutzt werden. Die einzelnen Leihbereiche für Bücher, Musik und Filme sowie die Computerarbeitsplätze sind nur durch die Möblierung definiert. Die verschiedenen Sektionen gehen fließend ineinander über. Das Mobiliar entwarfen die Architekten größtenteils selbst, wo nicht, haben sie es zumindest ausgesucht. Aus Kostengründen mussten allerdings Regale aus der alten Bibliothek übernommen werden.
Verkleidet wird das Betonskelett mit einer schlichten Glasfassade. Das Kulturzentrum ist ein Geschoss höher als die ehemalige Grundschule. Im dritten Geschoss schließt sich die Rahmenstruktur. Das durch Oberlichter entlang der Stürze einfallende Licht hebt die Konstruktion hervor. Die Wirkung des offenen Innenraums wird durch seine transparente Haut noch verstärkt. Leitidee des Entwurfs war es, die Bibliothek auch von Weitem in ihrer Funktion erkennbar werden zu lassen. Umgesetzt wurde dies mit Regalböden, die dicht hinter der Glasfassade zwischen den Rahmen montiert wurden. Die Bücher sind am Tag und in der erleuchteten Bibliothek schon von Ferne leicht zu erkennen sind.
Im Untergeschoss liegen Seminar- und Lernräume sowie das große Auditorium. Auch hier wird durch die reduzierte Architektursprache die gleiche Großzügigkeit wie in den oberen Geschossen erreicht: Die Technik hinter den hier abgehängten Decken ist durch eine Verkleidung aus Streckmetall sichtbar. Dieses lässt die Räume höher wirken. Die unterschiedlichen Seminar- und Lernräumen sind meist mit nur raumhohen Glaswänden voneinander getrennt. Dort, wo das Untergeschoss über die Grenzen der Bibliothek „auskragt“, haben die Räume transluzente Oberlichter. Das Auditorium mit 176 Plätzen, ein Tagungsraum und das große Foyer können über einen eigenen Eingang erreicht werden und so unabhängig vom restlichen Gebäude für Veranstaltungen genutzt werden.
Farbliche Akzente setzen in dem weißen Bau lediglich einige schwarze Türen, die große Treppe sowie rosarotfarbene Sanitärräume und die Fluchttreppen. Bei Dunkelheit leuchtet das auf der Rückfassade hervortretende Treppenhaus. Es ist mit roten Stegplatten verkleidet und stellt farblich ein Bezug zu den beiden dahinter liegenden Rathausgebäuden her, die über einen roten Umgang erschlossen sind. Auf der Rückseite des Kulturzentrums sind dessen Hintereingang und der Eingang zum administrativen Rathaus über ein Vordach aus schwarzen Metallplatten miteinander verbunden. Durch diesen Zusammenschluss der beiden städtischen Einrichtungen herrscht hier reges Treiben. Eine gemeinsame Pflasterung, deren Muster sich ebenfalls auf das Raster der Rahmen bezeiht, lässt die drei Bauten zudem als zusammenhängenden Komplex erkennen.
Montagmittag – die Bibliothek öffnet heute erst um 14 Uhr – stehen bereits mehrere Besucher vor der noch verschlossenen Tür und warten auf Einlass. Zielstrebig gehen sie dann durch das Gebäude. Es scheint, als haben die meisten schon ihren festen Platz. Schnell sind die Computerplätze von den jungen Leuten belegt, im Zeitschriftenlesesaal sitzt eher die ältere Generation. Längst können hier auch digitale Datenträger und E-Books gelesen werden, es gibt einen freien Zugang zum Internet. Stolz präsentieren die Architekten die Besucherzahlen: Das Kulturzentrum hatte am Wochenende einjähriges Jubiläum – die Zahl der Leser hat sich im letzten Jahr mehr als verdoppelt. Auch das Angebot an neuen Nutzungen wird sehr positiv aufgenommen. Anders als man es vielleicht sonst aus
Bibliotheken kennt, ist es hier nicht leise. Es wird zusammen gelernt, geredet, und man hört, wie durch die Geschosse gelaufen wird. Weil für eine Garderobe das Geld fehlte, ist es erlaubt, Taschen und Jacken mit an den Platz zu nehmen. Es raschelt hier und da, aber das stört nicht. Die Bibliothek in Cinisello Balsamo ist ein lebendiger Ort.



Fakten
Architekten DO IT Architetti, Rom; Peralta, Luca, Rom
Adresse Via Giovanni Frova, 10 20092 Cinisello Balsamo Milano


aus Bauwelt 41-42.2013
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