Haus für alle
Nach der Flut
Text: Hladik, Murielle, Paris
Haus für alle
Nach der Flut
Text: Hladik, Murielle, Paris
Am 18. November letzten Jahres wurde im japanischen Küstenstädtchen Rikuzentakata ein Gemeindehaus eingeweiht, das auf Initiative von Architekten als „Minna no ie“ (Haus für alle) entstanden ist.
Es ist Teil einer Serie partizipatorisch entwickelter Bauten, die den Bewohnern der durch Tsunami und Erdbeben verwüsteten Tohoku-Region als Gemeinschaftseinrichtungen und Begegnungsstätten dienen sollen. Nachdem das Projekt auf der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen erhalten hatte, wurde die Einweihung vor Ort mit Spannung erwartet.
Gleich nach der Flutkatastrophe im März 2011 hatten sich die Architekten Toyo Ito, Riken Yamamoto, Kengo Kuma, Hiroshi Naito und Kazuyo Seijima zusammengesetzt, um über konkrete Hilfsmaßnahmen nachzudenken. Von Ito kam der Vorschlag, eine Gemeinschaftseinrichtung zu bauen, um den Mangel an öffentlichen Räumen zu beheben, der in den notdürftig zusammengeschobenen Containerdörfern allenthalben vorherrscht. Dieser akute Mangel an Orten der Begegnung ist umso bedrückender, als insbesondere in der Wiederaufbauphase ein hohes Maß an kollektiver Anstrengung, Interaktion und Koordination gefordert ist. Zusammen mit seinen jüngeren Kollegen Kumiko Inui, Sou Fujimoto und Akihisa Hirata entwickelte Ito die Idee, neue Gemeindehäuser, die einem prototypischen Entwurf folgen, auf das verwüstete Küstengebiet zu verteilen. Nachdem die Planergruppe international zur Einreichung von Entwürfen aufgerufen hatte, war die Resonanz enorm. Architekturstudenten, aber auch Kinder aus aller Welt reichten mehr als 900 Projektvorschläge ein, von denen eine Auswahl auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde.
Das neue Gemeindehaus von Rikuzentakata entstand auf dringenden Wunsch der lokalen Bevölkerung, die in der Flutkatastrophe alles verloren hat. Das neue „Haus für alle“ steht als ein Zeichen der Hoffnung, ein Anstoß für die Revitalisierung der ganzen Region auf einem Hügel inmitten einer verwüsteten Landschaft. Der Bau verdankt seine Existenz insbesondere Frau Mikiko Sugawara, die gemeinsam mit Bürgervereinigungen das Projekt vorangetrieben hat. Zur Einweihung am 18. November kamen fast 300 Menschen. Auf dem Höhepunkt der Festveranstaltung warfen Frau Sugawara und die Architekten glücksbringende Reiskuchen in die Menge der versammelten Einwohner, Handwerker, Unternehmer und Sponsoren. Zuvor gab es einige Redebeiträge: Während Frau Tae Mori von der Japan Foundation, die das Projekt finanziell unterstützt hat, die gebaute Umsetzung der in Venedig ausgestellten Idee begrüßte, lobte Toyo Ito das Engagement der lokalen Bevölkerung und den Mut zum Neubeginn nach der Naturkatastrophe. Der Entstehungsprozess von „Minna no ie“, einem durch freiwillige, kollektive Anstrengung zustande gekommenen Gemeindezentrum, verlief nicht in herkömmlichen Bahnen: Die vier Architekten haben Größe bewiesen, und ihre individuellen Gestaltungsansprüche den Fragen des lokalen Bedarfs und des Gemeinsinns unterordneten, die Handwerker und die am Bau beteiligten Unternehmen haben nur einen Teil der tatsächlich aufgewendeten Arbeitszeit in Rechnung gestellt.
Kollektive Identität und Erinnerungen
Nachdem die Trümmer beseitigt waren, kamen in den verwüsteten Landstrichen Fragen nach dem Wert der verschwundenen Architektur auf. Was soll wiederhergestellt werden? Welche Bauten haben eine besondere Bedeutung für die Erinnerung? Welche der zerstörten Bauten werden schon bald ganz vergessen sein? Außer den zahlreichen Menschenleben ist tatsächlich nicht nur der Verlust menschlicher Artefakte zu beklagen, sondern auch der Verlust des Grundes, auf dem sie einst errichtet wurden. Die gesamte wirtschaftliche, geistige und soziale Landschaft der Küstenregion hat sich radikal verändert. Dieser Wandel wurde von dem Fotografen Naoya Hatakeyama eindringlich festgehalten. Hatakeyama stammt aus Rikuzentakata und fotografierte immer wieder die Landschaft seiner Kindheit, bevor der Tsunami die Hafenstadt, in der 23.000 Einwohner lebten, fast vollständig dem Erdboden gleichmachte. Die fotografische Arbeit von Hatakeyama, einem der Akteure von „Minna no ie“, förderte den Dialog der am Projektbeteiligten Gruppen und Verbände. Die Bilder der Erinnerung unterstützten die Wiederherstellung sozialer Bindungen.
Der Neubau
Das Projekt nahm bereits im Verlauf der ersten Treffen im Oktober 2011 Gestalt an. Im Dezember wurden Entscheidungen vor Ort bezüglich des Grundstücks und seiner Zugänge getroffen. Im Juni 2012 begann die Phase der Realisierung, die das Team der Zimmerleute aus der Präfektur Yamagata vier Monate lang in Anspruch nahm. Für die Tragstruktur des Gemeindehauses wurden vom Tsunami entwurzelte rote Zedern verwendet. Die grobschlächtigen Tragglieder wirken wie archaische Säulen und erinnern an die monumentalen Holzpfeiler japanischer Shinto-Schreine. Von großer Bedeutung ist auch die sinnliche Materialität des Holzes, dessen Geruch die Innenräume des Baus ganz ausfüllt. Das Gemeindehaus, dessen vielseitig nutzbaren Räume in ein Bündel von aufragenden Holzsäulen eingefügt sind, vermittelt den Eindruck eines unfertigen, lebendigen und offenen Kunstwerks. Außer den Volumina des Hauses tragen die massiven Stämme auch die Treppenanlage, die den Bau spiralförmig umfängt. Auf dem Weg nach oben laden großzügige Plateaus zum Verweilen ein. Schon jetzt dienen sie als Treffpunkt, aber auch als Aussichtsplattform mit Blick in eine offene Landschaft, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war. Schließlich muss noch die zentrale, sehr einfache Herdstelle erwähnt werden: In der alles umhüllenden Wärme des Holzfeuers wird diskutiert, gekocht und gegessen.
In elementarer und archaischer Weise entsteht in der Gemeinde Rikuzentakata die Architektur neu. Es wäre völlig verfehlt, ihre spröde Qualität mit dem Fetischcharakter der publizistisch gewürdigten Bauproduktion unserer Tage zu vergleichen. An der Architektur des „Minna no ie“ sind auch nicht die formalen Ambitionen begnadeter Entwerfer abzulesen. Es verkörpert vielmehr den einfühlsamen und tastenden Versuch, den traumatisierten Menschen zu entsprechen, denen der Rahmen ihrer alltäglichen Rituale so tragisch abhanden gekommen ist und die an ihrem kaum mehr wiederzuerkennenden Ort aufs Neue heimisch werden wollen.
Gleich nach der Flutkatastrophe im März 2011 hatten sich die Architekten Toyo Ito, Riken Yamamoto, Kengo Kuma, Hiroshi Naito und Kazuyo Seijima zusammengesetzt, um über konkrete Hilfsmaßnahmen nachzudenken. Von Ito kam der Vorschlag, eine Gemeinschaftseinrichtung zu bauen, um den Mangel an öffentlichen Räumen zu beheben, der in den notdürftig zusammengeschobenen Containerdörfern allenthalben vorherrscht. Dieser akute Mangel an Orten der Begegnung ist umso bedrückender, als insbesondere in der Wiederaufbauphase ein hohes Maß an kollektiver Anstrengung, Interaktion und Koordination gefordert ist. Zusammen mit seinen jüngeren Kollegen Kumiko Inui, Sou Fujimoto und Akihisa Hirata entwickelte Ito die Idee, neue Gemeindehäuser, die einem prototypischen Entwurf folgen, auf das verwüstete Küstengebiet zu verteilen. Nachdem die Planergruppe international zur Einreichung von Entwürfen aufgerufen hatte, war die Resonanz enorm. Architekturstudenten, aber auch Kinder aus aller Welt reichten mehr als 900 Projektvorschläge ein, von denen eine Auswahl auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde.
Das neue Gemeindehaus von Rikuzentakata entstand auf dringenden Wunsch der lokalen Bevölkerung, die in der Flutkatastrophe alles verloren hat. Das neue „Haus für alle“ steht als ein Zeichen der Hoffnung, ein Anstoß für die Revitalisierung der ganzen Region auf einem Hügel inmitten einer verwüsteten Landschaft. Der Bau verdankt seine Existenz insbesondere Frau Mikiko Sugawara, die gemeinsam mit Bürgervereinigungen das Projekt vorangetrieben hat. Zur Einweihung am 18. November kamen fast 300 Menschen. Auf dem Höhepunkt der Festveranstaltung warfen Frau Sugawara und die Architekten glücksbringende Reiskuchen in die Menge der versammelten Einwohner, Handwerker, Unternehmer und Sponsoren. Zuvor gab es einige Redebeiträge: Während Frau Tae Mori von der Japan Foundation, die das Projekt finanziell unterstützt hat, die gebaute Umsetzung der in Venedig ausgestellten Idee begrüßte, lobte Toyo Ito das Engagement der lokalen Bevölkerung und den Mut zum Neubeginn nach der Naturkatastrophe. Der Entstehungsprozess von „Minna no ie“, einem durch freiwillige, kollektive Anstrengung zustande gekommenen Gemeindezentrum, verlief nicht in herkömmlichen Bahnen: Die vier Architekten haben Größe bewiesen, und ihre individuellen Gestaltungsansprüche den Fragen des lokalen Bedarfs und des Gemeinsinns unterordneten, die Handwerker und die am Bau beteiligten Unternehmen haben nur einen Teil der tatsächlich aufgewendeten Arbeitszeit in Rechnung gestellt.
Kollektive Identität und Erinnerungen
Nachdem die Trümmer beseitigt waren, kamen in den verwüsteten Landstrichen Fragen nach dem Wert der verschwundenen Architektur auf. Was soll wiederhergestellt werden? Welche Bauten haben eine besondere Bedeutung für die Erinnerung? Welche der zerstörten Bauten werden schon bald ganz vergessen sein? Außer den zahlreichen Menschenleben ist tatsächlich nicht nur der Verlust menschlicher Artefakte zu beklagen, sondern auch der Verlust des Grundes, auf dem sie einst errichtet wurden. Die gesamte wirtschaftliche, geistige und soziale Landschaft der Küstenregion hat sich radikal verändert. Dieser Wandel wurde von dem Fotografen Naoya Hatakeyama eindringlich festgehalten. Hatakeyama stammt aus Rikuzentakata und fotografierte immer wieder die Landschaft seiner Kindheit, bevor der Tsunami die Hafenstadt, in der 23.000 Einwohner lebten, fast vollständig dem Erdboden gleichmachte. Die fotografische Arbeit von Hatakeyama, einem der Akteure von „Minna no ie“, förderte den Dialog der am Projektbeteiligten Gruppen und Verbände. Die Bilder der Erinnerung unterstützten die Wiederherstellung sozialer Bindungen.
Der Neubau
Das Projekt nahm bereits im Verlauf der ersten Treffen im Oktober 2011 Gestalt an. Im Dezember wurden Entscheidungen vor Ort bezüglich des Grundstücks und seiner Zugänge getroffen. Im Juni 2012 begann die Phase der Realisierung, die das Team der Zimmerleute aus der Präfektur Yamagata vier Monate lang in Anspruch nahm. Für die Tragstruktur des Gemeindehauses wurden vom Tsunami entwurzelte rote Zedern verwendet. Die grobschlächtigen Tragglieder wirken wie archaische Säulen und erinnern an die monumentalen Holzpfeiler japanischer Shinto-Schreine. Von großer Bedeutung ist auch die sinnliche Materialität des Holzes, dessen Geruch die Innenräume des Baus ganz ausfüllt. Das Gemeindehaus, dessen vielseitig nutzbaren Räume in ein Bündel von aufragenden Holzsäulen eingefügt sind, vermittelt den Eindruck eines unfertigen, lebendigen und offenen Kunstwerks. Außer den Volumina des Hauses tragen die massiven Stämme auch die Treppenanlage, die den Bau spiralförmig umfängt. Auf dem Weg nach oben laden großzügige Plateaus zum Verweilen ein. Schon jetzt dienen sie als Treffpunkt, aber auch als Aussichtsplattform mit Blick in eine offene Landschaft, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war. Schließlich muss noch die zentrale, sehr einfache Herdstelle erwähnt werden: In der alles umhüllenden Wärme des Holzfeuers wird diskutiert, gekocht und gegessen.
In elementarer und archaischer Weise entsteht in der Gemeinde Rikuzentakata die Architektur neu. Es wäre völlig verfehlt, ihre spröde Qualität mit dem Fetischcharakter der publizistisch gewürdigten Bauproduktion unserer Tage zu vergleichen. An der Architektur des „Minna no ie“ sind auch nicht die formalen Ambitionen begnadeter Entwerfer abzulesen. Es verkörpert vielmehr den einfühlsamen und tastenden Versuch, den traumatisierten Menschen zu entsprechen, denen der Rahmen ihrer alltäglichen Rituale so tragisch abhanden gekommen ist und die an ihrem kaum mehr wiederzuerkennenden Ort aufs Neue heimisch werden wollen.
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