Lagos 2015 – noch immer ein Beispiel für Modernisierung?
Rem Koolhaas entfachte vor 15 Jahren einen Hype um diese Stadt. Seine Begeisterung für Lagos zielte auf die Überlebensstrategien seiner Bevölkerung, die er als global beispielgebend für die Stadt der Zukunft ansah. „What can we learn from Lagos?“, fragte er in seinem Film „Wide and Close“ (2001) und bezeichnete die Stadt begeistert als „extreme example of modernization“. Gilt das noch heute?
Text: Kaltwasser, Martin, Berlin
Lagos 2015 – noch immer ein Beispiel für Modernisierung?
Rem Koolhaas entfachte vor 15 Jahren einen Hype um diese Stadt. Seine Begeisterung für Lagos zielte auf die Überlebensstrategien seiner Bevölkerung, die er als global beispielgebend für die Stadt der Zukunft ansah. „What can we learn from Lagos?“, fragte er in seinem Film „Wide and Close“ (2001) und bezeichnete die Stadt begeistert als „extreme example of modernization“. Gilt das noch heute?
Text: Kaltwasser, Martin, Berlin
Eine Einladung des Goethe-Instituts Nigeria im Rahmen eines Kuratorenstipendiums brachte mich Ende 2015 für drei Wochen nach Lagos. Die westafrikanische 20-Millionen-Metropole zeigte sich mir als eine fast totalitär anmutende Stadt, die einzig und allein dem monetären Gewinnstreben gewidmet ist. Die Stadt versinkt, oberflächlich betrachtet, im Chaos, weil sich die Staatsmacht fast komplett aus der zivilen Verantwortung gezogen hat. In allen Bereichen spielt Geld die ausschlaggebende Rolle. Die meisten Menschen haben sich mittels Selbstorganisation und informellen Überlebensstrategien mit den Bedingungen arrangiert. Ihnen bleibt nichts anders übrig. Die Gier nach Reichtum, forciert durch die gigantischen Ölvorkommen, hat das gesamte gesellschaftliche Leben bis in die letzte Faser erfasst. Das Land wird von Ölmultis, korruptem Staatsapparat, internationalen Unternehmen und seinen Bewohnern gnadenlos ausgesaugt. Der Reichtum selbst ist äußerst ungleich verteilt. Eine übergreifende zivile Organisationsstruktur ist quasi nicht vorhanden. Die Stadtbewohner sind gezwungen, sich selbst zu organisieren. Dies erfordert alle Lebensenergie und erzeugt Hierarchien, Unterdrückungsmechanismen, Ausbeutungssysteme und Abhängigkeiten. Neuankömmlinge brauchen eine Weile, um diese zu verstehen. Die Logik dieser Stadt verschafft unglaubliche Freiräume für die Reichen in Ikoyi, Lekki und Victoria Island, während sich die eklatante Armut in den schnell wachsenden Stadtvierteln auf dem Mainland verschärft. Platz für ausgleichende Humanität, einen behutsamen Umgang mit Grünflächen, Kultur und Freiräumen oder der Pflege und Förderung zeitgenössischer Kunst und Baukultur bleibt nirgendwo. Die Logik dieser Stadt bedingt den schonungslosen Umgang der Bewohner miteinander und mit der Umwelt. Trotzdem übt Lagos eine extreme Anziehungskraft aus. Sie ist die Sehnsuchtsstadt des afrikanischen Kontinents per se. Jeder glaubt, dort das große Geld machen zu können. Das ist die große Übereinkunft, für die man alles in Kauf nimmt. Genau dieses wird bei Rem Koolhaas leuchtende Augen erzeugt haben: Learning from Lagos!
Die Oberschicht lebt nicht nur aus Sicherheitsgründen in Gated Communities, sondern auch, weil es die einzigen Orte sind, an denen Infrastruktur wie Stromversorgung, Wasser, Abwasser, Müll und Gasversorgung funktionieren. Das wird teuer bezahlt: 40 Quadratmeter Wohnfläche kosten in Ikoyi auf Lagos Island ab 2000 US-Dollar monatlich. Die Preise werden durch die Ölmultis diktiert.
Wegen der fehlenden öffentlichen Stromversorgung ist jeder Haushalt auf eigene, benzinbetriebene Generatoren angewiesen. Diese laufen Tag und Nacht. Der Zustand der öffentlichen Straßen ist desolat, das Auto alleiniges Verkehrsmittel, Stau, bis auf wenige Nachtstunden, omnipräsent. Das sorgt permanent für Lärm, Hektik und Gestank – den „Sound of Lagos“. Das Leben hängt komplett am Benzin. Bei „petrol shortage“ – Nigeria besitzt keine Ölraffinerien und muss Benzin teuer importieren – herrscht Chaos; kilometerlange Staus vor den Tankstellen. Auf der zwölf Kilometer langen, achtspurigen 3rd Mainland Bridge, die längste Brücke Afrikas, herrscht täglich mehrstündiger totaler Stau. Die Stadt erstickt an sich selber.
Ich sehne mich nach Abkühlung, dem Sprung ins Wasser, welches die Stadt so großzügig umgibt … no way! Von der geographischen Stadtlage her ist Lagos mit Vancouver vergleichbar – ebenso wie die kanadische Westküstenmetropole ist Lagos in einem Archipel aus Inseln und Halbinseln errichtet, geht aber anders mit den natürlichen Schätzen um. Lagos ist das Gegenteil von Vancouver. Das Wasser, das die Stadt geographisch betrachtet umgibt, existiert quasi nicht. Die Stadt gleicht einer Binnenlandmetropole. Alle Küstenabschnitte sind lückenlos zugebaut mit Autobahnen, Privathäusern und hermetisch gesicherter Gewerbebebauung. Die Lagunen- und Küstengewässer sind verseucht und abfallübersät. Die globale Oberklasse erbaut sich nun mit „Eko Atlantic“, Afrikas größtem Neubauprojekt, eine eigene, hermetisch abgeschottete Privatstadt auf einer künstlich aufgeschütteten, 2,5 Millionen Quadratmeter großen Halbinsel, der Stadt vorgelagert und endgültig von ihr abgekoppelt. Wer Geld hat, leistet sich ein Schnellboot und fährt am Sonntag raus, an einen der 50 oder 60 Kilometer entfernten Strände. Dort geht aber niemand im Atlan-tik schwimmen, sondern in seinem privaten Swimmingpool. Die langen Feinsandstrände, von Palmen gesäumt und eigentlich romantisch, sind nahe-zu menschenleer. Sie sind ölverschmutzt und komplett übersät mit dem angeschwemmten Plastikmüll des „extreme example of modernization“ Lagos.
Unentdeckte Relikte
Lagos hat eine Geschichte und erlebte, wie viele afrikanische Städte, eine baukulturell visionäre Blütezeit im von Okwui Enwezor so bezeichneten „Short Century“, der kurzen Zeit nach Erlangung der Unabhängigkeit der afrikanischen Länder Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Ausdruck des neuerwachten Selbstbewusstseins waren unter anderem experimentelle, klimatechnisch durchdachte, herausragende moderne Bauten in den prosperierenden Städten, die von hoher baukünstlerischer Prägnanz waren. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Alan-Vaughan-Richards-House in Lagos, in dem ich während meines Aufenthalts wohnte.
Errichtet im Jahr 1960, im damals kosmopolitischen Stadtteil Ikoyi, ist das Haus ein Meisterstück der Tropical Modernist Architecture. Der britische Architekt Alan Vaughan-Richards, AA-Absolvent, war Anfang der fünfziger Jahre nach Nigeria ausgewandert und heiratete 1957 die Nigerianerin Ayo Richards. Er errichtete das Haus für seine Familie. Das langgezogene, eingeschossige, später um einen zweigeschossigen Anbau ergänzte Wohnhaus direkt am Nordufer von Lagos Island bot einen großzügigen Blick auf die Lagune. Es zeichnet sich aus durch die kongeniale Verknüpfung von organischen Formen, verwurzelt in der lokalen Bautradition, und technisch fortschrittlichem Design. Alan Vaughan-Richards vornehmlich in den sechziger Jahren ausgeführten Entwürfe zeigen seine außergewöhnliche Suche nach einer modernen und nigerianischen Bautradition verbundenen Formensprache, kombiniert mit intelligenten klimatechnischen Lösungen. Seine Architekturen sind verspielt, humorvoll und voller Leichtigkeit – kongenialer Ausdruck ihrer Epoche. Alan Vaughan-Richards beeinflusste seinerzeit die Architekturdebatten und das kulturelle Leben von Lagos. Nach seinem Tod 1989 stand das Haus über lange Jahre leer. Seine Tochter, Remi Vaughan-Richards, lebt seit 2005 wieder auf dem Anwesen und kümmert sich um das Erbe ihres Vaters. Derzeit ist sie dabei, zusammen mit dem Goethe-Institut Nigeria und weiteren Unterstützern, hier eine dauerhafte Residenz für deutsche und afrikanische Kulturschaffende zu etablieren: als Wohnung, Basis für Stadterkundungen, Atelier und Studienobjekt. Das Haus ist aufgrund großflächiger Landaufschüttungen und Stadterweiterungen mittlerweile fast einen Kilometer vom Ufer der Lagos Lagoon entfernt. Das Grundstück aber ist in seiner ursprünglichen Anlage und der Garten in seiner Bepflanzung belassen worden, zum Unwillen der Nachbarschaft, denen die inziwschen großen Bäume und Sträucher hinter der ornamental verspielten Grundstücksmauer missfallen.
Die Rettung dieses Hauses und die Bewahrung des Erbes von Alan Vaughan-Richards sind ein seltener Glücksfall im Umgang mit den baulichen Relikten des viel zu kurzen goldenen Jahrzehnts nach der Erlangung der Unabhängigkeit. Andere herausragende Bauwerke des Tropical Modernism dieser Stadt sind hingegen dem Verfall, dem Abriss oder der baulichen Verfremdung preisgegeben. Noch relativ gut erhaltene Beispiele sind die frühere City Hall, erbaut 1968 auf Lagos Island als Sitz des Gouverneurs, heute ein multifunktionales Bürohaus, das u.a. das Goethe-Institut beherbergt. Daneben die 1972 errichtete Multifunktionsarena Tafawa Bawana Square und das 26-stöckige Independence House aus dem Jahr 1963, lange Zeit das höchste Haus Nigerias. Des Weiteren das National Arts Theatre, 1976 während des Militärregimes von Obasanjo auf dem Mainland für das Festival of Arts and Culture (FESTAC) als vergrößerte Kopie des Kulturpalastes in Varna (Bulgarien) errichtet. Es beherbergt einen Hauptsaal mit 5000 Sitzen, Kinosäle, Ballsäle, Kongressräume und Restaurants. Im Dezember 2014 kaufte es angeblich ein Investor aus Dubai für 40 Millionen US-Dollar, um es zu einer Mall umzubauen.
Neben diesen prominenten Gebäuden stehen noch weitere verborgene Schätze des Short Century in Lagos; Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Verwaltungsgebäude, kaum sichtbar, umgeben von Schichten des zeitgenössischen Business, Werbetafeln, Anbauten. Vor sich hindämmernde, oft leerstehende architektonische Diamanten, die hoffentlich nicht von der Verwüstung durch die herrschende Ökonomie und Korruption heimgesucht werden. Diese Juwelen könnten in einem zukünftigen Zeitalter Handlungsorte werden, die der Wiederentdeckung humanerer urbaner Kultur dienen. Sie materialisieren eine andere urbane Idee, in der das Kulturelle an sich einen Wert darstellt(e), die zurückblickt auf eine Tradition und sich einer Zukunft zuwendet, in der auch die Ausübung und Förderung von freier, experimenteller Kunst und Kultur Bedeutung erlangt. Vielleicht beginnt mit dem Haus von Alan Vaughan-Richards eine zunächst minimale Veränderung in dieser Stadt, die nicht unerhebliche Folgewirkungen haben könnte. Vielleicht passiert diese notwendige Veränderung aber auch auf der anderen Seite, im Stadtteil Makoko.
Learning von Makoko
Wer kein Geld hat, und das betrifft das Gros der Bevölkerung, lebt auf dem Mainland. Eines der bekanntesten Viertel ist Makoko, eine Lagunensiedlung mit ca. 85.000 Einwohnern. Teile von Makoko bilden als Pfahlbauten in einem Netz von Kanälen die sogenannte Floating City. Sie gilt als größter Slum von Lagos und erlangte durch das bemerkenswerte Bauprojekt Floating School des nigerianischen Architekten Kunle Adeyemi international Aufmerksamkeit. Die Floating School sollte der Nukleus einer grundlegenden Veränderung in Makoko werden und diesen Stadtteil aufwerten. Das Gebäude, 2013 fertiggestellt, hat den Schulbetrieb nie aufgenommen. Dieser Zustand ist Wasser auf die Mühlen des Lagos State Gouvernement, die diese Siedlung lieber abreißen und die Bewohner loswerden will.
Makoko ist der Holzlieferant von Lagos und seine Gebäude bestehen ausschließlich aus diesem Baustoff. Das lokale Transportmittel sind schmale Holzkanus, die durch die engen Kanäle gleiten. Dies gibt verblüffende Ähnlichkeit mit Venedig, und gleichzeitig ist Makoko das absolute Gegenteil. Kein Touristen verirrt sich hierher. Im Gegensatz zum Rest von Lagos ist der Stadtteil ein leiser Ort. Autos und Generatoren können sich die wenigsten leisten, aber idyllisch ist es hier keineswegs. Makoko ist stark verschmutzt, marode, extrem dicht besiedelt.
Die Schweizer Städteplanerin und Architektin Fabienne Hoelzel arbeitet mit ihrem Büro FABULOUS URBAN, unterstützt durch die Heinrich-Böll-Stiftung und SERAC, eine lokale Menschenrechtsorganisation, mit Bewohnern Makokos seit 2012 an einem städtebaulichen Upgrading-Projekt. Ihr „Makoko-Iwaya Waterfront Regeneration Plan“ sieht vor, die Bausubstanz konstruktiv zu stärken und zu ergänzen. Erstes Element ist ein gerade fertiggestelltes Nachbarschaftszentrum, der „Makoko Neighborhood Hotspot“. Die nächsten Schritte sind eine Neighborhood Hotspot Kooperative sowie die Biogas- und Solarstromproduktion.
Fest steht, dass dieses Projekt die enormen Potenziale von Makoko aufgreift. Wie in vielen Slums weltweit, herrscht hier ein hohes Maß an Selbstorganisation, Improvisationstalent, Stressresistenz – und wohl auch eine außergewöhnliche soziale Kompetenz. Wie sonst könnten 85.000 Menschen in dieser extremen Dichte zusammenleben? Vergleiche ich – als Kurzzeitbesucher aus Deutschland und Gast des Goethe-Instituts – nun alle Optionen zwischen dem Lagos der Reichen und dem der Armen, kann hier für mich vielleicht am ehesten der Schluss gezogen werden, den ich im Laufe dieses Textes versucht habe, auszuhebeln, der aber eine Kernaussage von Fabienne Hoelzels Denken und Handeln trifft und der mich auf die Erkenntnis von Rem Koolhaas zurückwirft: Learning from Makoko!
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