Bauwelt

Der Sarjadje-Park in Moskau


In Moskau wurde der erste öffentliche Park seit 60 Jahren eröffnet. Der Sarjadje-Park von Diller Scofidio + Renfro steht für einen Wandel in der Stadtpolitik, die endlich auch für die Bürger da sein will.


Text: Heinich, Nadin, München


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    Fußwege und viel Grün mitten in Moskau: ein ungewohnter Blick aufs Zent­rum
    Foto: Iwan Baan

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    Fußwege und viel Grün mitten in Moskau: ein ungewohnter Blick aufs Zent­rum

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    Sarjadje: einst ein dicht bebautes Stadtviertel, dann Spielwiese für Großprojekte. Die Megastruktur des Hotels Rossija wurde 1967 dort errichtet (rote Fläche) und 2006 abgerissen.
    Abb.: Wikipedia Commons

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    Sarjadje: einst ein dicht bebautes Stadtviertel, dann Spielwiese für Großprojekte. Die Megastruktur des Hotels Rossija wurde 1967 dort errichtet (rote Fläche) und 2006 abgerissen.

    Abb.: Wikipedia Commons

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    Kommt man von der Basi­lius-Kathedrale, führt der Eingang durch einen lichten Birkenwald. Im Park sind Elemente russischer Landschaften versammelt: Tun­­dra, Steppe, Wälder, Auen.
    Foto: Iwan Baan

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    Kommt man von der Basi­lius-Kathedrale, führt der Eingang durch einen lichten Birkenwald. Im Park sind Elemente russischer Landschaften versammelt: Tun­­dra, Steppe, Wälder, Auen.

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    Verschiedene überdachte und halboffene Räume gehen in die Parklandschaft über.
    Foto: Iwan Baan

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    Verschiedene überdachte und halboffene Räume gehen in die Parklandschaft über.

    Foto: Iwan Baan

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    Viele Funktionen sind in die künstliche Topographie eingegraben, unter an­derem die Parkgarage mit 430 Plätzen.
    Foto: Iwan Baan

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    Viele Funktionen sind in die künstliche Topographie eingegraben, unter an­derem die Parkgarage mit 430 Plätzen.

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    Flanieren hoch über dem Autoverkehr und dem Fluss: Der Park erlaubt den Moskauern neue Perspektiven auf das alte Zentrum.
    Foto: Iwan Baan

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    Flanieren hoch über dem Autoverkehr und dem Fluss: Der Park erlaubt den Moskauern neue Perspektiven auf das alte Zentrum.

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    Die Klimahülle überspannt 9000 Quadratmeter und steht auf einem künstlichen Hügel, ...
    Foto: Iwan Baan

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    Die Klimahülle überspannt 9000 Quadratmeter und steht auf einem künstlichen Hügel, ...

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    ... in den das Konzerthaus eingegraben ist.
    Foto: Iwan Baan

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    ... in den das Konzerthaus eingegraben ist.

    Foto: Iwan Baan

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    Das Konzerthaus soll zwei Säle für 1560 und 400 Zuschauer umfassen und 2018 eröffnet werden.
    Foto: Iwan Baan

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    Das Konzerthaus soll zwei Säle für 1560 und 400 Zuschauer umfassen und 2018 eröffnet werden.

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    Selfie-Time auf dem Schlittenhügel. Die Wiese muss noch wachsen.
    Foto: Iwan Baan

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    Selfie-Time auf dem Schlittenhügel. Die Wiese muss noch wachsen.

    Foto: Iwan Baan

Der Sarjadje-Park liegt mitten im Stadtzentrum am Ufer der Moskwa, unmittelbar neben dem Kreml, dem Roten Platz und der Basilius-Kathe­drale. In Anbetracht der aktuellen politischen Situation, der Spannungen zwischen Russland und den USA sowie der Krim-Krise, überrascht es, dass für ein Projekt in einer derart prominenten Lage ein amerikanisches Büro beauftragt wurde. Darüber hinaus ist Sarjadje auch kein Park im klassischen Sinne, vielmehr eine Überlagerung von Architektur und Landschaft ­­– aber nichts anderes erwartet man von Diller Scofidio + Renfro. Man denke nur an Projekte des Büros wie das „Blur Building“ auf den Neuenburgersee in der Schweiz (2002), der High Line (2009/2014) und der sich in Bau befindlichen Performancemaschine „The Shed“ in New York.
Das Moskauer Areal umfasst 10,2 Hektar, es fällt terrassenartig von Nordosten nach Südwesten ab und beherbergt ein dichtes Programmaus Medienzentrum, Bildungszentrum, dem Restaurant „Voskhod“, dazu einen Food-Court, einen kuppelförmigen Pavillon, ein unterirdisches archäologisches Museum sowie ein großes und ein kleines Freilufttheater, die an ein Konzerthaus anschließen. All diese Gebäude, der Pavillon ausgenommen, sind tief in den Hang eingegraben, ihre organischen Formen fließen in die Landschaft. Während die Innenräume wenig überraschen, eröffnen die begehbaren, begrünten Dächer bisher ungekannte Perspektiven auf das Stadtzentrum. Das Highlight des Parks ist die „Flying Bridge“, eine 70 Meter über die Moskwa auskragende Fußgängerbrücke. Selten fühlt man sich in Moskau dem Fluss so nah wie dort.
Das Landschaftskonzept des Sarjadje-Parks greift die vier Vegetationszonen Russlands auf: Tundra, Steppe, Wälder und Auen. Erde und Steine wurden aus den einzelnen Regionen nach Moskau transportiert, dazu 760 Bäume, 7000 Sträucher, an die 860.000 mehrjährige und 150.000 einjährige Kräuter, Gräser und Blumen. Die Fußwege bilden keine klaren Grenzen, sondern laufen in die Landschaft aus. Dieses Ineinanderfließen von natürlichen und künstlichen Elementen – von den Architekten als „wild urbanism“ bezeichnet – wird durch Bereiche mit jeweils eigenem Mikroklima verstärkt. Am prägnantesten wird das bei der gläsernen Klimahülle über dem Konzertsaal deutlich. Hier soll es sich, so das Konzept, einzig durch passive Umwelteinflüsse wie Sonneneinstrahlung und dem Schutz vor Winden in der kalten Jahreszeit immer etwas wärmer anfühlen als in Moskau üblich. Die extremen Pendants dazu bilden die noch im Bau befindliche Permafrosthöhle sowie ein Florarium. Bisher gibt es weltweit wenige vergleichbare Landschaftsräume, die ein künstliches Klima erzeugen, etwa der österreichische Pavillon auf der EXPO in Mailand (Bauwelt 23.2015).
Gebaut wurde unter Leitung des Moskauer Generalunternehmers Mosinzhprojekt ­­– das Entwurfskonsortium, an dem neben Diller Scofidio + Renfro auch das New Yorker Büro Hargreaves (Masterplan), Citymakers (die lokalen Partner in Moskau), Transsolar aus Stuttgart (Klimakonzept) und das Londoner Büro von Happold beteiligt waren, hatte während der Bauphase nur noch eine beratende Funktion inne. Den großen Zeitdruck bis zur Eröffnung merkt man dem Park gelegentlich an, etwa an Rissen im Boden des Me­dienzentrums oder an den Heizstrahlern, die den Effekt der Klimahülle „verstärken“. Musik aus laut tönenden Lautsprechern unterstreicht den Besuch im Park, auch dies eine lokale Eigenheit. Doch trotz aller Kritik – das ursprüngliche Bud­-get von fünf Billionen Rubel (etwa 73 Millionen Euro) hatte sich verdreifacht, es gab immer wie­-der Forderungen, das Geld besser für den Bau von Wohnungen oder die Sanierung von Schu­­-len zu verwenden – wurde der Sarjadje-Park schnell von den Moskauern angenommen. Die anfangs geschätzte Zahl von zehn Millionen Be­suchern pro Jahr wird wohl übertroffen werden. Der Park tut der Stadt gut. Er steht sinnbildlich für den rasanten Wandel, der Moskau in den letzten Jahren ergriffen hat.

Größenwahn und Pragmatismus

„Sarjadje“ (russisch für „hinter den Reihen“, gemeint sind die Marktstände am Roten Platz) gehört zu Kitai-Gorod, einem der ältesten Viertel Moskaus. Ende des 19. Jahrhunderts befand sich dort ein dicht besiedeltes Handwerkerviertel, in dem etwa die Hälfte der 35.000 Moskauer Juden lebten. Im Zuge des 1935 von Stalin beschlossenen „Generalplans zur Stadterneuerung“ begann eine umfangreiche Neugestaltung Moskaus. Sarjadje wurde abgerissen, hier war nun Großes geplant: das „Volkskommissariat für Schwerindustrie“, das unglaubliche 110.000 Quadratmeter Nutzfläche umfassen sollte. Bei Studien für ein weiteres nie realisierte Moskauer Großprojekt, den „Palast der Sowjets“, stellte man allerdings fest, dass man nicht über die notwendige Technologie verfügte, derart riesige Bauwerke zu errichten und verkleinerte die Grundfläche auf ein Drittel. Im Jahr 1953, man war nach sechs Jahren Bauzeit gerade bei der 14. Etage angelangt, wandelte sich mit dem Tod Stalins das politische Klima: Die Bauarbeiten wurden eingestellt, die Pläne erneut überarbeitet und das Bauwerk als „sozialistisches Geschenk“ in Warschau errichtet (der Kulturpalast ist bis heute das höchste Gebäude in Polen). Der Baustelle in Sarjadje erging es ähnlich: Die Fundamente wurden kurzerhand umgenutzt. Von 1964 bis 1967 wurde auf ihnen das Hotel Rossija errichtet. Bis zu seinem Abriss 2006 war es mit 240.000 Quadratmetern und 3170 Zimmern das größte Hotel Europas (Bauwelt 34.2007).
Nach Glasnost und Perestroika, in den Zeiten des Turbokapitalismus der Neunziger Jahre, gab es für die Brache Sarjadje abermals neue Pläne. Der Geschäftsmann Schalwa Tschigirinski wollte dort nach einem Entwurf von Norman Foster ein neues Quartier mit Läden, Wohnhäusern und einem Hotel (jetzt mit „nur“ 2000 Zimmern) errichten. Doch er stieß auf vielfältige Probleme, das Areal blieb leer und eingezäunt. Erst 2010, mit der Entmachtung des seit 1992 amtierenden Bürgermeisters Juri Luschkow, setzte ein sichtbarer Wandel in der Stadt ein: das Neudenken des Gemeinsinns jenseits des kollektivistischen Ideals der Sowjetzeit und des Egozentrismus der vorangegangenen Dekade. Mit dem neuen Bürgermeister Sergei Sobjanin und dem seit 2012 amtierenden Chefarchitekten Sergei Kusnezow wurde der öffentliche Raum zu einem zentralen Thema der Stadtpolitik. Internationale Wettbewerbe wurden eingeführt, es begann die Umgestaltung von Parks, Uferzonen und Plätzen, die Planung neuer Fußgängerzonen und Fahrradwege. Erstes sichtbares Zeichen dieses Wandels war der 2011 neu eröffnete Gorki Park (Bauwelt 8.2016), einst von Konstantin Melnikov geplant, dann von Wow­haus Architekten umgestaltet. Das seit 2014 laufende Stadterneuerungsprogramm „My Street“ wurde gerade bis 2020 verlängert, das Budget auf 200 Billionen Rubel (etwa 2,8 Milliarden Euro) erhöht.
Die Idee, in Sarjadje einen Park anzulegen, entstand – nach offizieller Version – im Februar 2012, als Putin das Areal zusammen mit Sergej Sobjanin besuchte und entschied, dieses Gebiet wieder für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einige Monate zuvor hatten die Stadtplaner des Moskauer Büros Citymakers, Petr Kudryavtsev und Andrey Grinev, diese Idee bereits veröffentlicht und mit „Freunde von Sarjadje“ (angelehnt an „Friends of the High Line“) eine Kampagne für den Park gestartet. Mit politischem Rückenwind ging dann alles sehr schnell. 2013 wurde ein zweistufiger Wettbewerb ausgelobt, an dem sich 90 Arbeitsgemeinschaften aus 27 Ländern beteiligten. Der Rubelcrash 2014 brachte das Projekt nur kurz ins Stocken. Nach nicht einmal drei Jahren Bauzeit ist der Park (das ist auch für viele Russen überraschend) in großen Teilen fertig.
Der Sarjadje-Park steht, genauso wie die 2000 originalgetreu wieder aufgebaute Christ-Erlöser-Kathedrale, für das neue Moskau, in dem alles gleichzeitig zu existieren scheint: die orthodoxe Kirche und eine neu erwachte Ver­ehrung für Stalin, den Zar und die Sowjetunion, gleichzeitig eine vitale Start-Up-Szene, getrieben von einer jungen Generation, die, gut vernetzt und im Ausland ausgebildet, zunehmend in gestaltende Positionen kommt. Es passt in dieses Bild, dass der Park plötzlich neue Perspektiven eröffnet. Aus manchen Blickrichtun­gen erhebt sich der Kreml – in den westlichen Medien meist das Symbol einer bedrohlichen, zumindest undurchsichtigen Macht – hinter dem neu gepflanzten Wald wie eine pittoresque Kirche irgendwo im Moskauer Umland. Es ist vielleicht fraglich, inwieweit die technische Finesse des Landschaftskonzeptes wirklich notwendig ist, zumal sie bisher nicht überzeugend umgesetzt wurde. Für eine Stadt, in der es bis vor einigen Jahren gefährlich war, im Zentrum Fahrrad zu fahren, ist ein Park auf dem teuersten Baugrund des Landes aber ein radikales Zeichen für eine Neuausrichtung: für eine Stadtpolitik, die endlich ihre Einwohner in den Mittelpunkt stellt. Gleichzeitig ist eine solche Radikalität nur durch starke zentralistische Machtstrukturen möglich. Eine Ambivalenz, der man nicht nur in Russland begegnet.



Fakten
Architekten Diller Scofidio + Renfro, New York
Adresse Park Zaryadye Moskva


aus Bauwelt 25.2017
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