deSingel: eine Akropolis für Suburbia
Text: Klauser, Wilhelm, Berlin
Obgleich sich das städtebauliche Umfeld in den vergangenen Jahrzehnten komplett verändert hat, erwies sich das ursprüngliche Konzept als tragfähig. Bei der vierten Erweiterung überführte der Architekt die langen Horizontalen der bisherigen Erschließung in einen vertikalen Doppel-Twist.
Ganz sicher hatte er es sich am Anfang nicht so vorgestellt. Aber es ist eben so, und dass es eine Fehleinschätzung war, das hat sich schon während der Planungen gezeigt. 1958 hatte Léon Stynen von der Regierung den Auftrag bekommen, ein großes Konservatorium zu planen – inklusive Aufführungsstätten in Form zweier Theater. Die Stadt Antwerpen hatte als Standort das ehemalige Militärgelände Wezenberg vorgesehen, im Süden der Stadt. Es gab hier Wasserkanäle und kleine grüne Hügel und Wald. Es muss ein außerordentlich schönes Areal gewesen sein, und Stynen wollte Maßstäbe setzen. Er schlug vor, das Konservatorium in ein großes Büro- und Wohnquartier einzubinden. Mehrere Hochhäuser sollten in die leicht ondulierte Landschaft gestellt werden, so wie auch das Konservatorium. Stynen wollte das Gebäude anheben, damit die Landschaft darunter durchfließen konnte und die Wasserflächen als prägendes Landschaftselement erkennbar blieben. Er schlug zwei große Innenhöfe vor, die von allen Seiten zugänglich waren. Das Gebäude sollte die Form einer großen Acht haben, und in den Innenhöfen, um die er die Klassenräume arrangierte, sollten die Studenten die Möglichkeit haben, sich zu treffen und gemeinsam Musik zu machen. Das war ein idyllischer Gedanke, und er sollte das Vermächtnis eines großen belgischen Architekten sein.
Von der Idylle ist heute nichts mehr zu sehen. Die Stadt hat Wezenberg einfach überrollt. Antwerpen ist nach Rotterdam der größte Hafen Europas. 2008 wurden hier 8,6 Millionen Container ver- und entladen, dieses Jahr werden es wohl ungefähr neun Millionen werden. Das erklärte Ziel des Hafens ist es, 300 Millionen Tonnen Fracht umzuschlagen. Zurzeit liegt man noch bei ungefähr 160 Millionen Tonnen. Aber die Konjunktur zieht an, der „Flämische Diamant“, eine Stadtregion, die sich zwischen Brüssel, Gent und Löwen aufspannt, zählt mit rund fünf Millionen Einwohnern zu den großen Agglomerationsräumen Europas, und die wesentlichen Ballungsräume des Kontinents sind schnell zu erreichen.
Stadt frisst Landschaft
Kaum hatte Stynen seinen Entwurf abgeschlossen, wurde festgelegt, dass die Umgehungsstraße, die ursprünglich drei Kilometer weiter südlich geplant war, näher an die Stadt rücken sollte – und zwar unmittelbar neben dem Konservatorium verlaufend. Heute ist die Ringstraße von Antwerpen eine der meist befahrenen Verbindungen in Europa. Zwischen vier und sieben Spuren sind es in jede Richtung, trotzdem befindet sich das Ganze konstant am Rande der Überlastung. Es war Stynen aber immerhin gelungen, für diese Straße einen Abstand von dreißig Metern zum Kulturzentrum durchzusetzen. Genau da hinein manövrierte sechs Monate später das Planfeststellungsverfahren die Gleise für eine neue Bahnverbindung. Die Idylle war damit in der Realität angekommen. 1969 wurde die neue Straße eröffnet. Auf den Gleisen rumpeln heute im Minutentakt die langen Güterzüge zum Hafen vorbei. Von den ursprünglich vorgeschlagenen Hochhäusern wurden lediglich zwei realisiert, und im Osten, wo noch etwas Landschaft verblieben war, wurde ein Schwimmbad platziert. Damit waren eigentlich alle landschaftlichen Ansätze, die von Stynen für das Quartier Wezenberg entwickelt worden waren, ad absurdum geführt. Aber auch wenn der Landschaftsbezug nicht mehr existierte, war dem Konzept der Architektur eine große Stärke geblieben: Es war robust. Man konnte an ihm immer weiterbauen. Es konnte strukturelle, organisatorische und konzeptionelle Veränderungen auffangen, und nicht zuletzt deshalb wirkt der Komplex auch heute noch ungeheuer modern und beispielhaft.
Fünf Entwicklungsstufen
In einer ersten Phase entsteht bis 1968 also eine große, liegende Acht: ein ausgedehntes Korridorsystem, an das die Klassenräume für das Konservatorium angeschlossen werden. Jeder Raum kann von zwei Richtungen aus erreicht werden. Um 2,5 Meter in die Höhe gestemmt, hat der Komplex Bodenkontakt nur am Haupteingang; eine große Treppe, die auch als Veranstaltungsraum genutzt werden kann, führt den Besucher auf die Höhe. Die Intention ist eindeutig: Leicht erhaben blicken alle Schüler beim Üben ins Grüne. Die geometrische Grundfigur impliziert dabei eine außerordentlich klare und selbsterklärende Erschließung. Eine einbündige Anlage würde sich heute sicherlich niemand mehr erlauben, aber die Blickbeziehungen tragen zur leichten Orientierung bei: Verirren ist ausgeschlossen. Das später unter den Übungsräumen einige Büros eingebaut werden, verkraftet die Erschließung spielend. Sie schützen die Innenhöfe vor dem Straßenlärm.
Die zweite Phase, in der die Theater und die Bibliothek für das Konservatorium entstehen, verzögert sich. Erst als entschieden ist, dass Radio Antwerpen das Konservatorium ergänzt, kommt wieder Schwung in die Sache. Eine Konzerthalle wird geplant, ein Sprechtheater und Radio Antwerpen. Komplett mit Bühnenturm und allen notwendigen Nebenräumen soll das alles im Süden hinzugefügt werden, zur Ringstraße gewendet. Da soll auch ein langes, gemeinschaftliches Foyer entstehen, das beide Hallen zusammenbindet. Das, was als „liegende Acht“ konzipiert war, bietet eine hervorragende Basis für die Erweiterung, denn die Erschließung der neuen Auditorien ist problemlos möglich.
Insgesamt können, seit der Eröffnung dieser Erweiterung im Jahr 1980, über 1800 Zuschauer gleichzeitig zwei Veranstaltungen besuchen. Ursprünglich als integrierter Teil des Konservatoriums gedacht, wird aber schnell klar, dass diese Dimension ein professionelles Veranstaltungsmanagement braucht. Es entsteht deSingel. Nun gibt es eine Einrichtung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kunst zu vermitteln. Und sehr schnell stellt man fest, dass es dafür eindeutige funktionale Probleme gibt. Die verfügbaren Foyerflächen sind für die Saalgrößen unzureichend, und auch der Zugang zu den Bühnen ist äußerst problematisch. Andererseits aber wird nun der ursprünglich flache Konservatoriumskomplex langsam sichtbar. Über die Konzerthallen hat Stynen nämlich noch die Bibliothek des Konservatoriums gespannt. Es ist ein enormer, geschlossener Block, eine veritable Megastruktur, die eine große Fernwirkung hat und mit den zwei anderen Hochhäusern aus dem Masterplan in Beziehung tritt. Über das gesamte Gelände Wezenberg legt sich zwischen nunmehr drei Hochhäuser ein Fernbeziehungsnetz.
Dann weitet das Konservatorium den Unterrichts- und Ausbildungsbetrieb aus. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass es neue Präsentationsformen gibt für Tanz oder Performance, die andere räumliche Situationen brauchen als die alten Konzerthallen. Zwischen 1986 und 1987 baut Paul de Meyer, der ehemalige Assistent von Stynen, im Osten einen weiteren Flügel für das Konservatorium an die Erschließungsacht an. Dies ist fraglos der schwächste Teil des Ensembles, dem die gestalterische Präzision und Großzügigkeit abgeht, die alle anderen Erweiterungen bis dahin ausgezeichnet hat – und die Durchlässigkeit.
Happy End
Seit den neunziger Jahren schreibt nun Stéphane Beel an der Kunststadt weiter. Er hat einen Entwicklungsplan aufgestellt, auf dessen Grundlage nun der ganze Komplex mit einem großen, aufgeständerten Gebäude gekrönt und abgeschlossen wird. Dies ist nicht seine erste Intervention im Ensemble – aber tatsächlich ist es die erste, die auch nach außen hin klar in Erscheinung tritt. Der Kunstcampus deSingel, zu dem sich das Konservatorium in den vergangenen 50 Jahren weiterentwickelt hat, setzt damit Maßstäbe. Beel akzeptiert die Dimension der Agglomeration in zweifacher Hinsicht: Er konzipiert und kommuniziert ein dynamisches kulturelles Zentrum, das weit über Antwerpen hinaus ausstrahlen soll, und er platziert ein Gebäude, das in der Gleichgültigkeit einer suburbanen Umgebung ein Zeichen setzt.
Wenn im Oktober die Erweiterung eröffnet sein wird, will man sich drei Aufgaben widmen. Die Institution beschreibt sich selbst anhand von Verben: Sie will zeigen, produzieren und unterrichten. Damit verortet sich deSingel in einem Kontext von neuen Kulturinstitutionen, die sich jenseits des Musealen eher als Laboratorien verstehen. Der Schwerpunkt liegt auf Musik, Tanz und Performance. Das, was entsteht, soll ein aktives Zentrum sein. Beel hat mit großem Respekt vor dem Bestand und gleichzeitig mit einer gewissen Schnodderigkeit einen Komplex fertiggebaut, der nun über die besten Voraussetzungen verfügt, um seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Fehlende Räume wurden ergänzt, und die große landschaftliche Idee, die Stynen gehabt hatte, wurde dabei konsequent zu Ende gedacht. Entstanden ist ein Ort, der sich in eine moderne Stadtlandschaft einfügt und mit ihr auf vielfältige Weise kommuniziert. Entstanden ist ein Gebäude, das der Unzulänglichkeit der „Zwischenstadt“ ein kohärentes Bild entgegensetzt und ihr eine eigene Ästhetik zugesteht.
Die neuen Räume
Das, was dem Kunstcampus an Räumen fehlte, war nicht wirklich großartig. Insgesamt ging es zwar um eine Nutzfläche von 12.000 Quadratmetern, doch waren diese nicht leicht zu strukturieren. Übungsräume, ein Aufnahmestudio, ein Theaterraum, Büroräume für das flandrische Architekturinstitut, eine Medienbibliothek – Räume also, die alle irgendwie die Balance halten müssen zwischen einem notwendigen Anschluss an die Öffentlichkeit und die zugleich als Rückzugs- und Funktionsräume ganz klare Aufgaben für Nutzer mit durchaus unterschiedlichen Interessen haben. Beel setzte ein Restaurant durch. Dann sollten die alten Konzerthallen zusätzliche Foyerräume erhalten, und natürlich galt es, die Anlieferung zu verbessern. Schließlich war noch ein Ausstellungsraum für das Architekturinstitut geplant. Jeder andere, der sich konfrontiert gesehen hätte mit dieser Wunschliste, hätte den Ort der Intervention wahrscheinlich mit Grausen verlassen.
Stéphane Beel setzt mit seiner Arbeit dort an, wo Stynen aufgehört hat. Es geht weiterhin darum, ein Raumprogramm zu vernetzen. Die Offenheit der Erschließung, die Stynen mit der liegenden „Acht“ vorgegeben hat, erfährt nun einen interessanten Doppel-Twist in die Vertikale. Bislang liefen die Verbindungen im Gebäude im Wesentlichen auf einer Ebene ab. Sicherlich waren Distanzen zu überbrücken, es waren aber nicht wirkliche Höhenversprünge aufgetreten. Das ist nun, mit der Erweiterung, anders geworden. Denn die Studios und Übungsräume für Musik und Tanz, die im Erweiterungsbau eingerichtet werden mussten, ließen sich beim besten Willen nicht mehr in der Fläche verteilen, sondern mussten gestapelt werden. Das, was Beel umsetzt, ist eine architektonische Promenade, ein Spiel mit Aus- und Durchblicken – und er vermeidet die Sackgasse. Er setzt mit einer langen Rampe an, die den Besucher von den Konzertsälen in die Höhe führt. Das Ziel ist sofort erkennbar. Aufgeständert auf hohen Stützen, schwebt ein holzverschalter, teilweise von Fenstern durchbrochener Kubus über dem Bestand: ein viertes Hochhaus.
Die Konstruktion erklärt sich selbst. Sie vermeidet jegliche Kreuzung mit den bestehenden Bauteilen. Eine eigenständige Gründung war notwendig, um die Erschütterungen der großen Straßen und der Bahnlinie wegzudrücken. Zwischen die alten Bauteile und das Neue ist eine gläserne Fuge gelegt, in der wir uns bewegen. Hier gibt es ein großzügiges Restaurant mit einem hinreißenden Blick auf die Ringstraße; das Gebäude lässt sich auf die andere „Landschaft“ ein, in der es sich nun einmal befindet. Straßen, Brücken oder Begleitgrün werden inszeniert und als wesentliche Elemente von Wezenberg in Szene gesetzt. Nun erst gibt es endlich die Möglichkeit, nach einer Vorstellung noch etwas länger zu verweilen und das Gesehene Revue passieren zu lassen. Und es gibt jetzt auch einen Platz, an dem sich die unterschiedlichen Interessen, die hier zusammengespannt werden, treffen können. DeSingel ist zwar immer ein Gebäude gewesen – aber es war nicht wirklich ein Ort. Das Restaurant war eine richtige Entscheidung. Es geht nicht nur ums Essen.
Je höher der Besucher steigt, desto klarer werden die Bezüge, in die deSingel eingebettet ist. Immer wieder fällt jetzt der Blick auf die Ringstraße und auf die Hochhäuser, die Stynen einst vorgeschlagen hatte. Der rastlose und trennende Verkehr ist ein Kontrapunkt zur Ruhe in den Übungsräumen, die in den obersten Etagen untergebracht sind. Fast alle haben Außenbezug und fast alle zwei Türen, die einander gegenüberliegen. Immer hat man mehrere Möglichkeiten, in diesem Komplex dorthin zu gelangen, wohin man will; die Bewegung wird zur zentralen Raumerfahrung. Das ist überzeugend. Beel hat eine Stadt gebaut. Es gibt klare Ziele, die schnell und unkompliziert zu erreichen sind, gleichzeitig wirkt das Ganze intim und praktikabel. Und außerdem gibt es hier ein Spiel mit Weitungen, Blicken und Plätzen, eine Komplexität, die auf Jahre hinaus Entdeckungen zulässt. Es ist ein offenes Ensemble entstanden, das gerade in seiner präzisen Vernetzung vielfältige Entwicklungsräume bietet. Beel hat eine Akropolis für Suburbia gebaut: einen überzeugenden Identifikationsraum in einer Nicht-Stadt, der der Situation passgenau angemessen ist.
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