Keine akzeptierte Erzählung
Ein Besuch auf der Manifesta 14 in Pristina fördert grundsätzliche Fragen zum Kosovo zutage. Welche Rolle kann das Kunst-Festival vor Ort spielen?
Text: Landes, Josepha, Berlin
Keine akzeptierte Erzählung
Ein Besuch auf der Manifesta 14 in Pristina fördert grundsätzliche Fragen zum Kosovo zutage. Welche Rolle kann das Kunst-Festival vor Ort spielen?
Text: Landes, Josepha, Berlin
100 Tage ein Hot-Spot in Europa sein, dieses Versprechen macht die nomadische Kunstbiennale Manifesta in diesem Jahr Pristina, der Hauptstadt des Kosovo. Schon am Berliner Flughafen springt die Zweischneidigkeit dieses Versprechens ins Auge. Zwischen kosovarische Familien, die sich für die Sommerferien bereit machen, mischt sich das deutsche Kulturpublikum – die Unterscheidung fällt nicht schwer: Sprache, Kleidung, Habitus. Die Hautevolee gedenkt in diesem Jahr, nach Anlaufpunkten wie Zürich 2016, Palermo 2018 oder Marseille 2020, die spannende Ärmlichkeit des Balkans für sich zu entdecken. Endlich wird es unter internationalem Schlaglicht hell im Kosovo. So kann man das auch sehen, und so preisen die Festivalleitung unter Hedwig Fijen wie auch Vertreter der kosovarischen Regierung und Pristinas Bürgermeister Përparim Rama die Veranstaltung an.
Es fällt mir schwer, zu dieser – programmatisch im Übrigen sehr gelungenen, soviel vorweggenommen – Kunstschau Position zu beziehen. So laut über die Documenta in Kassel diskutiert wurde, so einhellig lesen sich Berichte aus Pristina: Kosovo braucht Visafreiheit. Kosovo teilt europäische Werte. Kosovo muss von allen EU-Mitgliedsstaaten anerkannt werden. Das klingt einleuchtend, und doch hab ich ein flaues Gefühl ob so viel Einstimmigkeit. Für die Bauwelt werde ich schreiben, wie wunderbar Raumlabor die Alte Ziegelei im Norden der Stadt bespielt. Ich werde mit Carlo Ratti sprechen, was die städtebauliche Strategie war, die sein Büro der Manifesta als Rahmen vorgeschlagen hat. Ichwerde die Gebäude der jugoslawischen Moderne bestaunen und über ihren Bauzustand in Verwunderung geraten. Aber wirklich verstehen – ist das möglich?
Um wenigstens Grundzüge der Gemengelage nachzuzeichnen, lese ich während meines Aufenthalts Marie-Janine Calics „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“. Ich möchte glauben, dass die Manifesta Architektur und Kunst nicht als Selbstzweck betrachtet. Mehr noch als in Palermo vor vier Jahren wird mir in Anbetracht meiner eigenen mangelhaften Kenntnis Ex-Jugoslawiens bewusst, welch immenser Anspruch im Nomadentum der Schau steckt.
Calic schreibt in der Einleitung ihres Buches: „Eine akzeptierte Erzählung der Entstehung Jugoslawiens, seiner historischen Entwicklung und seiner Probleme existierte zeit seines Bestehens nicht. Wer immer sich dennoch daran versuchte, endete im Kreuzfeuer der Kritik.“ Das möchte ich also nicht versuchen, Kreuzfeuer klingt unangenehm. Zu Kosovo deshalb nichts als Fakten:
Die Bevölkerung des Landes setzt sich heute aus 88 Prozent Kosovo-Albanern, 7 Prozent Serben und 5 Prozent weiteren Minderheiten zusammen, darunter Roma, Bosniaken, Türken, Kroaten. Der kritische Punkt ist die Beziehung zwischen Albanern und Serben. Das Land ist nicht nur das jüngste in Europa, sondern in ihm lebt, mit durchschnittlich 30,4 Jahren, auch die jüngste Bevölkerung. Dabei ist sogar ein deutlicher Alterungsprozess erkennbar: Noch in den Sechzigerjahren war jeder zweite Kosovare jünger als 20.
2008 erklärte Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien. Dem vorausgegangen waren der Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien Anfang der Neunzigerjahre und 1998/99 der Kosovo-Krieg. Ausschlaggebend für die nicht unumstrittene, militärische Großoffensive der NATO waren Berichte über Pogrome von Serben an Albanern.
Seit Slobodan Milošević 1989 die Führung in Serbien übernommen hatte, verfolgte er einen hypernationalistischen Kurs. Er starb 2006 kurz vor Abschluss des gegen ihn geführten Prozesses in Gefangenschaft in Den Haag. Die Kosovo betreffenden Anklagepunkte gegen ihn umfassten die systematische Vertreibung der albanischen Bevölkerung, von insgesamt rund 800.000 Zivilisten, den Tod von mindestens 900 Menschen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit undKriegsverbrechen. Hinzu kamen u.a. der Anklagepunkt Völkermord in Bosnien und Verstöße gegen die Genfer Konvention im Kroatien-Krieg.
Die Brandherde, wie sie auf dem Balkan in den Neunzigerjahren ausbrachen, gehen auch auf einen Territorialanspruch zurück, den Serbien auf Grundlage mittelalterlicher Grenzen eines einstigen Königreichs hegt. Das Gebiet des Kosovo ist für Serbien die Wiege der Nation; unweit Pristinas fand 1389 die Schlacht auf dem Amselfeld statt. Ein zwar verlorener Kampf der Slawen gegen die Türken, jedoch die erste Armee, in der die Völker der Region gemeinsam gegen die Invasoren zu den Waffen griffen. Demgegenüber ist der Kosovo für Albanien bedeutend, da sich hier 1878 die „Liga von Prizren“ formierte – eine Keimzelle der albanischen Nationenbildung. Der Grundkonflikt zwischen Serben und Albanern war es denn auch, der 1998/99 kulminierte.
Unter Milošević wurde den Albanern im Kosovo der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen versagt. Sie waren gezwungen, sich hinter verschlossenen Türen zu treffen, was zur Entwicklung einer Subkultur führte, andererseits die Wertschätzung für öffentlichen, also städtischen Raum nachhaltig schmälerte. Die Mitglieder der Paramilitärischen Union UÇK, jene Albaner, die damals im Widerstand kämpften, sind heute Volkshelden.
Ich hole so weit aus, weil mir scheint, dass diese Erzählung bei der Manifesta weitgehend außen vor bleibt. Und ich frage mich, ob aus gutem Grund. Mir scheint, die Ausstellungsmacher wagten kaum, die Komplexität der Situation zu thematisieren. Stattdessen zeigen sie ein wunderschönes Bild vom Wunsch nach einer toleranten, demokratischen, friedlichen Welt; Kunst und Architektur, die bloß nicht aneckt, sondern inklusiv und partizipativ ist. Feindbilder sind klar, aber werden nicht ausposaunt. Das Publikum kann durch Pristina flanieren, ohne allzu dramatisch mit Ungereimtheiten konfrontiert zu werden.
Warum thematisiert die Schau den allgegenwärtigen Heroismus und albanischen Nationalismus so wenig? Etwa bespielt sie mit zwei Werken das Nationalmuseum, dort jedoch bleibt das Nebeneinander mit grotesken Reliquien der UÇK unkommentiert. Noch Wochen nach meiner Rückkehr kreisen die Gedanken um die IFA-MZ dort in einem Nebenraum. Auf einem vergilbten A4-Ausdruck ist die Maschine als „Motorrad des legendären Kommandanten Adem Jashari!“ ausgewiesen. Dieses Bild will mir nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, ob dieses Unwohlsein Ziel des Kuratorenteams war – ein wortloser Kommentar, mit der Lage eben schwer umgehen zu können –, dann wäre das geschickt, oder ob es sich nur einschleicht.
Ich frage mich, ob die Zwischentöne, wie sie sich einstellen, wenn man abseits der Manifesta-Beschilderung durch die Stadt und die Ausstellungsorte schweift, nun der Biennale zuzuschreiben sind. Ob das alles eine gelungene Schau sein kann, weil sie dem Ort Raum lässt, fürsich selbst zu sprechen. Über das, was in den Ausstellungsräumen zu sehen ist, haben schon so viele geschrieben – bitte lesen Sie bei Baunetz oder Monopol, hören Sie Deutschlandfunk oder blättern Sie in der Tageszeitung ihres Vertrauens. Was mich viel mehr interessiert, sind die Kellerräume des „Grand Hotel Prishtina“, ein dreckiges, dunkles Labyrinth. Ein vergessener, verlassener Abgrund, mit Treppen, die aus tiefen Kellern in noch tiefere Keller führen. Und an der Wand der Küche hängt ein Kalender nicht allzu lang vergangener Zeit. Es ist die Toilettenanlage der Nationalbibliothek, abseits der metabolistischen Fullerenkuppeln – in Naturstein ausgekleidet, aber ohne Wasseranschluss. Mich interessiert, wieso Carlo Ratti mir im Interview von nicht vorhandenem öffentlichen Raum der Stadt erzählt, während ich die wärmsten Stunden der Tage im lebendigen Stadtpark verbringen werde. Mich interessiert, wieso die Architekten Bäumchen in winzige Kübel zwängen und der prallen Sonne aussetzen, dann das Ganze als ihren gelungenen Beitrag zur Stadtentwicklung vor sich her tragen. Angekommen in der Brick Factory, einem Projekt von Raumlabor, bin ich Feuer und Flamme – toller Workshop. Und im Rückblick kommen doch wieder Zweifel: Was daran ist anders, als man es in der Uckermark sehen könnte?
Wenn das Publikum am Abend die an Eisenhüttenstadt erinnernde Fußgängerzone entlangläuft, den Mutter Teresa Boulevard, strahlen über ihm die Helden. Dort prangt auf haushohen Plakaten zum Beispiel der UÇK-Mitbegründer Hashim Thaçi. 2020 aus dem Amt als Präsident der Republik Kosovo geschieden, muss sich Thaçi derzeit in Den Haag wegen Kriegsverbrechen an politischen Gegnern verantworten. Überdies soll er in die organisierte Kriminalität im Land verwickelt sein.
Auch Adem Jashari, der Mann mit dem Motorrad, könnte zum Nachdenken anregen. Der Paramilitär nahm sich Ende der Achtziger durchaus die Lizenz zum Töten. Doch scheint es kein Problem, dass sein Konterfei seit einigen Jahren maximalgroß den Platz am Jugend- und Sportpalast schmückt – und damit auch die Eröffnung der Manifesta überblickt. Selbst Mutter Teresa, der in Pristina ein Boulevard und eine Kathedrale gewidmet sind, ist eine höchst zweifelhafte Heilige: Die albanische Nonne soll Armut, Demut und Schmerz soweit verklärt haben, dass sie Hilfe in vielen Fällen verweigerte, Stichwort: Abtreibung. Mit ihr setzt sich im Grand Hotel zwar ein Beitrag auseinander; ohne künstlerischen Anspruch oder Autorenschaft wirkt der jedoch wie ein Alibi. Diese Beispiele sollen nicht der Dekonstruktion dienen, sie stehen mir allerdings irritierend im Weg, auf der Suche nach einem roten Faden – die Realität Kosovos lässt sich, so der Eindruck, nicht eigentlich abbilden, und also fühle ich mich überfordert, die Manifesta einzuordnen.
Mythos und Heroismus ziehen sich in die kosovarische Gegenwart – und ins Stadtbild. Dabei wäre es zwanzig Jahre nach dem Krieg vielleicht auch hier an der Zeit für Entmystifizierung. Ein Anliegen, dem eine Öffnung des Westens gegenüber dem Land guttun würde, denn wer nicht nach außen schauen kann, spinnt die innere Geschichte immerfort – ein recht simples philosophische Bild hierfür liefert Platons Höhlengleichnis. Unter Öffnung wäre aber eben wohl eine ernstgemeinte Hinwendung zu verstehen, und keine Heldenüberlagerung, wie sie etwa in Form von USA-Ikonografie zutage tritt: Neben Jashari finden sich Bill Clinton (als unproportionale Statue), Georg Bush (als Straßenname albanisiert zu Bulevar Xhorxh Bush) und Madeleine Albright (als grimmige Büste) in der Stadt monumentalisiert.
Was bleibt, ist die Frage nach der Position, die die Manifesta in der Gemengelage einnimmt, bzw. die ihr zugewiesen wird. Es wäre einerseits mutig, hielten die Macherinnen das Format für stark genug, um vor politischer Vereinnahmung geschützt zu sein. Und es sind universelle Werte, die sich auf dem Tableau befinden: Völkerfreundschaft, Freiheit des Individuums, Dialog, Frieden. Andererseits liegt in eben diesem Selbstbewusstsein auch eine gewisse Arroganz, die gar mit den Hoffnungen der Kosovaren spielt, die nach Anerkennung ihres Landes durch alle EU-Staaten streben und Visa-Freiheit ersehnen. Die Reisefreiheit hat zwar das Europäische Parlament, nicht aber der Europarat im Sinn.
Weckt die bei jeder möglichen Gelegenheit auf dieser Biennale ausgegebene Einigkeit, dass Kosovo es verdient habe, von der EU in den Arm genommen zu werden, nicht vielmehr Skepsis, in Anbetracht offensichtlicher Armut und Nachbarschaftskonflikte? Gewiss würde es helfen, dass die EU sich dem Land gegenüber öffnet. Abschottung stärkt Korruption, Nationalismus und Kriminalität. Anerkennung und Bewegungsfreiheit sind nötig, um diese Missstände zu beheben und damit die Kosovaren Entwicklungsspielraum bekommen. Eine klare Positionierung der EU fällt schwer, weil Spanien, Griechenland, die Slowakei, Rumänien und Zypern Kosovo nicht anerkennen.
Wie Anfang August erst wieder an einem Streit um Reisedokumente deutlich wurde, tritt Serbien – von Russland protegiert – durchaus als Aggressor auf. Die Regierung unter Aleksandar Vučić betrachtet Kosovo nach wie vor als serbische Provinz. In der nordkosovarischen Stadt Mitrovica kam es in Folge erneut zu Schießereien, und die KFOR fuhr auf. Nun hat sich die Lage zwar entspannt, allein wie dauerhaft diese, in Worten des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell: „europäische Lösung“ ist, bleibt abzuwarten.
Es mag uns, die wir aus Berlin anreisen, naheliegend scheinen, uns zu empören, wenn der Flug nach Griechenland länger dauert als in ein Schwellenland. Und für die Kosovaren ist nachvollziehbarerweise unverständlich, wieso sie mit erheblich weniger Chancen ausgestattet sind, als Bürger anderer früherer Teilrepubliken Jugoslawiens – auch Serbiens! Doch liegt die Verantwortung einer Kunstausstellung wirklich darin, in einem derart komplexen Gebilde wie dem post-jugoslawischen Staatsgeflecht, dezidiert politische Forderungen zu stellen? – Auf diese Frage habe ich, auch Wochen nach der Rückkehr aus Pristina, keine befriedigende Antwort gefunden. Sitzen wir hier eventuell westlicher oder künstlerischer Hybris auf? Oder wäre es auch einfach genug, zu sagen: Schöne Schau, „Fahren Sie nach Pristina!“ und, dass es doch toll ist, dass die Manifesta es wenigstens wagt? Vielleicht.
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