Vertriebszentrum wird Hochschule
Text: Gabler, Christiane, Basel
Die Schweizer Post brauchte ihr Betriebsgebäude am Bahnhof von Luzern nicht mehr. Enzmann+Fischer wussten mit der Substanz aus den 1980er Jahren geschickt und schonend umzugehen, ohne auf neue Repräsentation zu verzichten. Die Universität und die Pädagogische Hochschule der Stadt haben nun ein neues Hauptgebäude.
Wer mit der Bahn nach Luzern kommt, dürfte schnell ins Schwärmen geraten. Direkt vor dem Bahnhof mündet die Reuss in den Vierwaldstätter See, historische Raddampfer und Segelboote liegen am Ufer, die schwerfällig mondänen Hotelkästen aus dem 19. Jahrhundert stehen wie an einer Perlenkette aufgereiht vor der Kulisse von Rigi und Pilatus, den berühmten Alpengipfeln. Das neben dem Bahnhof gelegene Kultur- und Kongresszentrum KKL von Jean Nouvel bringt mit seinem großen, über den See auskragenden Dach diese Postkarten-Idylle elegant in die Neuzeit (Bauwelt 37.1998). Bezeichnenderweise zeigt sich das KKL zum Kopfbahnhof hin aber mit einer relativ belanglosen Fassade. Hier findet man sich schnell wieder in einer anonymen, industriell geprägten Bahnhofsgegend. Doch vor Kurzem ist in diesem „Hinterhof Luzerns“ etwas in Bewegung geraten. Ein großmaßstäbliches Gebäude macht mit einer expressiven, wehrhaft wirkenden Fassade auf sich aufmerksam. Die Universität Luzern und die Pädagogische Hochschule haben Besitz genommen von einem Gebäude, welches eine erstaunliche Wandlung vollzogen hat. Auf den ersten Blick nicht als „Umnutzung“ erkennbar, steckt in dem neuen kristallinen Kleid das 1981–85 erbaute Postbetriebszentrum, ein Industriebau mit einer Grundfläche so groß wie sieben Fussballfelder.
Wettbewerb
Das alte Postgebäude als neuer Standort für die Universität war zunächst „zweite Wahl“. Vor neun Jahren wurde in einem ersten Wettbewerb ein innerstädtisches, mit dem Auto gut erreichbares Grundstück am Kasernenplatz bearbeitet. Das damals siegreiche Neubau-Projekt von Valerio Olgiati, ein verzogener Rechtkant, stieß auf breite Ablehnung, und der Wettbewerb musste ein Jahr später wegen der möglichen Befangenheit eines Jury-Mitgliedes für ungültig erklärt werden. Hinzu kam, dass die Uni stärker wuchs als erwartet und sich am Kasernenplatz ein Platzmangel abzeichnete. So wie vielerorts lagen auch in Luzern die Fachbereiche der Universität verteilt, und zwar an 24 verschiedenen Standorten. Das Hauptbäude der Universität war seit 2004 provisorisch im alten Hotel Union untergebracht, im großen Festsaal wurden die Vorlesungen gehalten. Die 290.000 Bände und 670 Leseplätze der Zentral- und Hochschulbibliothek verteilten sich ebenfalls über die ganze Stadt.
Die Wiederauflage des Wettbewerbs für ein zentrales Universitäts- und Bibliotheksgebäude im Jahr 2005 sah nun vor, die gesamte Universität Luzern, die Pädagogische Hochschule und die Zentrale Hochschulbibliothek im leerstehenden Postgebäude am Bahnhof anzusiedeln. Das siegreiche Projekt der Zürcher Architekten Evelyn Enzmann und Philipp Fischer zeichnet sich durch eine clevere Organisation dieses hochkomplexen Programms von rund 800 Räumen in der 60x100 Meter großen „Maschine“ aus. Es nutzt dabei so geschickt die von den Luzerner Architekten Hans-Peter Ammann und Peter Baumann geplante Substanz, dass Abriss- und Neubaumaßnahmen kaum erforderlich waren. Die hochfrequentierten Bereiche wie Mensa, Audimax und Hörsäle sind im Erd- und teilweise im Untergeschoss untergebracht und damit klar von den weniger frequentierten Seminarräumen und Büros in den Obergeschossen getrennt. Die öffentliche Bibliothek erstreckt sich über das gesamte erste Obergeschoss und bildet eine Art horizontale Trennschicht der Nutzungen.
Zentrale Motive in der Arbeit von Enzmann+Fischer sind die Einführung von Lichträumen als strukturgebende Elemente und die Definition der inneren Erschließungsräume als kommunikative, städtisch anmutende Zonen mit einem hohen Grad an Öffentlichkeit. Der wichtigste Eingriff in die Struktur des Postvertriebszentrums ist eine glückliche Symbiose aus genau diesen Motiven: Das Herzstück des Gebäudes, die dreigeschossige, langgestreckte Logistikhalle, wurde durch eine großzügige Treppenanlage, die als neue Haupterschließung dient, geteilt. Es entstanden zwei unterschiedlich dimensionierte Lichthöfe, deren Inszenierung von Ein-und Ausblicken und zahlreichen Querbezügen die Dimension des Gebäudes erfahrbar macht, Orientierung gewährt und Tageslicht in die tiefen Räume bringt. Unter den Lichthöfen befinden sich das zweigeschossige Foyer und die Lesebereiche der Bibliothek. Das Foyer öffnet sich zur Stadt und ist gleichzeitig Empfangsbereich, Ausstellungsraum, Treffpunkt und Ort der Information. Daran angegliedert sind die Mensa und kleinere Hörsäle. Das zentrale Treppenhaus aus silbrig gestrichenem, strukturiertem Beton verjüngt sich von Geschoss zu Geschoss entsprechend der abnehmenden erforderlichen Kapazität nach oben. Die Treppe ist ein dynamisch wirkendes Objekt, das
die verschiedenen Bereiche des Hauses auch symbolisch verbindet.
Fassade
Entgegen den Vorstellungen der Bauherrschaft schlugen Enzmann+Fischer bereits im Wettbewerb ein neues Fassadenkleid vor, um dem Gebäude die selbstbewusste Ausstrahlung zu verleihen, mit der es in der Nachbarschaft des KKL bestehen kann. Die simple Lochfassade des Bestandsbaus bot sich dafür nicht an. Nun sind breite, etwa sechs Meter lange Kastenfenster bis zu 50 Zentimeter aus der Fassade herausgedreht. In der Drehung geschossweise gegenläufig, bieten diese „Utluchten“ vielen Räumen entweder einen Blick zum See oder zur Stadt. Der enge Straßenraum wird aufgebrochen und der Blick geweitet – ein passendes Symbol für einen Bau der Bildung. Zugleich geben diese Verdrehung der Fassade Plastizität. Im Wettbewerb noch aus vorgehängten Betonelementen im Gussverfahren geformt, ist die Konstruktion aus Kostengründen nun wie eine „positive“ Schalungsform gefügt. Eine Aluminium-Unterkonstruktion nimmt Trägerplatten aus Altglas auf, die mehrfach mit einer PU-Beschichtung versehen wurden. Sie kommt ohne störende Dehnungsfugen aus, Spannungen werden in der Fassadentiefe aufgenommen. Nur die recht große Schattenfuge im Bodenbereich verrät, dass es sich um einen zwar festen, aber hohlen „Panzer“ handelt, der dem Baukörper Schutz verleiht.
Enzmann+Fischer sehen das Gebäude nicht autonom, sondern stärken mit der Umnutzung zugleich den Platz, der vom KKL, einem Berufsbildungszentrum (im Seitenflügel des Bahnhofs) und vom neuen Universitätsgebäude gebildet wird. An der Stelle, an der die skulpturale Fassade unterbrochen und zurückgesetzt wurde, befindet sich der großflächig verglaste, zweigeschossige Eingangsbereich. Der so entstandene zweigeschossige Sockel adaptiert die Gliederung der Nachbarbauten.
Farb- und Materialkonzept
Das Projekt stand unter einem enormen Kostendruck. Die Architekten definierten gestalterische Schwerpunkte und entschieden sich ansonsten für pragmatische Lösungen, die keineswegs billig wirken. Bei der Auswahl der Materialen suchten sie nach günstigen Lösungen für alle Bauelemente, die in großen Mengen erforderlich waren. So wurde es möglich, in einzelnen Bereichen mit hochwertigen Materialien Akzente zu setzen. Beispielsweise wurden im gesamten Haus solide einfache Rasterleuchten und Downlights verwandt, das Foyer und der Lesesaal hingegen durch „Kronleuchter“ aus großformatigen Leuchtstäben hervorgehoben. Durchgängig ist ein dunkelbrauner Gummigranulatboden direkt auf dem Bestandsfußboden aufgebracht worden, welcher für den erforderlichen Trittschallschutz sorgt.
Als ein sehr günstiges Grundprinzip kam Veredelung durch Farbe zur Anwendung. Damit ließ sich auch die Zweiteilung des Gebäudes abbilden. Im Westflügel erstreckt sich grüne Farbe vom Innenhof über den darunterliegenden Lesesaal bis hinab zum großen Hörsaal. Ein bordeauxfarbener Bereich im Osten ist farblich mit Innenhof, Lesebereich und Foyer verbunden. Die Mensa leuchtet in Orange, das sich über den zweigeschossigen Bereich des „Free Flow“ bis zur Bibliothek fortsetzt. Die Farben wurden in verschiedenen Sättigungsgraden eingesetzt und je nach dem, wie öffentlich die Räume sind, mit Silber oder Weiß kombiniert: Die Erschließungsbereiche zeigen sich bis hin zu den Heraklitplatten an den Decken in Silber; für die „privateren Bereiche“ wurde Weiß gewählt. Diese Farbgebung ist nicht an die Materialien gebunden: Sie überzieht den Innenraum mit einer weiteren Bedeutungsebene und wirkt vereinheitlichend.
Transformation
Transformation nennen die Architekten den Prozess der Umwandlung des einstigen Postgebäudes in ein öffentliches Bildungsinstitut. Tatsächlich bedurfte die Verwandlung vieler präziser Schritte und einer fast minutiösen Planung. Enzmann+
Fischer ist es gelungen, dem einst pragmatischen Industriebau einen Ausdruck von Repräsentation zu verleihen. Der funktionale Wandel hatte aber nicht nur architektonische Folgen. Bereits jetzt ist spürbar, dass der belebte öffentliche Platz auf eine adäquate Antwort im Stadtraum wartet. Derzeit läuft bereits ein Vorprojekt für die Entwicklung eines Tiefbahnhofs; Teile der Gleisanlagen sollen dabei aufgegeben werden, und die Grundstücke könnten dann der Stadt für ihre Weiterentwicklung zur Verfügung stehen.
Fakten
Architekten
Architekten 1985: Ammann und Baumann, Luzern; Architekten Umbau 2005–11: Enzmann+Fischer AG, Zürich
Adresse
Frohburgstrasse 3 6005 Luzern, Schweiz
aus
Bauwelt 33.2012
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