Vom Umgang mit freilebenden Wildtieren im Stadtraum
Warum bestimmten Tieren das Recht auf ein Leben in der Stadt zugesprochen wird und anderen nicht, ist eine Frage politischer Entscheidungen.
Text: Voigt, Annette, Kassel; Hennecke, Stefanie, Berlin
Vom Umgang mit freilebenden Wildtieren im Stadtraum
Warum bestimmten Tieren das Recht auf ein Leben in der Stadt zugesprochen wird und anderen nicht, ist eine Frage politischer Entscheidungen.
Text: Voigt, Annette, Kassel; Hennecke, Stefanie, Berlin
Viele Arten von freilebenden Wildtieren nutzen die Vielfalt an städtischen Räumen und Ressourcen. Die Beziehungen, die Menschen zu diesen Tieren haben, sind davon geprägt, welche kulturellen Werte, Schädigungen unserer Interessen oder Steigerung unserer Lebensqualität wir ihnen zuschreiben. Stadtverwaltungen regulieren maßgeblich das Vorkommen der Tiere und auch die Beziehungen zu ihnen, insofern Tiere geschützt, gefördert, verdrängt, ignoriert, umgesiedelt oder auch getötet werden (Voigt et al. 2022).
In einem Forschungsprojekt1 untersuchen wir, welche Maßnahmen der Regulierung von Tiervorkommen Stadtverwaltungen in Berlin, Hamburg und München seit 1949 aus welchen Beweggründen heraus getroffen haben. Im Folgenden diskutieren wir die gängige Erwartung an Tiere, nur in bestimmten Räumen und in gemäßigter Zahl vorzukommen. Historische und aktuelle Beispiele ermöglichen ein Verständnis der Prämissen und Funktionsweisen des bisherigen Verwaltungshandelns in Hinsicht auf freilebende Tiere und damit auch relevante Erkenntnisse für neue Ansätze im Rahmen der notwendigen sozial-ökologischen Transformation. Welche Herausforderungen und Ansätze erkennen wir für die Gestaltung der Tier-Mensch-Beziehungen in der Stadt?
Regime des Verwaltungshandelns
Die Beziehungen von Menschen zu freilebenden Tieren, ihre Interessen und Konflikte werden durch Gesetze und die Verwaltungspraxen verschiedener Behörden kontrolliert. Wir fokussieren auf drei Regime des städtischen Verwaltungshandelns, unter die freilebende Tiere fallen: Hygiene, Jagd und Naturschutz.
a) Tiere gelten als Schädlinge: Sie sind Parasiten und sogar Vektoren für Zoonosen (zum Beispiel Zecke). Andere sind Vorrats-, Pflanzen- oder Materialschädlinge oder Lästlinge, insofern sie nur das menschliche Wohlbefinden beeinträchtigen. Viele Tiere fallen unter mehrere Schädlingskategorien. Während die Ratte prinzipiell und unbestritten als Gesundheitsschädling gilt, hängt es bei anderen Arten davon ab, wo sie sich aufhalten oder wie groß ihre Populationen sind. Manche früher als Schädlinge geltende Artsteht heute unter Schutz, wie der Maulwurf. Schädlinge und Lästlinge werden vergrämt, meistens jedoch getötet.
b) Als Wild gelten Tierarten, die unter das Jagdgesetz fallen. Nutzwild (zum Beispiel Reh oder Wildschwein) wird als Nahrungsmittel bewirtschaftet, aber auch reguliert, um Wildschaden zu vermeiden und einen gesunden Bestand zu erhalten. Raubwild sind Beutegreifer wie Fuchs und Dachs. Bis 1976 wurden Tiere als „Raubzeug“ ohne Schonzeiten getötet, da das Ziel ihre Dezimierung oder Ausrottung war. Heute haben einige jagdbare Arten wie Greifvögel aus Naturschutzgründen ganzjährig Schonzeit.
c) Im Naturschutzrecht gelten für alle wildlebenden Tiere allgemeine Schutzvorschriften, jedoch gibt es zusätzlich zahlreiche Regelungen für bestimmte Tierarten. Maßnahmen des Naturschutzes sind Lebensraumaufwertungen oder Schutzmaßnahmen, beispielsweise Amphibienzäune. Bauvorhaben müssen daraufhin geprüft werden, ob ein Verstoß gegen ein artenschutzrechtliches Verbot zu befürchten ist. Ein Sonderfall ist die Tötung von Tieren: In Berlin wurden zum Schutz von Singvögeln seit den 1950er Jahren Elstern und Nebelkrähen bekämpft. Zum Schutz der heimischen Gewässerfauna fing ab 2018 ein Fischer einige Jahre lang invasive Krebsarten und verkaufte sie als Delikatesse. Im Naturschutz wie auch in der Jagd gibt es also regimespezifische Perspektiven auf Arten als Schädlinge.
Die Argumentationen zu Maßnahmen, die für oder gegen Tiere ergriffen werden, verweisen häufig darauf, dass Tiere sich am „falschen Ort“ aufhielten oder dass sie „zu viele“ seien. Größe und Art des von Tieren eingenommenen Stadtraums sind offenbar wichtige Faktoren für die Aufmerksamkeit, die wir ihnen entgegenbringen. Häufig bestimmt aber auch die Nicht-Wahrnehmung das Verhältnis der Menschen zu Tieren, so beim Thema Vogelschlag. Schon lange charakterisieren große, spiegelnde und transparente Glasflächen die großstädtische Architektur. Spiegelt sich Vegetation oder Himmel im Glas oder erlauben verglaste Gebäudeteile Durchsicht, wird Vögeln ein attraktiver Lebensraum oder ein freier Flugraum suggeriert. Weil sie Glasflächen nicht als Hindernis erkennen können, sterben jedes Jahrs schätzungsweise über hundert Millionen Vögel in Deutschland – für uns meist unsichtbar, da die toten und verletzten Vögel von anderen Tieren verspeist werden. Vogelschlag ist bisher für Menschen kein wesentliches Kriterium beim Bau der eigenen Behausung.
Am falschen Ort: Räume und Tiere
Die Geografen Chris Wilbert und Chris Philo unterscheiden zwischen Räumen, die Tieren von Menschen zugestanden werden (animal spaces), und denen, die sie tatsächlich einnehmen und nutzen (beastly places) (Philo & Wilbert 2000). Traditionell wird die Stadt als Ort und Ergebnis der Zivilisation und damit als – positiv oder negativ bewerteter – Gegenpol zur Natur charakterisiert. Das Vorkommen freilebender Tiere in der Stadt widerspricht dieser Imagination von Stadt als exklusivem Raum von und für Menschen und der von Wildnis- und Kulturlandschaften außerhalb der Städte als animal spaces. Dieser theoretische und räumliche Dualismus wurde mit dem Stadtwachstum während der Industrialisierung ausgeweitet, so dass nun auch innerhalb der Stadt zwischen bebauten Räumen und Naturräumen unterschieden wird. Aber Fuchs und Möwe nutzen nicht (nur) die urbanen, „grünen“ animal spaces, sondern auch die dicht bebauten Stadträume. Sie offenbaren, dass Räume, in denen wir uns als privilegierte oder einzige Nutzerinnen und Nutzer sehen, immer auch beastly places sind.
Inwiefern ist unser kulturell geprägter, funktionsorientierter Raumbegriff für die Betrachtung von Tieren und ihren „Raumaneignungen“ überhaupt hilfreich? Dem Raumbegriff lässt sich die ökologische Perspektive auf die Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt gegenüberstellen. Umwelt ist dabei nicht die räumliche Umgebung eines Tieres, sondern bezieht sich artspezifisch auf Konditionalfaktoren, Signale und Ressourcen, die das Überleben, das Verhalten und die Interaktionen der Individuen beeinflussen. Mit dem ökologischen Begriff des Habitats ist zwar meist ein geografischer Ort oder ein Raumtyp gemeint. Jedoch ist er ökologisch als der Ort konzipiert, an dem die Ausprägungen der Umweltfaktoren ein Überleben von Individuen einer bestimmten Art ermöglichen (Trepl 2005, 136 ff.). Wenn sich Amseln durch Nestbau den Balkon aneignen, nutzen sie ökologisch betrachtet die Ressource Nistplatz. Tierliche Raumnutzungen erlauben oft multifunktionale und Multispezies-Nutzungen, insofern Arten unterschiedliche Ressourcen nutzen. Der Balkon kann zugleich Nisthabitat für Amseln und Nahrungshabitat für Insekten sein.
Gängige Praxis ist, in bestimmten Stadträumen die tierliche Präsenz zu dulden oder zu würdigen, sie in anderen hingegen zu beseitigen: Für die Eliminierung von problematischem Wild wurde die Stadtjagd im „befriedeten“ Gebiet etabliert. Streng geschützte Reptilien werden umgesiedelt, um dringend benötigte Wohnungen nach dem Grundsatz „Innen- vor Außenentwicklung“ (§1, Abs. 5 BauGB) bauen zu können. Stadt wird so nach wie vor als rein menschlicher Raum aufgefasst, nicht als gemeinsamer Lebens- und Interaktionsraum von Tier und Mensch.
Was sind zu viele?
In Dokumenten von Stadtverwaltungen findet sich häufiger die Behauptung, dass die Stadt ein „gestörtes“ Ökosystem sei, in dem natürliche Regulationsprozesse zum Beispiel durch Prädatoren fehlten. Daher käme es zu Massenvermehrungen und Überpopulationen. Hier findet sich zum einen die Polarisierung von Stadt und Natur wieder. Zum anderen impliziert der Begriff der Überpopulation, dass es zu viele Individuen gebe, und legt nahe, dass hier Individuen entnommen, also getötet werden müssten. Ignoriert wird dabei, dass die Anzahl der Tiere letztlich genau dem entspricht, was der Lebensraum und sein Angebot an Nahrung ermöglicht. Die ressourcenbasierte Ermöglichung bestimmter Populationsgrößen sowie die erfolgreiche Etablierung im und Anpassung an den städtischen Lebensraum, die sich auch im Reproduktionserfolg zeigt, werden in einer Art politischen Lesart als negativ bewertet. Ein weiterer Grund für Überpopulation sei das falsche Verhalten von Städterinnen und Städter, wenn diese Tiere füttern oder nachlässig mit Nahrungsabfällen umgehen. Auffällig ist, wie abfällig auch in Verwaltungsdokumenten über Menschen geredet wird, die Stadttauben füttern oder sich für ihren Schutz einsetzen, während das Füttern von Singvögeln als Ausdruck besonderer Naturliebe wertgeschätzt wird. Recherchen in den Archiven haben ergeben, dass die Stadtverwaltungen seit den 1950er Jahren immer wieder Taubenmassentötungen beauftragt haben, da ihre vermeintliche Überpopulation die öffentliche Ordnung störe. Ziel war „eine Reduzierung auf erträgliches Maß“.2 Bemerkenswert ist, dass die betreffenden Dokumente weder Angaben dazu enthalten, wie viele Tauben es in den Städten gab, noch wie vie-le „zu viel“ oder eine geeignete Anzahl wären. Getötet wurden sie mit Futter, das mit Cyklon CN vergiftet war, einer Methode, die gewählt wurde wegen der „leichten und unauffälligen Anwendbarkeit“ und da sie geeignet war „innerhalb kürzester Zeit Massenvertilgungen vornehmen zu können“.3
Schädlinge und Lästlinge werden oft auf eine Art wahrgenommen, beschrieben und getötet, bei der das tierliche Individuum in der Masse aufgeht. Demgegenüber gibt es im Naturschutz individuenzentrierte Erfassungen von seltenen, heimischen Arten und Schutzmaßnahmen für einzelne Individuen. Die Akten über Jagd in West-Berlin bis 1989 zeigen, dass die Reviere detaillierte und „individualisierte“ Bestands- und Streckenlisten mit Art, Alter und Geschlecht des Nutzwilds führten. Dafür wurde Raubwild und -zeug getötet, ohne dass der Bestand oder die Zahl der getöteten Individuen erfasst oder Populationszielgrößen definiert wurden. Bei der Bewertung von Tiervorkommen wird also eine als schädlich erachtete Vielzahl oder Masse an Gleichen einer Vielfalt an wertgeschätzten Individuen gegenübergestellt.
Der Platz freilebender Tiere in der Transformation
Freilebende Tiere verstoßen oft gegen menschliche Interessen und überschreiten räumliche oder soziokulturelle Ordnungssysteme. Daher werden sie in nicht wenigen Fällen getötet. Einige Projekte in Berlin zeigen jedoch, dass aktuell die Aufklärung und Beratung der Stadtbewohnerinnen zur Problemvermeidung oder -minimierung als eine Alternative verstanden wird. Derk Ehlert, Pressesprecher der Senatsumweltverwaltung, wirbt seit vielen Jahren für das „Bleiberecht“ der Tiere in der Stadt unter anderem über den YouTube Kanal „Wildes Berlin“. In einem Pilotprojekt berät seit 2021 eine Expertin, um Konflikte mit Waschbären durch Änderungen des eigenen Verhaltens und auch Anpassungen von Gebäuden zu vermeiden (SenUVK 2021). Auf ihrer Homepage zum Thema Wildtiere regt die Senatsumweltverwaltung an, dass sich Ratsuchende mit „Marder im Haus“ zunächst überlegen sollten, ob sie mit einem Marder im selben Haus leben möchten. Entscheiden sie sich dafür, wird ihnen erklärt, dass sie Probleme vermeiden können, indem sie die Verhaltensweisen des Marders beachten, entscheiden sie sich dagegen, erhalten sie eine Anleitung, wie sie ihn tiergerecht loswerden (Sen- UMVK o. D).
An die Beispiele ließe sich anknüpfen, jedoch wäre es für die Transformation der Tier-Mensch-Beziehung auch notwendig, Ordnungsvorstellungen von angemessener Populationsgröße und geeignetem Tierlebensraum noch umfassender kritisch zu reflektieren. Das Ideal einer Koexistenz müsste eine gesteigerte Achtsamkeit für die Lebensraumansprüche von Tieren im Rahmen von Stadtpolitik, Verwaltungshandeln und Planung sowie geeignete Verfahren bei Interessenskonflikten nach sich ziehen. Zwar berücksichtigen verschiedene freiraumplanerische Ansätze Wildtiere und ihre überlebensnotwendige Habitat-Anforderungen (Apfelbeck et al. 2020, Garrard et al. 2018), aber darüber hinaus müsste das ganze Spektrum der Planungsberufe Tierbedürfnisse integrieren, also auch Architektur (Grobman et al. 2023) Verkehrsplanung und Landschaftsarchitektur. Sind wir bereit, in der Stadt auf Wohn- und Verkehrsflächen zu verzichten, um für die Koexistenz von Menschen und unterschiedlichen Tierarten Raum vorzuhalten? Haben Tiere ein „Recht auf Stadt“ und Städter ein Recht auf Tiere in der Stadt? Aber es stellt sich auch die Frage, welche Naturformen und welche Arten wir in einer sozial und ökologisch gerechten, diversen Stadt erhalten und fördern wollen. Oder ob wir diese Privilegierung in Zukunft überhaupt noch vornehmen wollen? Wie gehen wir mit schutzbedürftigen Tieren um und mit denjenigen Tieren, die die ersteren – durch Konkurrenz oder Prädation – schädigen? Greifen wir in dieses Tier-Tier-Verhältnis ein? Wie verhalten wir uns gegenüber Gesundheitsschädlingen – gibt es Alternativen zum Töten? Das sind zahlreiche, über das Forschungsprojekt hinausgehende Fragen, die sich auf Grundlage der bisherigen Ergebnisse stellen.
1 Dieser Artikel ist im Rahmen des Forschungsprojekts Planung von Tier-Mensch-Relationen im ‚Habitat Großstadt‘ am Fachgebiet Freiraumplanung der Universität Kassel entstanden. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 448618861
2 Vermerk Dr. Unger, 1959, Gesundheitsamt Wedding, S. 5
3 Vermerk Dr. Unger, 1959, Gesundheitsamt Wedding, S.7
2 Vermerk Dr. Unger, 1959, Gesundheitsamt Wedding, S. 5
3 Vermerk Dr. Unger, 1959, Gesundheitsamt Wedding, S.7
Literatur
Apfelbeck, B. et al. (2020). Designing wildlife-inclusive cities that support human-animal co-existence. Landsc. Urban Plan. 200, 1–12
Garrard, G. E. et al. (2018). Biodiversity Sensitive Urban Design. Conserv. Letters 11. Article e12411.doi.org/10.1111/conl.12411
Grobman, Y. J. et al. (2023): Architectural Multispecies Building Design: Concepts, Challenges, and Design Process. Sustainability. 15, 15480. doi.org/10.3390/su152115480
LAG VSW (2017) = Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten. Berichte zum Vogelschutz, Bd. 53/54
Chris Philo, Chris Wilbert (2000): Animal Spaces, Beastly Places. An Introduction. In: Dies.(Hrsg.): Animal Spaces, Beastly Places. New Geographies of Human-Animal Relations. Abingdon-on-Thames, S. 1–34
Schilthuizen, M. (2018): Darwin in der Stadt. Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel. Dtv
SenMVKU (o. D.) = Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt (ohne Datum). Der Steinmarder. Zuletzt aufgerufen 3.11.2023, von https://www.berlin.de/sen/uvk/natur-und-gruen/jagd-und-wildtiere/wildtiere-im-stadtgebiet/steinmarder/
SenUVK (2021) = Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Berlin (2021). Ein Waschbär – und nun? Infoflyer. Zuletzt aufgerufen 8.10.2023, von https://www.berlin.de/sen/uvk/natur-und-gruen/jagd-und-wildtiere/wildtiere-im-stadtgebiet/waschbaer/#Beratung
Trepl, L. (2005): Allgemeine Ökologie. Bd.1: Organismus und Umwelt. Peter Lang Voigt, A. et al. (2022): Wildtiere am falschen Ort? Vom Umgang mit Schädlingen, Nachbar*innen und Anpassungskünstler*innen in Stadträumen. In: Kohabitation, Koexistenz, Konvivialität. Tierstudien 22, hg. von J. Ulrich. Neofelis, 77–86
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